Verantwortung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 09 Nov 2019 19:00:36 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Verantwortung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wer kümmert sich um die Folgen? Wer trägt die Verantwortung? https://condorcet.ch/2019/11/wer-kuemmert-sich-um-die-folgen-wer-traegt-die-verantwortung/ https://condorcet.ch/2019/11/wer-kuemmert-sich-um-die-folgen-wer-traegt-die-verantwortung/#respond Sun, 03 Nov 2019 15:13:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=2647

Reformen sollen Bestehendes verbessern. Die Bildungspolitik überzog darum die Schulen mit vielen Reformen. Nicht wenige verfehlen die versprochenen Ziele. Wer übernimmt dafür die Verantwortung, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard in seinem Beitrag.

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„Der Verantwortung bin ich zum ersten Mal als Primarschüler auf Bergwanderungen begegnet. Mein Cousin, der schon ins Gymnasium ging, befahl jeweils: ‘Du trägst den Rucksack und ich die Verantwortung; so sind wir quitt.’ Damals wusste ich also, was Verantwortung ist: ein schwerer Rucksack.“ Das Bonmot stammt von alt Bundesrat Moritz Leuenberger: Verantwortung als spürbare Last und Belastung, Verantwortung als schwerer Rucksack. So Leuenbergers Metapher für dieses anspruchsvolle Wort.

Verantwortung
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Verantwortung als professionsethische Grösse

Verantwortlich zu sein gehört zur menschlichen Existenz. Verantwortung ist – je nach Kontext ihrer Thematisierung – eine Tatsache oder eine Norm. Eine Tatsache ist sie insofern, als Menschen autonome Personen sind und damit für die Folgen ihre Entscheide verantwortlich zeichnen. Verantwortung kann auch herbeigeführt werden – Verantwortung als Norm, die übertragen und dann getragen wird – mit einer Aufgabe beispielsweise oder einem Amt.

Verantwortung orientiert sich an den Konsequenzen des Handelns. Darum rechnet der Soziologe Max Weber die Verantwortungsethik zum Beruf der Politik. Er stellt sie in kontradiktorischen Gegensatz zur Gesinnungsethik, die zum Unbedingten tendiert. Die Weber’sche Verantwortungsethik bedenkt die voraussehbaren Folgen des jeweiligen Handelns; sie betont das Vorausdenken und das Nachbedenken.

Die „et respice finem-Haltung“

Die Ergebnisse des Handelns bedenken und notfalls für sie einstehen, fordert Max Weber. Vielleicht ist es genau das, was wir im Latein-Unterricht gelernt haben: „Was auch immer du tust, handle klug und berücksichtige das Ende.“ „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.“ Achtsam handeln, sich am Ziel orientieren und die Folgen abschätzen: Das will uns dieser lateinische Hexameter sagen. Ein Grundsatz ohne Verfalldatum!

Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen.

Die Bildung kennt darum das „Gesetz der nicht beabsichtigten Nebenwirkungen“. Formuliert hat es der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger. Kaum jemand beachtet es – so wenig wie die Beipackzettel von Medikamenten und ihre möglichen Kollateralfolgen. Bildung darf daher nicht herummodellieren und herumexperimentieren, ohne dass man die Folgen kennt. Und sie ist nicht mit ihrer permanenten Reform gleichzusetzen. Junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie. Das unterscheidet sie von industriellen Produktionsgütern. Mit Werkstücken kann man experimentieren; mit jungen Menschen geht das nicht.

„Il näsch“ ist so gut wie „il neige 

Genau das aber geschah in den letzten Jahren: Ein Wirbelwind an Reformen überzog die Schulen, vielfach ohne verantwortliches Wissen um die Folgen. Die konkreten Konsequenzen (er-)tragen die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag. Zu den vielen Reformen gehört auch der doppelte Fremdsprachenunterricht in der Primarschule.

Passepartout, eine der vielen fehlgeleiteten Reformen des letzten Jahrzehnts

Dazu ein illustratives Beispiel: Die sechs Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis unterrichten ab der dritten Klasse Französisch. Seit 2011 setzen sie das gemeinsame Lehrmittel „Mille feuilles“ ein. Es ist Teil des 50 Millionen teuren Fremdsprachenkonzepts „Passepartout“. Das didaktische Prinzip: Die Schülerinnen und Schüler sollen die neue Sprache möglichst oft hören und so in „ein Sprachbad“ eintauchen. Das Lernen von Vokabeln und Grammatik läuft en passant. Das Konjugieren von Verben kommt kaum vor. Korrigieren sollen die Lehrer nur zurückhaltend.

Alarmierende Ergebnisse – und die Bildungspolitik schaut weg

Bald schon tauchten Kritiken und Klagen auf. „Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen französischen Satz sagen,“ sagte ein Lehrer aus dem Baselbiet.[1] Als Folge verzichtete der Kanton Bern 2017 bei den Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium aufs gezielte Prüfen grammatikalischer Kenntnisse:[2] Wahrnehmen der Verantwortung durch Reduktion der Ansprüche und der notwendigen Lernbedingung für alle, die einen analytischen Sprachzugang haben.

Fremdsprachen-Didaktikerin Barbara Grossenbacher: «Es wird schon gut!»

Die Fremdsprachen-Didaktikerin Barbara Grossenbacher, Co-Autorin des Lehrmittels „Mille feuilles“, beschwichtigte. In schönster Selbstgewissheit meinte sie, man solle zuerst „auf wissenschaftliche Ergebnisse warten, welche die Wirksamkeit dieser Didaktik nachweisen“. Das geschah auch: Die Universität Freiburg evaluierte die Fremdsprachenkenntnisse der Schülerinnen und Schüler am Ende der Primarschule. Die Ergebnisse waren deprimierend: Nur gerade knapp elf Prozent (!) erfüllten beim interaktiven Sprechen das Lernziel. Beim Leseverstehen waren es lediglich 33 Prozent, während beim Hörverstehen immerhin 57 ein positives Resultat erreichten.[3] Aus der Berner Erziehungsdirektion hiess es lakonisch, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg.[4]

 

Entsteht eine Art „Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept“?

