Therapie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 27 Dec 2022 15:20:44 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Therapie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Kranke Jugend: Warum geht es ihnen so schlecht? https://condorcet.ch/2022/12/kranke-jugend-warum-geht-es-ihnen-so-schlecht/ https://condorcet.ch/2022/12/kranke-jugend-warum-geht-es-ihnen-so-schlecht/#comments Tue, 20 Dec 2022 11:10:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=12700

Die schlechten Meldungen um die Jugend reissen nicht ab. Selbst jetzt, ein halbes Jahr nach Beendigung der Pandemie, sind die Wartelisten in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken lang. In einem Interview spricht Allan Guggenbühl über Ursachen und Auswege. Man soll pessimistisch denken und optimistisch handeln, meint der Psychologe, der auch dem Condorcet-Blog stark verbunden ist.

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Allan Guggenbühl, Psychologe: Jugendlichen mehr Widerstand leisten.

Grund zur Sorge haben die Jugendlichen nach wie vor genug: In Europa ist ein bedrohlicher Krieg ausgebrochen und auch die Klimakrise ist für niemanden bedrohlicher als für die junge Generation. Gleichzeitig sehen die Jugendlichen auf Social Media lauter schöne und erfolgreiche Menschen.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Bilke-Hentsch spricht angesichts zu grosser Herausforderungen von «erlernter Hilflosigkeit» die entsteht, wenn man immer wieder in Situationen kommt, in denen man nichts ausrichten kann. 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen würden psychische Auffälligkeiten zeigen, sagt er gegenüber dem Magazin «Fritz und Fränzi». Zehn Prozent sollten eigentlich behandelt werden, doch nur 1 Prozent bekommt diese Hilfe tatsächlich.

Kollege und langjähriger Psychologe Allan Guggenbühl bestätigt diese Einschätzung. Er betont aber, nicht immer müsse gleich ein Platz in der Psychiatrie gefunden werden und Möglichkeiten für ein erstes Gespräch könnten Eltern immer finden. In solchen Gesprächen ist er auch zu den Jugendlichen direkt. Guggenbühl findet die verbreitete «Schaumsprache» schädlich, bei der nur gesagt wird, was das Gegenüber hören will.

 

Die Jugendlichen könnten wieder ungehemmt feiern, offiziell ist die Pandemie vorbei. Aber nach wie vor sind viele psychisch nicht gesund – überrascht Sie das?

Allan Guggenbühl: Nein, es überrascht mich nicht. Man muss die Jugendzeit zwei- oder dreifach rechnen: Ein Jugendjahr entspricht mindestens zwei Erwachsenenjahren, weil so viel passiert in dem Alter und es so viele Aufgabe zur eigenen Persönlichkeit und der Frage, «Wer bin ich?», zu bewältigen gibt. Das geschieht, indem sich die Jugendlichen von den Eltern lösen. Sie müssen in einem halb-chaotischen Raum Erfahrungen machen. Durch Corona war das nicht mehr möglich. Nun geht es zwar wieder, aber die Kultur für diese Persönlichkeitsentwicklung muss erst wieder ins Laufen kommen.

Ein halbes Jahr Normalität reicht nicht für die Jugendlichen?

Nein, das reicht nicht! Sich in Banden und Cliquen zur organisieren, wo solche Erlebnisse möglich sind, braucht Zeit. Corona hat Nachwirkungen. Ich merke in den Therapiegesprächen, dass die Jugendlichen wieder am Suchen sind. Das wirft sie auf sich selber zurück, es geht ihnen dann teilweise erst jetzt schlechter, weil sie merken, sie haben nicht die Freundschaften, die sie gerne hätten. Ein anderer Faktor spielt in die Psyche der Jugendlichen, Corona-unabhängig: Wir lassen die Jugend etwas alleine.

Wie meinen Sie das?

«Wir lassen die Jugend etwas alleine.»

Es braucht Initiationen in diesem Alter, also Akte, welche die Jugendlichen in Schritten ins Erwachsenenleben führen. Dazu gehört in fast allen Kulturen das Aushandeln von Regeln und wichtigen Lebensinhalten mit den Alten, welchen Interessen soll man folgen, wie soll man sich kleiden usw…

Der Streit um unpassende Kleidung hat was Gutes?

Ja, heute mischen sich die Alten jedoch nicht mehr ein, die Jugend darf sich kleiden, wie sie will, was natürlich in Ordnung ist. Gegenstimmen sind jedoch auch wichtig, sie helfen sich zu finden. Erwachsensein drückt sich dann eben auch durch die Kleidung aus.

Wie denn?

Es signalisiert, dass man einen Schritt weiter weg von der Kindheit ist und man sozial etwas gemeistert hat. Unsere Ideologie hingegen ist, dass sich die Jugend selbst finden muss.

Und das ist anstrengend.

Es hat jedoch auch viele Vorteile und Freiheiten, z. B. dass man den Beruf selber wählen kann. Aber ein grosser Nachteil ist: Die Jugendlichen sind ohne Hilfe fast unmenschlich gefordert. Es ist einfacher, sich selbst zu finden, seine Interessen zu entdecken, wenn jemand etwas von einem fordert, denn da kann man dagegen sein. Wenn niemand von einem etwas will, ist es schwieriger.

Die Jugend zeigt ihre Fähigkeiten und ihre Kreativität, wenn sie einen Gestaltungsraum hat, wo die Erwachsenen nicht durch Vorschriften und Diplome Einfluss ausüben wollen.

Naja, aber irgendwann muss man eh wissen, was man selber will im Leben.

Sicher, aber es dauert eine Weile. Viele wissen mit dreissig oder vierzig noch nicht, was sie wirklich wollen. Eine andere Problematik ist, dass wir die Jugend zwar sehr lange gut ausbilden, jedoch zögern, ihnen die Verantwortung zu übergeben. Ausbildungsgänge und Diplome werden dann zu einem, die Jugend auszugrenzen.

Man muss auch mehr wissen heute.

Das stimmt. Aber für die Lebens- und Berufstüchtigkeit braucht man nicht nur Diplome. Die Diplome drohen zu einer reinen Selbstbestätigung der Geronten zu werden, also der Alten. Wir werden zu einer Gerontokratie! Was jemand kann, weiss man meistens erst, wenn der oder die Betreffende die volle Verantwortung für die entsprechende Tätigkeit trägt. Dazu braucht es die Übergabe von Verantwortung. Wir sind eine hochprofessionalisierte Gesellschaft, das ist auch gut, doch die Jugend zeigt ihre Fähigkeiten und ihre Kreativität, wenn sie einen Gestaltungsraum hat, wo die Erwachsenen nicht durch Vorschriften und Diplome Einfluss ausüben wollen. Das ist ein Schwachpunkt unserer Gesellschaft, der sich auch auf die Psyche der Jugendlichen auswirkt.

Allan Guggenbühl (70) ist Psychologe und Experte für Jugendgewalt. Er ist war Leiter der Abteilung für Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche in der Stadt Bern und ist Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich. Er hat eine eigene Praxis für Psychotherapie in Zürich.

