Vietnamesische Schülerinnen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 16 Mar 2022 16:20:18 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Vietnamesische Schülerinnen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Trotz Krisen und Kriegen fand Vietnam wieder zum wirtschaftlichen Erfolg https://condorcet.ch/2022/03/trotz-krisen-und-kriegen-fand-vietnam-wieder-zum-wirtschaftlichen-erfolg/ https://condorcet.ch/2022/03/trotz-krisen-und-kriegen-fand-vietnam-wieder-zum-wirtschaftlichen-erfolg/#respond Wed, 16 Mar 2022 11:39:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=10691

Als Ergänzung zum Artikel von Alain Pichard (Die falschen Flüchtlinge) veröffentlichen wir hier mit freundlicher Genehmigung des Autors Tobias Straumann einen Artikel über Vietnam, der das dortige Wirtschaftswunder unter anderem mit dem Bildungssystem begründet.

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Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker, Universität Zürich: Die Geschichte Vietnams zwingt uns dazu, populäre Grosserklärungen infrage zu stellen.

Nach allen landläufigen Massstäben müsste dieses Land ein Armenhaus sein, denn es hat alle Plagen des 20. Jahrhunderts durchlebt: Kolonialismus, Besetzung im Zweiten Weltkrieg, zwei Unabhängigkeitskriege, wovon der zweite besonders blutig war, ein realsozialistisches Terrorregime und einen Krieg mit den Nachbarstaaten.

Trotzdem blüht die Wirtschaft. In den letzten 40 Jahren hat sich das reale BIP Vietnams rund verzehnfacht. Das durchschnittliche Einkommen pro Kopf beträgt heute kaufkraftbereinigt fast 9000 $, gemäss Prognosen dürfte die Erfolgsgeschichte weiter anhalten. Vietnam sprengt alle Massstäbe.

Wie war das möglich? Eine einflussreiche Erklärung betont die Rolle der Liberalisierungspolitik seit den 1980er Jahren. Ähnlich wie in der Volksrepublik China habe das kommunistische Regime die Wirtschaft schrittweise geöffnet, um von ausländischen Investitionen und Technologien zu profitieren. Diese Öffnungspolitik sei ergänzt worden durch eine Deregulierungspolitik und umfangreiche Investitionen in die Bildung und die Infrastruktur.

Die Realität ist komplizierter

Diese Erklärung hat viel für sich. Der Erfolg der vietnamesischen Wirtschaft beruht zu einem wesentlichen Teil darauf, dass das Land zu einem grossen Standort für westliche Textilproduzenten und japanische und südkoreanische Elektronikunternehmen geworden ist. Dennoch scheint mir die Erklärung zu wenig weit zu gehen. Es gibt viele Länder in Afrika und Lateinamerika, die sich ebenfalls einer Liberalisierungsstrategie verschrieben haben, aber damit kaum ausländische Hightech-Unternehmen anziehen konnten. Auch haben viele arme Länder in Infrastruktur und Bildung investiert, ohne damit nennenswerte Erfolge erzielt zu haben. Die Realität ist komplizierter.

Die kommunistische Regierung schaffte die landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe ab, verpachtete das Land den Kleinbauern und hob alle Preiskontrollen für Agrarprodukte auf.

 

Die Erfolgsgeschichte begann mit einer Landreform.

Was bei dieser Sichtweise vor allem zu kurz kommt, ist die Eigenleistung der ländlichen Bevölkerung. Wie in der Volksrepublik China begann nämlich die vietnamesische Reformpolitik Mitte der 1980er Jahren nicht mit einer schnellen Öffnung gegen aussen, sondern mit einer Landreform im Innern. Die kommunistische Regierung schaffte die landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe ab, verpachtete das Land den Kleinbauern und hob alle Preiskontrollen für Agrarprodukte auf. Gleichzeitig finanzierte der Staat den Ausbau der Bewässerungssysteme für die Reisproduktion.