Da stellt sich schon die Frage: Wer zeichnet denn verantwortlich, wenn durch eine politisch gewollte und von vielen Bildungsauguren vorangetriebene Reform eine Art „Zwei-Klassen-Ausbildungskonzept“ entsteht, wie die NZZ schreibt.[5] „Nur wer es ans Gymnasium schaffe, erhalte die nötigen Sprachkompetenzen“, kritisiert ein passionierter Lehrer und fügt bei: „Beim Rest begnüge man sich im Französisch inzwischen mit ein paar wenigen Brocken.“

Das mag vielleicht mit dem groben Pinsel von van Gogh gezeichnet sein und nicht mit Albrecht Dürers feinem Stift. Doch die alarmierenden Resultate können nicht ungesehen beiseitegeschoben werden. Sie weisen auf ein tiefes Malaise hin.

Vom Prinzip der Verantwortung

Verantwortung hat mit „Worten“ und „Antworten“ zu tun. Verantwortung übernehmen heisst immer auch Ant-Wort geben als Reaktion auf eine Situation. Das ist anspruchsvoll. Darum wohl wiegt die Verantwortung schwer wie ein Rucksack. Wegschauen ist keine Antwort. Wer wegschaut, stiehlt sich aus der Verantwortung, lässt sie liegen oder gar fortfliegen wie einen leichten Luftballon. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Leidtragenden in der Pädagogik sind die Kinder und Jugendlichen. Mit ihnen zu experimentieren zeugt von wenig Verantwortungsbewusstsein. Denn junge Menschen haben nur eine Bildungsbiografie.

 

[1] Felix Schindler, Der Sprachenstreit beginnt schon beim Lehrmittel, in: Tages Anzeiger, 11.10.2016.

[2] Daniel Gerny, Barlez wu Fransai?, in: NZZ, 12.04.2017, S. 18.

[3] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.

[4] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Tages-Anzeiger, 28.09.2019.

[5] Daniel Gerny und Erich Aschwanden, Ein Französischbuch fällt durch, in: NZZ, 18.10.2019, S. 13.

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Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/#respond Sun, 18 Aug 2019 13:44:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=1964 Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet einen Horizont. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen tragen eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard

In der Schweiz starten wie jedes Jahr im Spätsommer rund 120‘000 Lehrpersonen in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start in ein neues Schuljahr. Jedem Anfang wohnt ja – wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ schreibt – ein Zauber inne. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Lernen als Hinausfahren ins Offene

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich vielleicht auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Das ist nicht immer bequem und mit unbekannten Variablen und Risiken verbunden. Das ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – immer im gleichen Geleise. Nein, Unterrichten heisst etwas wagen und sich auch auf Nebenwege getrauen – aber mit einem Kompass für die richtige Richtung und mit den Koordinaten des gemeinsamen Ziels.

Das Unwägbare und Unberechenbare des Unterrichts

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und das Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie in der Seefahrt lässt sich nicht alles planen, aber man muss auf die Fahrt, auf die gemeinsame Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein – und die Richtung kennen. Ob man aber immer und mit allen ankommt, das ist letztlich nie ganz sicher. Und doch darf Ankommen kein Zufall bleiben.

In diesem Sinne sind Schulleitung und Lehrpersonen ja nicht verantwortlich für Wind und Wellen, für Sturm und Strömung, für Nacht und Nebel, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord.

Alexander von Humboldt statue outside Humboldt University Berlin, Germany

Verantwortung braucht Freiheit

Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt auch für die Schule. Freiheit sei für die Bildung „die erste und unerlässliche Bedingung“,[1] schrieb der Reformer des preussischen Bildungswesens und Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt.

 

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen ihre Kinder zur Autonomie führen, zum Vermögen, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen“,[2] wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat. Eben: die eigene Freiheit ergreifen.

Viele Kinder werden in der Schule frei

Wo aber werden viele Kinder frei? Nicht zu Hause, nicht in engen sozialen Verhältnissen, sondern in der Weite der Schule – dank einer guten Bildung, dank autonomer Lehrpersonen. Beredtes Beispiel ist Albert Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation und Literaturnobelpreisträger von 1957. Ohne die Schule und ohne seinen Lehrer Louis Germain wäre Camus‘ Freiheit als Aufbruch aus dem harten, armseligen Milieu seiner Familie nicht möglich gewesen.[3]

Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit.

Und darin liegt das Paradoxon: Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit. Das bringt Schulen in Enge und Atemnot. „Schule in Ketten“ resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre.[4] Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit.

Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare

Freiheit ist die Freiheit des Handelns. Darin liegt das pädagogische Elixier. Nur schon deshalb muss die Schule – auch und gerade in den Zeiten sozialtechnologischer und ideologischer Steuerungs- und Indoktrinationsphantasien – ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs zielorientierte und kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar voraussagbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorschriften; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich anspringt, können wir nicht ins Numerische outsourcen oder über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt

Regen voraussagen kann jeder, sagt eine indianische Weisheit; aufbrechen und hinausfahren, das zähle. Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die Wellen wogen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Jahresfahrt die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart: Reclam, S. 22.

[2] Immanuel Kant (1999): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Philosophische Bibliothek, Bd. Nr. 512. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 20.

[3] Albert Camus (1994): Le premier homme. Editions Gallimard, S. 180f.

[4] Walter Meier (2015): Schule in Ketten. Sachroman. Muri b.Bern.

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