Sie sagen, wir lassen die Jugendlichen alleine – sollen ihnen aber gleichzeitig mehr Verantwortung geben? Ist das nicht ein Widerspruch?

Das ist kein Widerspruch. Verantwortung übernehmen heisst, eine Arbeit selbstständig übernehmen können, Eigeninitiative entwickeln können und auch scheitern dürfen. In den Lehren geschieht das zum Teil, da muss die Jugend nicht wie in akademischen Berufen jahrelang auf Tablets starren, leider besteht auch dort die Tendenz der Verschulung.

Die Lehrabbrüche sind nach wie vor hoch. Was hat das mit der Zeit nach der Pandemie zu tun?

Das hat weniger mit der Pandemie zu tun, viel mehr damit, dass wir die Kinder mit Samthandschuhen anfassen. Wir wollen ihnen Frustrationen ersparen und tun so, als sei alles, was sie sagen oder leisten, super. Oft fehlen Momente, wo Kindern und Jugendlichen gesagt wird: Du musst dich anstrengen, denn du kannst auch scheitern.

Man muss auch Dinge sagen, die den anderen eventuell aufwühlen oder irritieren könnten.

Ist es nicht gerade dieses Leistungsdenken, unter dem die Jugend leidet?

Deshalb ist es eben Betrug, von Kindern nicht auch etwas zu fordern. In den Fortbildungen für Lehrmeister höre ich oft, dass die Lernenden denken, sie könnten in der Arbeit selbst bestimmen, was ihnen gefällt und was nicht. Und wenn sie müde sind oder kränkeln, sei es ihr Recht, dass der Betrieb dies berücksichtigt.

Kürzlich erwähnten Sie in einem Gespräch, es werde immer mehr Schaumsprache geredet. Gehört das auch dazu?

Mit Schaumsprache meine ich, dass man nicht nur sagen soll, was der andere hören will und dem Mainstream entspricht. Man muss auch Dinge sagen, die den anderen eventuell aufwühlen oder irritieren könnten.

Warum sollte man das tun?

Auf diese Weise ist wirklicher Kontakt und Beziehung möglich. Ausserdem kommt man in Kontakt miteinander und es werden dann auch wichtige Themen angesprochen, die wir alle gerne vermeiden.

Aber man könnte jemanden auch vor den Kopf stossen und ihn als Freund oder Freundin verlieren.

Das ist das Risiko. Aber man verliert jemanden auch, wenn man nicht sagt, was ist. Wenn man nur auf Harmonie bedacht ist. Dabei gehört zu Beziehungen auch das Sich-nicht-Verstehen und die Frage: Wie meinst du das?

Heute findet man die neue Musik interessant, alle haben Verständnis.

Sie begleiten Jugendliche schon seit über 40 Jahren. War das früher wirklich anders?

Ja, der Kontakt mit den Erwachsenen war konfrontativer. Ich erinnere mich, wie ich als Vierzehnjähriger an einem Kiosk das Bravo kaufen wollte. Da sagte die Kioskfrau: «Einem solchen Langhaardackel wie dir verkaufe ich kein Bravo.» Und die beiden Kunden neben mir empörten sich ebenfalls über meine Haare. Ein wunderbares Erlebnis, phantastisch!

Warum phantastisch?

Ich stiess auf eine Resonanz und wurde ernst genommen in meinem Auftritt. Auch die Lärmmusik der Beatles wurde nicht einfach so hingenommen. Heute findet man die neue Musik interessant, alle haben Verständnis.

Das lässt einen im leeren Raum?

Ja! Wenn ich ihre Musik nicht geniesse, dann gebe ich zu: Ich kann mit eurer Musik nichts anfangen. Und das kommt nicht schlecht an.

Oft erkennen die Eltern aber gar nicht, wenn die Tochter oder der Sohn eine Depression hat.

Moment – fordern Sie gerade weniger Toleranz?

Ich rede von Authentizität. Ich werte niemanden ab, ich nehme die Jugendlichen ernst. Ich überlege mir, was ich wirklich finde und teile dies mit. Tolerant geben sich heute alle. Das ist verdächtig. Toleranz gehört zur Schaumsprache, weil alle diese Eigenschaft für sich beanspruchen.

Wann sollten Eltern handeln, wenn sie denken, das Kind verhält sich ungesund?

Es gibt viele Abstufungen von handeln. Manchmal genügt nur ein Gespräch, um ein Thema in einer Familie anzustossen oder die Eltern zu stärken. Man ist nicht entweder gesund oder krank und deshalb sind auch die Hilfestellungen abgestuft, von der Beratung bis zur stationären Therapie. Oft erkennen die Eltern aber gar nicht, wenn die Tochter oder der Sohn eine Depression hat.

Das ist auch schwierig, oder?

Ja, ganz schwierig. Ohne Beratung geht es oft nicht.

Aber was, wenn man gar nicht hin kann, weil die Wartelisten so lange sind?

Eine Beratung von einer Stunde sollte eigentlich immer möglich sein. Das Problem ist gerade, dass viele schon die Lösung im Kopf haben: eine Einweisung in eine Klinik.

Das Bundesamt für Statistik meldete, dass in den Jahren 2020 und 2021 die Mädchen und jungen Frauen nicht nur generell wegen psychischer Probleme öfter stationär eingewiesen wurden, sondern auch 70 % der Einweisungen wegen Selbstverletzungen oder Suizidversuchen Mädchen und junge Frauen betrafen. Sind junge Männer resilienter?

Es ist so: Die psychiatrischen Kliniken sind voller Frauen, die Gefängnisse voller Männer. Die Geschlechter gehen mit Schwierigkeiten typischerweise anders um. Männer nehmen Probleme eher auf die leichte Schulter, was gut sein kann, sie bagatellisieren sie  – dafür nehmen sie sie weniger ernst – was Probleme verschlimmern kann.

Die Strategie kann also gut oder schlecht sein.

Ja. Frauen wälzen die Probleme im Kopf länger, sinnieren und reflektieren, warum sie keine Freundschaften haben. Männer sagen eher: Ich bin halt so.

Warum?

Geschlechtertypische Unterschiede sind so vielschichtig, dass es sich nicht sagen lässt, ob sie angeboren oder anerzogen sind.

Die besten Gesellschaften sind die halb-chaotischen, sie ermöglichen neue Prozesse und Innovationen.

Wie können junge Männer sich besser reflektieren und wie lernen junge Frauen, Probleme auch mal beiseite zu schieben?

Über Kontakte mit Erwachsenen, die sie ernst nehmen. Jugendliche verhalten sich oft provokativ und sind ein Ärgernis. Dann ist es ganz wichtig, dran zu bleiben und dem Konflikt nicht einfach auszuweichen. Man muss aber auch auf ihre Ideen eingehen!

Da wären wir wieder bei der Anleitung zu mehr Verantwortung.