Beeindruckende wirtschaftliche Dynamik

Innerhalb weniger Jahre setzte auf dem Land ein Boom ein. Die Erträge der Bauernbetriebe schnellten in die Höhe, Vietnam wurde bald zu einem bedeutenden Reisexporteur. Der Aufschwung des Landwirtschaftssektors wiederum führte zu einer starken Nachfrage nach gewerblichen Gütern, worauf die kommunistische Regierung die Gründung privater Industrieunternehmen zuliess. Noch bevor die grosse Öffnungspolitik einsetzte, hatte also auf dem Land eine beeindruckende wirtschaftliche Dynamik eingesetzt.

Woher diese unermüdliche Geschäftigkeit der ländlichen Bevölkerung rührt, ist von aussen kaum zu verstehen. Es hätte genügend Gründe gegeben, angesichts der verzweifelten Situation in Resignation zu verfallen. Der zehnjährige Vietnamkrieg, der 1975 zu Ende ging, hatte verheerende wirtschaftliche und soziale Folgen. Es kam zu lokalen Hungersnöten, die Inflation erreichte Mitte der 1980er Jahre 700%. Nur dank humanitärer Hilfe aus der Sowjetunion konnte ein wirtschaftlicher Kollaps verhindert werden. Aber offenbar vermochte das Elend die Lebensgeister nicht auszulöschen.

Vietnam erreicht mit viel weniger finanziellen Mitteln viel bessere Resultate.

Vorbildliche Bildungspolitik

Das vietnamesische Bildungssystem erreicht beeinruckende Erfolgszahlen.

Der enorme Leistungswille der vietnamesischen Bevölkerung zeigt sich auch beim Erfolg der Bildungspolitik. Natürlich war es entscheidend, dass der Staat viel Geld in die Hand nahm und das Schulsystem massiv ausbaute. Aber damit lässt sich nicht vollständig erklären, warum die vietnamesischen Schülerinnen und Schüler in den Pisa-Tests so gut abschneiden. Die Schweiz hat das teuerste Bildungssystem der Welt, und dennoch können rund 20% der Jugendlichen nach der obligatorischen Schulzeit weder richtig lesen noch schreiben. Vietnam erreicht mit viel weniger finanziellen Mitteln viel bessere Resultate.

Die vietnamesische Erfolgsgeschichte ist deshalb weit mehr als ein kurioser Einzelfall. Sie zwingt uns vielmehr dazu, populäre Grosserklärungen infrage zu stellen. Kolonialismus, Krieg und Realsozialismus haben grossen Schaden angerichtet, aber in Vietnam den Aufschwung nicht verunmöglicht. Liberalisierung und öffentliche Investitionen sind unabdingbar, aber nur wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen wiederum lassen sich nicht so einfach durch politische Massnahmen herbeizaubern. Entweder wollen die Menschen am selben Strick ziehen – oder eben nicht.

Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich. Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen.

 

 

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Die «falschen» Flüchtlinge https://condorcet.ch/2022/03/die-falschen-fluechtlinge/ https://condorcet.ch/2022/03/die-falschen-fluechtlinge/#comments Wed, 16 Mar 2022 09:53:09 +0000 https://condorcet.ch/?p=10677

Eine SMS aus einer Integrationsklasse inspirierte unseren Condorcet-Autor Alain Pichard zu diesem Beitrag. Er berichtet über die erfolgreichste Migrantengruppe in der Schweiz.

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Alain Pichard

Vor kurzem schickte mir ein Kollege aus einer Integrationsklasse in der Stadt Bern die Prüfungsergebnisse einer vietnamesischen Schülerin. Sie ist erst ein Jahr in der Schweiz, erreicht aber bereits das Sprachniveau B1++ und wird in Kürze zu einem Bwerbungsgespräch für eine Informatiklehre eingeladen. Damit überragt sie alle Lernenden dieses Kurses im nachobligatorischen Schulbereich bei weitem.

Mich hat diese Nachricht nicht überrascht. Aber sie liess mich kurz auf die Ereignisse im Jahr 1979 zurückblicken. Vier Jahre nach der Machtübernahme der nordvietnamesischen Kommunisten (1975) flohen Hunderttausende Südvietnamesen in Booten über das Meer.

Die neuen Machthaber hatten in Südvietnam Zwangsarbeit, Folter und Umerziehungslager eingeführt. Das führte zu einer gewaltigen Flüchtlingswelle aus diesem Land. Schätzungen gehen von bis zu einer Millionen Boatpeople (dt. Bootsmenschen) aus, von denen etwa ein Viertel ertrank.