Ja. Ich erinnere mich an Schulbesuche in Japan. Da haben vom Empfang bis zum Mittagessen alles die Jugendlichen organisiert. Auch fürs Einkaufen, Kochen und Putzen waren die Schülerinnen und Schüler zuständig. Das führte zu einer ganz anderen Atmosphäre, die Jugendlichen identifizierten sich viel mehr mit ihrer Schule. Warum müssen Köche für 15-Jährige kochen? Wenn man bei uns Selberkochen einführen würde, würde es erst zehnmal nicht gut kommen. Und einige Male gar kein Essen dastehen. Aber so entsteht eine andere Kultur und die Jugend wird selbstständig.

Bleiben Sie optimistisch bezüglich der psychischen Gesundheit der Jugendlichen?

Ich finde, man sollte pessimistisch denken, aber optimistisch handeln. Es gibt Veränderungsmöglichkeiten und Lösungen. Unsere offene und dynamische Gesellschaft hat viele Vorteile. Ich habe eine Zeitlang in China Studenten beraten, das System ist sehr problematisch. Man kann so vieles nicht ansprechen. Die Studies hatten internalisiert, was man sagen darf und welche Themen man vermeidet. Bei uns gibt es Debatten, man kann Fragen stellen, man darf sich über andere und den Staat ärgern. Das macht mich optimistisch. Die besten Gesellschaften sind die halb-chaotischen, sie ermöglichen neue Prozesse und Innovationen.

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Erlöst die Kinder von unnötigen Therapien! https://condorcet.ch/2021/09/erloest-die-kinder-von-unnoetigen-therapien/ https://condorcet.ch/2021/09/erloest-die-kinder-von-unnoetigen-therapien/#respond Sun, 26 Sep 2021 14:25:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=9369

Die Zahlen zeigen es: Die Normalität wird enger; immer mehr Schulkindern werden Therapien und Förderungen verschrieben. Doch wem dient das? Der Vortrag eines Kinderarztes lässt aufhorchen, findet Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard: Die Vorstellung von Normalität hat sich verändert.

Sie sei in den vergangenen Jahren richtiggehend explodiert, die Abklärungsmaschinerie für Schulkinder. Darum durchlebten wir eine Zeit der „Überdiagnosen“. Doch ein Mehr sei eben nicht zwingend besser. Im Gegenteil! So tönt das schonungslose Fazit von Thomas Baumann, Kinderarzt und Fachbuchautor, bei seinem Referat in St. Gallen zum Sinn der Diagnosen beim Kind. Eingeladen hatten die Ostschweizer Kinderärzte.[1]

Mehr „kranke“ als gesunde Kinder

Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird irgendwie therapiert – das Ziel: Schulprobleme lösen und den Unterricht bestehen. Sie erhalten sonderpädagogische und/oder unterrichtsergänzende Massnahmen zugeteilt, seien dies psychomotorische, logopädische oder heilpädagogische Hilfen. Dazu kommen medizinisch verordnete Therapien wie Psycho- und Ergotherapie.[2] Das bereitet dem Pädiater Thomas Baumann Sorge.

Dr. Thomas Baumann, Pädiater: Es werden einfach mehr Variationen der Norm als pathologisch erklärt.

Der Experte kennt klare Worte: Unsere Gesellschaft verleite dazu und verlange es: Kinder müssten schon früh ganz bestimmten Vorstellungen entsprechen. Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer, viele Eltern und auch Ärzte hätten immer konzisere Vorstellungen davon, wie sich ein Kind in einem bestimmten Alter verhalten müsse. „Kinder, die nicht in dieses Schema passen, werden abgeklärt und therapiert.“ Abweichungen vom Durchschnitt würden vielfach als Entwicklungsstörung betrachtet. So sei ein eigentlicher “Therapiewahn“ entstanden – und ein lukrativer Therapiemarkt, analysiert Baumann.[3] Die Folge: In unserem Schulsystem hätten wir mittlerweile mehr „kranke“ als gesunde Kinder.

Grosse Spannweite der Variabilität

Was aber führt zu dieser ungesunden Zunahme? Der Grund könne nicht primär in den Kindern liegen; verändert habe sich die Vorstellung von Normalität. Die Annahme, was normal sei und was nicht, werde immer enger. Die Streubreite nehme ab. Für Baumann ist klar: „Es werden einfach mehr Variationen der Norm als pathologisch erklärt.“ Das widerspricht dem medizinischen Grundsatz, wonach 95 Prozent der Kinder die Norm bilden. Wieso sollten jetzt plötzlich über 50 Prozent, also zehnmal mehr, nicht der Norm entsprechen?

Was ist mit mir los, dass sich um mich alle Sorgen machen? Was stimmt bei mir denn nicht?

Ausser Acht gelassen werde dabei oft die altersbedingte und grosse Spannweite der sogenannten Variabilität, der kindlichen Unterschiedlichkeit im Entwicklungstempo. Als Konsequenz erfolgten Interventionen und Therapien darum nicht selten im gesunden Bereich. Dies beispielsweise bei Kindern, die in ihrer Entwicklung scheinbar noch etwas im Rückstand lägen, doch diesen Schritt auch ohne Massnahmen vollzögen. Einfach etwas später, vielleicht etwas anders.

Wenn sich der Toleranzwert verschiebt

Therapien implizieren eben Krankheit. Oft hinterlassen die therapeutischen Settings beim Kind – und auch bei den Eltern – ein schales Gefühl: “Was ist mit mir los, dass sich um mich alle Sorgen machen? Was stimmt bei mir denn nicht?”, fragen sich die betroffenen jungen Menschen. Sie empfinden die Therapie als negative Rückmeldung, was im Sinne des Pygmalioneffekts wie ein schulisches Nocebo wirken kann. „Interventionen stigmatisieren“, so Baumann wörtlich. Nicht selten rutschten Kinder auch in den „kranken Bereich“, weil sich der Toleranzwert, der sogenannte Cut-off verschiebe.

In diesem Kontext verwies Baumann auch auf die Problematik der Defizitorientierung; sie sei in der praktischen Arbeit oft anzutreffen. Eindrücklich erlebt habe er die Kehrtwende eines ganzen Teams. Das Lehrerkollegium fokussierte bewusst auf die Ressourcen der Kinder. Siehe da! Nicht nur die Kinder spürten den neuen Fokus, auch die Stimmung im Team und bei den Eltern änderte sich und wurde zuversichtlicher. Das Team entdeckte “plötzlich” positive Ansatzpunkte im Fördern der Sorgenkinder.

Dr. Thomas Baumann beim Anlass der Ostschweizer Kinderärzte in St. Gallen: Fragwürdige Testverfahren.

Norm von Pathologie zu unterscheiden bleibt eine Kunst

Oft sind, so Baumann, auch die Testverfahren fragwürdig: Sie erstellen eine Diagnose, ohne den problematischen Bereich überhaupt zu messen oder den Gesamtkontext genügend auszuloten. So wird beispielsweise die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS zum Teil mit subjektiv ausgefüllten Fragebögen erfasst; es gibt keinen Biomarker, der als Indikator herangezogen werden könnte. Über „Normalität“ oder Hyperaktivität entscheidet schlicht der Beobachter, sagte Baumann. Praxispädiater wissen: Norm von Pathologie zu unterscheiden ist und bleibt eine Kunst. Das Messen wie das Sammeln von Informationen bedürfen zwingend einer Gesamtschau.

Den kantonalen Schulpsychologischen Diensten (SPD) werden immer mehr Schulkinder zugewiesen. Mindestens zwei Drittel davon sind Knaben.

Genderproblematik bei den Therapien

Noch eine Zahl lässt aufhorchen: Auch den kantonalen Schulpsychologischen Diensten (SPD) werden immer mehr Schulkinder zugewiesen. Mindestens zwei Drittel davon sind Knaben. Das Beispiel stammt aus dem Kanton Zürich. In anderen Kantonen zeigt sich ein ähnliches Bild. Es sei eine Gratwanderung, sagt Oskar Jenny, Abteilungsleiter der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich. Und er fügt bei: „Wenn das Angebot da ist, wird es auch genutzt. Es besteht die Gefahr, dass mehr Therapien verschrieben werden, als sie Kinder wirklich nötig haben.“[4]

Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich (KJPD): Möglichst früh therapieren.

Kinder- und Jugendpsychiatrien gefordert

In einem zweiten Vortrag skizzierte Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich (KJPD), die Zunahme akuter Probleme bei jungen Menschen. Ob Essstörungen oder Autismus, ob Persönlichkeitsstörungen oder das Zappelphilipp-Syndrom ADHS – psychische Leiden sollen möglichst frühzeitig erkannt werden. „Je früher wir behandeln, umso besser ist der Verlauf und die Prognose für die Betroffenen“, betonte Walitza und fügte bei: „Eine frühe Bindungsstörung kann nicht einfach wegtherapiert werden.“

Vor allem die zweite Welle der Corona-Pandemie hätte die Lebensqualität und damit die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen verschlechtert.

Vor allem die zweite Welle der Corona-Pandemie hätte die Lebensqualität und damit die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen verschlechtert; das habe die Psychiatrie mit zusätzlichen Notfällen konfrontiert. „Im April 2021 hatten wir mit 160 Konsultationen dreimal so viele junge Menschen bei uns wie zwei Jahre zuvor.“ Hinter jeder Zahl stünde ein junger Mensch mit seinen Sorgen und Nöten, oftmals geplagt von suizidalen Gedanken, gab Walitza zu bedenken.

Überdiagnosen und Unterdiagnosen verursachen Kosten

Die Sorgen der Jugendlichen brauchen ein diametrales Gegengewicht. Beide Referate betonten, wie wichtig dabei die Schule sei und wie bedeutsam die positive Beziehung – gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien sie essentiell. Baumann verwies auf die Erkenntnisse der grossen Hattie-Studie, Walitza auf das wertschätzende Klima im Klassenzimmer mit Struktur und Klarheit.

Der Pädiater Thomas Baumann nannte mehrfach die Überdiagnosen. Sie seien gesellschaftlich akzeptiert, wissenschaftlich aber kaum erforscht. Diagnosen verschafften vordergründige Sicherheit, auch wenn sie an der Realität vorbeizielten. Kaum jemanden interessiere es aber, welch enorme Kosten dabei entstünden und wie viel daran verdient werde. Auf ein Wegschauen und damit auf eine Unterdiagnose vor allem im psychiatrisch-pädagogischen Bereich machte Susanne Walitza aufmerksam: Die Lese- und Rechtschreibe-Schwäche vieler Kinder werde viel zu wenig erkannt und schon gar nicht als wichtiges Risiko für die spätere schulische Entwicklung gesehen. Auch hier wäre eine verantwortungsvolle Bildungspolitik gefordert.

[1] Referat im Rahmen der Vortragsreihe „Pädiatrie, Schule & Gesellschaft“ vom 15. September 2021 an der Pädagogischen Fachhochschule St. Gallen: „Erlöst die Schüler von unnötigen Diagnosen – die Bedeutung von Diagnosen für die Entwicklung des Kindes“.

[2] Romedius Alber: Der Pädiatrie laufen die Schulkinder und Jugendlichen davon – holt sie zurück! In: PAEDIATRICA Vol. 30-5/2019, S. 18.

[3] Thomas Baumann, Romedius Alber (2011): Schulschwierigkeiten: Störungsgerechte Abklärung in der pädiatrischen Praxis. Bern: Verlag Hans Huber.

[4] Simone Rau: In die Schule, dann zur Therapie. In: Tagesanzeiger, 14.10.2013, S. 1, 11.

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Die Grenzen der Integration https://condorcet.ch/2020/08/die-grenzen-der-integration/ https://condorcet.ch/2020/08/die-grenzen-der-integration/#comments Sat, 29 Aug 2020 09:56:48 +0000 https://condorcet.ch/?p=6208

In der Reihe Bildungspolitik in Zeiten der Wahlen publizieren wir hier den Beitrag unserer Condorcet-Autorin Christine Staehelin. Sie ist Primarlehrerin im St. Johann-Quartier und kandidiert in Basel-Stadt für die Grünliberale Partei.

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Die integrative Schule scheint an ihre Grenzen zu gelangen. So steht zum Beispiel in der «bz – Zeitung für die Region Basel» vom 24. Februar 2020 im Hinblick auf die Situation in der Volksschule Basel-Stadt: «Mittlerweile fällt eines von zwanzig Kindern unter die sogenannte Separationsquote. Erziehungsdirektor Conradin Cramer sagte vergangene Woche im Basler Parlament, dass er davon ausgehe, dass die Zahl weiter steigen werde – auch weil man die integrative Schule entlasten wolle».

Anscheinend überlastet

Das System scheint überlastet.

Das System scheint «überlastet» zu sein, Tendenz offenbar steigend. Das heisst nichts anderes, als dass die Volksschule an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit stösst bzw. ihren Qualifikations- und Selektionsauftrag nicht mehr vollumfänglich gewährleisten kann. Oder anders gesagt: Kinder scheitern zunehmend in der Schule.

Massnahmen gegen das Scheitern

Dieser Tatsache begegnet die Volksschule, indem sie verschiedene Massnahmen trifft:

Die Schulen stellen ein Förderangebot bereit, das Schulische Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik, Deutsch als Zweitsprache, Begabungsförderung, Therapie bei Lese-Rechtschreibstörung und Dyskalkulie u.a. umfasst.

10 Prozent der Schülerinnern und Schüler im Kanton Basel-Stadt erhalten einen Nachteilsausgleich.

Kindern mit einer Behinderung werden so genannte ‘Verstärkte Massnahmen’ zugesprochen. Sie werden individuell vermehrt unterstützt, was wiederum Ressourcen generiert.