Anders als bei den aktuellen Bootsflüchtlingen im Mittelmeer gab es damals nur bescheidene Ansätze von Mitleid oder Hilfe. Immerhin erzielte die Glückskette ihr erstes Rekordergebnis. Uns Linke hingegen, die in Europa gegen die USA demonstriert hatten, brachten die Boatpeople in Verlegenheit. Natürlich entsprach diese Flüchtlingswelle überhaupt nicht unseren Erwartungen nach dem grossen Sieg der Kommunisten nach einem jahrelangen mörderischen Krieg. Und wir waren heimlich froh um den ARD-Korrespondenten, der 470 Boatpeople in Singapur interviewte um schliesslich festzustellen, dass bei fast allen ausschliesslich wirtschaftliche und keine politischen Motive zur Flucht geführt hatten. Heute bemühen sich die Medien, diese Differenzierung tunlichst auszuklammern. Damals forderte der Theologe Helmut Gollwitzer, «lieber etwas in Vietnam zu tun», als die Boatpeople zu retten. Jane Fonda, die Antikriegs-Ikone kritisierte den Entscheid von Jimmy Carter, eine Flotte zu schicken, um die Boatpeople zu retten. Die linke Zeitschrift «Konkret» sprach gar von «Zuhältern und Schwarzhändlern».

Peter Weiss: Wenn es 50 Millionen Menschen nützt, darf man Zehntausende drangsalieren!

Jane Fonda, amerik. Schauspielerin: forderte Jimmy Carter auf, die Flüchtlinge nicht zu retten.

Als dann aber der Schriftsteller Peter Weiss, wie einst schon Mao, argumentierte: «Wenn es 50 Millionen Menschen nützt, darf man Zehntausende drangsalieren», war für mich und andere Linke das Ende der Fahnenstange erreicht. Diese skandalöse Äusserung eines hochverehrten Dramatikers fiel gleichzeitig mit der Niederschlagung der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc und führte bei mir zum Austritt aus der kommunistischen PdA.

1980 kamen dann die ersten Vietnamflüchtlinge nach Biel, in die Stadt, in der ich unterrichtete. Sie wurden zu einer der erfolgreichsten Einwanderergruppe in unserer Stadt. Viele von ihnen sind heute Unternehmer wie Phoc oder Besitzer toller Eigentumswohnungen wie die Finanzberaterin Hao oder haben erfolgreiche berufliche Karrieren absolviert wie Thien (was auf Deutsch «sanft» bedeutet). Ich hatte die Ehre sie zu unterrichten. Alle hatten sie bzw. ihre Familien eines gemeinsam: Sie haben sich weniger auf staatliche Hilfen verlassen als auf ihre eigene Initiative und ihren Willen, in der neuen Heimat Erfolg zu haben. Eine Würdigung ist in einer beeindruckenden Reportage von Martin Beglinger in der NZZ nachzulesen (https://www.nzz.ch/gesellschaft/vietnamesen-integrationswunder-ld.1311265).

Vietnamesische Schülerinnen in der Schweiz: eine Erfolgsgeschichte sondergleichen.

Die Familie von Catherine zum Beispiel betreibt an den diversen Stadtfesten immer noch ihren Stand mit vietnamesischen Spezialitäten, unterstützt von ihrer Tochter, die als Realschülerin bei mir begann, in das Sekundarniveau wechselte, eine Lehre als Hochbauzeichnerin absolvierte und anschliessend ein Architekturstudium begann. Ich erhalte dann jeweils meine obligate Frühlingsrolle geschenkt. Es ist eine Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer, die mich beschämt. Denn ich hatte damals nicht den Mut und die Unbestechlichkeit einer Joan Baez, welche sich angesichts des Elends uneingeschränkt für die Rettung dieser Boatpeople einsetzte und sich heftigster Kritik von Jane Fonda ausgesetzt sah.

Als mein Kollege an der Integrationsklasse seine vietnamesische Schülerin fragte, was sie am meisten in der Schweiz vermisse, meinte sie: «Das Schulsystem in Vietnam!»

Lesen Sie den nachfolgenden Bericht von Tobias Straumann über den Bildungserfolg von Vietnam

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