Wenn solche Massnahmen zunehmen, bedeutet das: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen einen Förderbedarf aus und sind auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen.

Die Schule stellt Zivildienstleistende, Praktikantinnen und Praktikanten oder Assistierende an, um den Schulbetrieb zu unterstützen.

Immer mehr SchülerInnen weisen einen Förderbedarf aus. Bild: stock.adobe.com

10 Prozent der Schülerinnern und Schüler im Kanton Basel-Stadt erhalten einen Nachteilsausgleich, d.h. diese absolvieren Prüfungen unter besonderen Bedingungen, weil sie eine Beeinträchtigung haben, die es ihnen verunmöglicht, ihr Wissen und Können unter den vorbegebenen Bedingungen vollumfänglich unter Beweis zu stellen.

Für Schülerinnen und Schüler, welche die Ziele des Lehrplans in einem bestimmten Ausmass und über längere Zeit nicht erreichen, können individuelle Lernziele festgelegt werden.

Wenn solche Massnahmen zunehmen, bedeutet das: Immer mehr Schülerinnen und Schüler weisen einen Förderbedarf aus und sind auf unterschiedliche Formen der Unterstützung angewiesen. Dadurch wird diese Thematik an den Schulen immer stärker gewichtet. Somit verschiebt sich der Fokus der Schule vom Lehren und Lernen zunehmend auf Förderung und Therapie.

Überzogene Ideale

Die Volksschule scheint auch an ihren überzogenen Idealen zu scheitern. So steht im Rahmenkonzept «Förderung und Integration» des Kantons Basel-Stadt: «Der Volksschule ist also aufgetragen, die Ziele Integration und Leistung zusammenzudenken, indem sie die Kinder und Jugendlichen in einer integrativen Schulform bestmöglich fördert» [1].

Auch die pädagogischen Hochschulen vermitteln einen idealisierten Zugang zum Thema, welcher die Studierenden in der Praxis ziemlich ratlos zurücklässt.

Eingefordertes Zusammendenken und ideologisierte Zugänge verhindern die Debatte. Überhaupt scheint die Diskussion über die Integration eine eher peinliche Sache zu sein, denn wer ist schon gegen die Integration? Doch «wo alle nur mit dem Kopf nicken können […], stimmt etwas nicht»[2]. Insbesondere die oben beschriebene Zunahme von Massnahmen zur Aufrechterhaltung des Systems zeigen, wie dringend eine öffentlich geführte Diskussion wäre.

Unerwünschte Nebenwirkungen

Selbstverständlich müssen alle Kinder, welche einen besonderen Bildungsbedarf ausweisen, «eine Grundschulung erhalten, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist»[3]. Und diese Grundschulung soll auch «soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen»[4] integrativ in der Regelschule erfolgen.

Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht mehr

Darum geht es hier nicht. Sondern allein um die unerwünschten Nebenwirkungen der integrativen Schule, wie sie sich aktuell zeigen: Um die Zunahme des Förderbedarfs, der Diagnosen und Therapien, um die Zunahme der Zuschreibung einer Behinderung, um die Begründungszusammenhänge zwischen Diagnosen und Ressourcen, um die Veränderung des Fokus vom Lehren und Lernen auf das Fördern und Therapieren. Schliesslich um die fehlende Diskussion darüber, was eigentlich wirklich geschieht: Dass nämlich immer mehr Kinder und Jugendliche nicht in das bestehende System zu passen bzw. den Anforderungen der Volksschule zu genügen scheinen und dem nur mit zusätzlicher Förderung bzw. Separation begegnet wird. Und darüber, dass der Schulalltag für Lehrerinnen und Lehrer zunehmend schwieriger zu bewältigen ist.

Was stimmt hier nicht mehr?

Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht mehr.

Dies zeigt sich auch ganz konkret in der täglichen Praxis. Die unterschiedlichen Fördermassnahmen führen dazu, dass ein Unterrichtsmorgen an einer Primarschule so aussehen kann: Die Heilpädagogin unterrichtet eine Kleingruppe von Lernbehinderten einer Klasse separativ oder integrativ, ein Kind besucht während einer Lektion die Psychomotorik, ein anderes geht eine Lektion später in die Logopädie und in den letzten beiden Lektionen des Morgens stösst das Kind, welches separativ den Unterricht Deutsch als Zweitsprache besucht, zum Klassenverband hinzu. Zwei Kinder haben Streit in der Pause und besuchen darum anschliessend die Schulsozialarbeiterin, um die Situation zu klären. Und die Klassenlehrerin versucht, den Unterricht im Klassenverband aufrecht zu erhalten, organisatorisch den Überblick zu bewahren, die dazugehörende Bürokratie zu bewältigen und die Kooperation mit allen Beteiligten zu bewerkstelligen – eine Sisyphosaufgabe.

Der Lehrauftrag geht vergessen …

Doch eigentlich hätte sie einen Lehrauftrag. Also die wunderbare Aufgabe, sich gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern vertieft einer bedeutsamen Sache zu widmen, um Zugänge zu einer gemeinsamen und geteilten Welt zu erschliessen. Diese erfolgt letztlich über das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen, über das gemeinsame Nachdenken und Ausprobieren, über das Zeichnen und Singen, über das Lernen in der Gemeinschaft, das an sich wiederum die Zivilität als Grundlage jedes Zusammenlebens anerkennt. Wenn wir davon ausgehen, dass der Sinn der Schule im hier beschriebenen Tun liegt und wir diesen Sinn aufrechterhalten wollen, weil wir als demokratische Gesellschaft dies als bedeutsam für dieselbe erachten, dann müssen wir die Grundlagen dafür, dass dies gelingt, herstellen.

Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden, dann werden Probleme nicht mehr thematisiert und diskutiert, das Scheitern verschwiegen und die unerwünschten Effekte bagatellisiert.

Was tun?

Es gibt keine Patentrezepte und einfachen Lösungen. Aber wir müssen der Tendenz der zunehmenden Pathologisierung von Kindern und Jugendlichen entgegenwirken. Ansonsten verkehrt sich die Absicht der Integration in ihr Gegenteil. D.h. wir müssen darüber nachdenken, Therapien auch ausserhalb des Schulalltags stattfinden zu lassen – zur Beruhigung des Schulalltags und damit diejenigen Kinder, die diese besuchen, nicht den Unterricht verpassen; die Diagnosestellungen genau zu überprüfen (aktuell stellen oft jene die Diagnose, die auch therapieren), um die Zunahme begründen zu können; unsere Normalitätsvorstellungen wieder zu erweitern, damit vermehrt Kinder ohne zusätzliche Unterstützung unterrichtet werden können; separative Angebote bereitzustellen, die genau auf die Bedürfnisse der Kinder mit besonderem Bildungsbedarf zugeschnitten sind.

Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden …

Und das Wichtigste: Wenn an sich gut gemeinte Ideen zu unwidersprochenen Leitgedanken werden, dann werden Probleme nicht mehr thematisiert und diskutiert, das Scheitern verschwiegen und die unerwünschten Effekte bagatellisiert. Das kann nicht im Sinne einer funktionsfähigen Institution Schule, der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern und der Lehrerinnen und Lehrer sein. Es ist Zeit für eine öffentliche und pragmatische Diskussion.

Eine Anmerkung zum Schluss: Im Artikel werden die Zahlen aus dem Kanton Basel-Stadt verwendet, weil mir diese freundlicherweise von der Volksschulleitung zur Verfügung gestellt wurden. Die Situation in anderen Kantonen zeigt sich aber möglichweise ähnlich.

[1] Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt (2010). Rahmenkonzept «Förderung und Integration an der Volksschule«.

[2] Reichenbach, R. (2003). Pädagogischer Kitsch. Zeitschrift für Pädagogik, 49, 785.

[3] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3.

[4] UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Art. 3.

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Braucht es den Nachteilsausgleich für Legastheniker? https://condorcet.ch/2020/03/braucht-es-den-nachteilsausgleich-fuer-legastheniker/ https://condorcet.ch/2020/03/braucht-es-den-nachteilsausgleich-fuer-legastheniker/#comments Sun, 29 Mar 2020 16:02:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=4458

Condorcet-Autor Felix Schmutz spricht in diesem Artikel ein heisses Eisen an. Der Nachteilsausgleich wird heute von immer mehr Eltern für ihre Kinder beansprucht. Doch bringt er wirklich das, was er verspricht? Felix Schmutz hat da seine Zweifel.

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Felix Schmutz, Baselland

Hilfsmassnahme für Benachteiligte

Vor etwa einem Jahrzehnt hielt der so genannte Nachteilsausgleich Einzug in die Volksschulen. Auf Kinder mit Lese-Rechtschreibe-Schwäche (LRS) sollte besser Rücksicht genommen werden. Lehrpersonen waren gehalten, ihnen in Prüfungen Erleichterungen und alternative Testverfahren anzubieten, damit ihre Chancen trotz des Handicaps gewahrt blieben.

Nur Inhalt wird beurteilt – keine Rechtschreibung

So erhalten sie seither zum Beispiel mehr Zeit zum Lösen der Aufgaben oder sie dürfen Textbeiträge mit dem Computer schreiben anstatt von Hand und erst noch ein Rechtschreibprogramm zur Fehlerkorrektur nutzen. In Aufsätzen wird nur der Inhalt beurteilt, nicht aber die Rechtschreibung; Vorlesen dürfen sie in einem Nebenraum anstatt vor der ganzen Klasse, usw.

Qualvolle Misserfolgserlebnisse

Was ist genau ein Nachteil?

Dass schulisches Lernen für Kinder mit LRS eine grosse Herausforderung ist, wird heute niemand mehr bestreiten. Wenn grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen unüberwindliche Schwierigkeiten bieten, ist das ganze schulische und berufliche Lernen geprägt durch qualvolle Misserfolgserlebnisse. Lebenschancen verstreichen ungenutzt, manchmal resultiert aus der LRS ein funktioneller Analphabetismus im Erwachsenenalter.

Dennoch darf die Frage gestellt werden: Hilft diesen Kindern und Jugendlichen der Nachteilsausgleich (NA) in der Schule und später vielleicht sogar in der Lehre? Ist der NA tatsächlich ein taugliches Mittel zur Verbesserung der Chancengleichheit bei LRS-Betroffenen?

Die WHO schaltet sich ein

Die Einführung des NA hängt eng damit zusammen, dass die Weltgesundheitsorganisation die Lese-Rechtschreib-Schwäche in ihren ICD-Katalog der Krankheiten und Störungen aufgenommen hat. Allerdings wird LRS nicht als Krankheit aufgeführt, sie erscheint im Abschnitt «Psychische und Verhaltensstörungen», und zwar im Unterkapitel «Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten»[1].

Die alleinige Tatsache, dass diese Entwicklungsstörung im ICD-Katalog erscheint, hat sie in den Augen der auf Integration und Chancengleichheit eingeschworenen Bildungsfachleute zur «Krankheit» oder zur «Behinderung» aufgewertet. Das ist jedoch eine Umdeutung, es ist die etwas fragwürdige Pathologisierung eines Phänomens, das bis anhin verharmlosend mit dem Etikett «Übungsdefizite» versehen worden war. [2]

Die ICD-Klassifizierung unterscheidet die LRS-Störungen deutlich von tatsächlichen Behinderungen und Krankheiten wie Schwerhörigkeit, Mutismus, Aphasie, ADHS, usw. Sie charakterisiert LRS als behandelbare Entwicklungsstörung oder Entwicklungsverzögerung, bei der die auditiven und visuellen Sprachsignale im Gehirn nicht erwartungsgemäss verarbeitet werden. Sie unterscheidet LRS auch von Verarbeitungsproblemen infolge kognitiver Minderleistungsfähigkeit. Kognitive Einschränkungen können zu ähnlichen Symptomen führen wie LRS. Um LRS zu diagnostizieren, braucht man eine aufwändige Testbatterie, die es erlaubt, LRS von Gebrechen oder Intelligenzschwäche abzugrenzen und die Art der Verarbeitungsstörungen genau zu definieren. Eine solche Diagnostik ist wohl nur unter klinischen Bedingungen möglich.

Die Frage der Gerechtigkeit

Diskalkulie oder Faulheit?

Wenn bei einem Kind eine LRS von der Schulpsychologie bescheinigt wird, muss die Schule den Nachteilsausgleich gewähren. In der Praxis ist das jedoch nicht so einfach, wie sich das in den oben genannten Beispielen anhört. Wenn plötzlich formale Aspekte wie sprachliche Korrektheit, Textverständnis, Zeitdruck, Wortschatzkenntnisse, handschriftliches Formulieren durch alternative Verfahren erleichtert werden, entsteht eine Ungerechtigkeit den Kindern gegenüber, die diese Angebote nicht erhalten. Die genannten Leistungen beruhen für alle Kinder, auch für diejenigen ohne LRS, auf Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ihnen nicht angeboren sind, sondern die sie durch Übung und etwelche Mühe erwerben müssen.

Zuordnungskompetenz und Zugriffskompetenz sind nicht das Gleiche

Wer einem Lernenden, der sich wegen LRS Französischwörter nicht einprägen kann, erlaubt, die Wörter in einer Multiple Choice Aufgabe anzukreuzen, anstatt sie auswendig erinnern und einem Bild mündlich oder schriftlich ohne Vorlage zuordnen zu müssen, stellt diesem nicht mehr dieselbe Aufgabe wie dem Kind ohne LRS. Man erleichtert ihm die Aufgabe nicht nur, sondern prüft eine andere Kompetenz. Zuordnungskompetenz und Zugriffskompetenz sind nicht dasselbe. Die Aufgaben sind somit nicht gleichwertig, verlangen nicht eine gleichwertige Leistung. Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich auch deshalb, weil Kindern mit unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten ein Nachteilsausgleich nicht zu Teil werden darf.

Das berufliche und private Leben oder auch der Sport kennen keinen solchen Nachteilsausgleich.

Nutzen des Nachteilsausgleichs

Ein weiteres Problem: Das berufliche und private Leben oder auch der Sport kennen keinen solchen Nachteilsausgleich. Wenn die erwarteten Kompetenzen zwingend vorhanden sein müssen, um einen Beruf oder einen Sport ausüben zu können, muss eine Schwäche überwunden werden. Lernenden solche Kompetenzen zu erlassen, um sie durch eine Prüfung zu bringen, nützt ihnen demzufolge nichts. Denn sie werden an den nicht vorhandenen Kompetenzen in jedem Fall scheitern.

In der Praxis sendet er jedoch unerwünschte Signale aus: Ein Kind bekommt gleichsam amtlich bestätigt, dass es etwas nicht kann und deshalb auch nicht können muss.

Gedacht ist der Nachteilsausgleich als Kompensation einer Chancenungleichheit. In der Praxis sendet er jedoch unerwünschte Signale aus: Ein Kind bekommt gleichsam amtlich bestätigt, dass es etwas nicht kann und deshalb auch nicht können muss. Das wirkt sich oft so aus, dass Kinder und Jugendliche mit einem verbrieften Recht auf Nachteilsausgleich gar keine Anstrengungen mehr unternehmen, an ihren Schwächen zu arbeiten. Während andere sich mit Üben und Lernen herumplagen, ruhen sich gewisse LRS-Kinder aus, verzichten bald einmal aufs Erledigen von Hausaufgaben, aufs Üben oder aufs Wörterlernen. Es braucht dann sehr viel Überredungskunst, um sie doch noch zur Anstrengung zu motivieren.

Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Nachteilsausgleich: Erreicht er das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt?

Schlimmer noch: Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken. Sie werden in eine Opferrolle gedrängt, von wohlmeinenden Eltern darin noch bestärkt, wenn diese intervenieren, weil sie das Gefühl haben, die Schule nähme nicht genügend Rücksicht. Das weckt mit der Zeit den Neid der andern in der Klasse, denen die Anstrengung nicht erspart bleibt. Häme, Ausgrenzung können leicht die Folge sein. Es gibt auch Eltern, die den Arzt oder Psychologen so lange bestürmen, bis ihr Sprössling einen NA zugesprochen bekommt, obwohl objektive klinische Kriterien dies nicht wirklich nahelegen würden.

Scheinlösung und Ausweg

Der Nachteilsausgleich ist vor allem eine Scheinlösung, weil sich die Schule, bzw. die Bildungsbehörden, dadurch die Kosten für eine genaue Diagnostik und eine effiziente Therapie sparen können. Wie der Neurologe Burkart Fischer aus Freiburg i.Br. ausführt, können die Schwächen mit einer gezielten Diagnostik genau dingfest gemacht und anschliessend gezielt individuell therapiert werden. Die Therapien, die er zum Blicktraining, zur Blicksteuerung, zur auditiven Wahrnehmung entwickelt hat, ermöglichen Kindern, die Schwächen, die sie an der Verarbeitung der Sprache hindern, signifikant zu verbessern, so dass sie mit nur noch geringen Abstrichen die schulischen Leistungen erbringen können, zu denen sie ohne LRS fähig wären.[3]

Nachteilsausgleich als Sparübung

Der NA ist eine Sparübung auf dem Buckel der LRS-Betroffenen. Vor der Einführung des NA gewährten ihnen die Behörden ein eng umgrenztes, einheitliches Kontingent an logopädischer Hilfe, ohne Rücksicht darauf, wie intensiv und wie lange ein Kind therapiert werden musste. Wenn das Kontingent in der Sekundarstufe I aufgebraucht war, hiess es: «Débrouillez-vous.»

Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Eine erfolgversprechende Therapie müsste früh beginnen.
Bild: AdobeStock

Mit dem NA ziehen sich die Behörden bequem aus der Affäre. Der Schwarze Peter wird einfach an die Schule weitergereicht. Ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit ist dies jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Eine erfolgversprechende Therapie müsste gleich bei der Einschulung beginnen und, wenn nötig, kontinuierlich weitergeführt werden, insbesondere, wenn mehrere Verarbeitungsschwächen zusammentreffen. Da die Kinder mit LRS per definitionem intelligent genug sind, können sie lernen, Strategien anzuwenden, mit denen sie ihre Schwierigkeiten einigermassen in den Griff bekommen können. Das Training müsste im Übrigen stets von speziell ausgebildeten Logopädinnen durchgeführt und den jeweiligen schulischen Anforderungen angepasst werden. Es wäre ein ehrlicherer Beitrag zur Verhinderung des funktionellen Analphabetismus als die Scheinlösung mit dem Nachteilsausgleich.

 

[1] https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/block-f80-f89.htm

[2] Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichnete der Schulpsychologe Dr. F. Schniepper lediglich multiple Verarbeitungsstörungen als Legasthenie.

[3] Burkart Fischer, Hören – Sehen – Blicken – Zählen. Teilleistungen und ihre Störungen, Bern 2007.

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Logopädie – erfolgreich integrierende Therapie https://condorcet.ch/2020/03/logopaedie-erfolgreich-integrierende-therapie/ https://condorcet.ch/2020/03/logopaedie-erfolgreich-integrierende-therapie/#comments Wed, 18 Mar 2020 19:04:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=4320

Kinder würden “unnötig therapiert” oder “Therapien würden dauernd zunehmen” ist eine – auch durch die Medien – weitverbreitete Meinung. Dabei werden die schulischen Therapien oft mit der Sonderpädagogik verwechselt. Es ist schon vorgekommen, dass Politiker solche Falschmeldungen als Grund für Budgetkürzungen genommen haben. Leidtragende sind dann immer die Kinder, die deswegen keine Therapie erhalten und denen so die Zukunft verbaut wird. Unser Autor Peter Aebersold überrascht unsere Redaktion immer wieder mit seinem Flair für den Sonderunterricht und die Beschreibung grosser Persönlichleiten, welche in diesem Bereich wirkten.

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Als Therapien gelten in der Volksschule die Logopädie, die Psychomotorik und Psychotherapie, alle anderen – wie sonderpädagogische Massnahmen – gelten nicht als Therapien. Die Therapien finden in einem Therapieraum mit einer Therapeutin und normalerweise einem Kind statt. Bevor eine Therapie stattfindet, wird – ähnlich wie beim Arzt – eine Diagnose mit Hilfe von geeigneten, meist validierten Diagnosetests erstellt. Rund 5 von 100 Kinder benötigen diese Therapien, davon rund 70% Logopädie. 2008 musste die Volksschule wegen dem Nationalen Finanzausgleich (NFA) alle bisher von der Invalidenversicherung (IV) bezahlten privaten Therapien übernehmen. Seither ist dieses Verhältnis unabhängig vom Anteil fremdsprachiger Schüler stabil geblieben. Die Therapeutinnen haben kein Interesse, unnötig Kinder zu therapieren, da sie oft eine längere Warteliste haben. Im Kanton Zürich zum Beispiel gibt es ein Kostendach – im Gegensatz zur Sonderpädagogik -, dass die Anzahl Therapeuten beschränkt. Es werden normalerweise nur Kinder in die Therapie oder auf die Warteliste aufgenommen, deren Eltern bereit zur Mitarbeit sind, damit auch daheim geübt wird und ein Therapieerfolg so möglich wird.

Die Logopädie als interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin grenzt an Teilgebiete der Medizin, der Linguistik, der Pädagogik sowie der Psychologie und beschäftigt sich dabei mit der Ätiologie, Diagnostik und Intervention hinsichtlich sämtlicher Kommunikations- und Schluckstörungen.

In der Logopädie werden Sprach-, Sprech-, Stimm-, Schluck- oder Hörbeeinträchtigungen behandelt und behoben. Vor dem Beginn einer Logotherapie findet eine Abklärung mit Tests statt. Dabei wird auch genau abgeklärt, ob eine Therapie notwendig ist oder ob ein allfälliger Entwicklungsrückstand auch ohne Therapie aufgeholt werden kann. Voraussetzung jeder Therapie ist der Aufbau einer Vertrauensbeziehung zwischen dem Therapeuten und dem Schüler. Die Störungen im Bereich der Logopädie umfassen eine grosse Bandbreite und reichen von fehlender oder falscher Lautbildung (sch, s, ch und R), falscher Zungenhaltung, mangelndem Wortschatz bis zu Stottern und Mutismus (Stummheit). Deshalb ist die Dauer der Therapie sehr unterschiedlich. Mangelndes Sprachverständnis be- oder verhindert das Lernen in fast allen Schulfächern.

Die Logopädie ist auch ein Kind der Wiener Schulreform und der jungen Tiefenpsychologie. Im Gegensatz zu Letzterer wurde sie jedoch schon früh von der Medizin akzeptiert und fand auch deshalb weltweite Verbreitung.

Emil Fröschels führte 1924 den Begriff Logopädie in den medizinischen Sprachgebrauch ein.

Der Laryngologe Emil Fröschels führte 1924 den Begriff Logopädie in den medizinischen Sprachgebrauch ein. 1913 hatte er sein Lehrbuch der Sprach- und Stimmheilkunde veröffentlicht, das mit den Werken des Begründers der Phoniatrie, Hermann Gutzmann sen., zur Anerkennung der Sprach- und Stimmheilkunde innerhalb der Medizin beitrug. 1920 errichtete er zusammen mit Kollegen und Pädagogen eine Sprachfürsorgestelle für Schulkinder der Stadt Wien. 1921 veranstalteten Emil Fröschels und Karl Cornelius Rothe in Wien erstmals Sonderkurse über Stimm- und Sprachheilkunde für Pädagogen, gründeten die Sprachheilschule zur Ausbildung von Sprachheillehrern in Österreich und gelten deshalb als Gründer der Sprachheilpädagogik. Fröschels gründete 1924 die internationale Gesellschaft für Logopädie und Phoniatrie (International Association for Logopedics and Phoniatrics IALP), deren Vorsitzender er von 1924 bis 1953 war. Er engagierte sich im Rahmen der Wiener Schulreform im Verein für Individualpsychologie bei der Erziehungsberatung und gründete 1926 ein individualpsychologisches Ambulatorium für

Alfred Adler, Mitbegründer der Wiener Schulreform, arbeitete eng mit Fröschels zusammen.

Er führte das Stottern auf psychische und nicht auf angeborene Ursachen zurück.

Sprachstörungen an der Poliklinik, das er in Zusammenarbeit mit Alfred Adler und Leopold Stein leitete. Seine Forschung galt den psychologischen Ursachen der verschiedenen Sprach- und Sprechstörungen. Er führte das Stottern auf psychische und nicht auf angeborene Ursachen zurück. Nach dem Anschluss Österreichs wurde Fröschels wegen seiner jüdischen Herkunft zwangsbeurlaubt, verlor seine venia legendi und emigrierte 1939 in die USA. Dort konnte er seine Tätigkeit fortsetzen und sie fiel auf fruchtbaren Boden.

Amerikanischer Logopädenverband beweist hohe Wirksamkeit der Logopädie

Der amerikanische Logopädenverband (American Speech-Language-Hearing Association, ASHA) dürfte mit seinen 211’000 Mitgliedern der weltweit grösste sein. Wegen den Sparmassnahmen im Gesundheitswesen und den Forderungen von Krankenkassen, Gesetzgebern, Behörden, Politikern und Eltern sah sich der Berufsverband mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Wirksamkeit der von den Logopäden erbrachten Dienstleistungen nachzuweisen. Um die kritischen Fragen im Zusammenhang mit den Behandlungsergebnissen beantworten zu können, führte der Verband ein freiwilliges Datenerfassungssystem (National Outcomes Measurement System, NOMS) mit aggregierten lokalen und nationalen Ergebnisdaten ein.

Amerikanische Studie weist hohen Effekt nach

Der Schlüssel zum NOMS ist die Verwendung der funktionalen Kommunikationsmassnahmen (FCM). Diese wurden entwickelt, um die funktionellen Fähigkeiten im Laufe der Zeit von der Aufnahme bis zur Entlassung aus der Logotherapie oder im Laufe eines Schuljahres zu beschreiben. Das System besteht unter anderem aus einer Skala mit sechs Stufen (FCMs) (von nicht vorhandenen bis erheblichen Schwierigkeiten), die für jeden Therapiebereich speziell formuliert wurden. Die Schwierigkeitsstufen sollten je nach Alter der Kinder erreicht werden können.

Eine Studie beweist die hohe Wirksamkeit

Die von der ASHA durchgeführte Wirkungsstudie basierte auf Daten von 4‘444 Vorschulkindern, die von 2006 bis 2010 logopädische Leistungen erhalten hatten. Die Stufen der funktionalen Fähigkeiten (FCMs) der Vorschulkinder wurden für jeden der folgenden Therapiebereiche speziell definiert: Pragmatische Therapie (kontextabhängige Bedeutung), Artikulation/Phonologie und Verständlichkeit, gesprochenes Sprachverständnis, Produktion gesprochener Sprache, Schlucken.

Sehr hohe Therapieerfolge bei der Integration von sprachauffälligen Kindern

Die ausgewerteten Daten zeigten, dass nach 12 bis 20 Therapiesitzungen bei rund 75% der Vorschulkinder Fortschritte in allen Therapiebereichen von mindestens einer Stufe möglich waren. In einzelnen Therapiebereichen konnten sich 20 bis 50% der Kinder um zwei Stufen verbessern. Eine kurzfristige Therapie half nur einer kleinen Gruppe von Kindern. Kinder mit schwereren Kommunikationsstörungen brauchten eine längere Therapie, um das gleiche funktionelle Kommunikationsniveau für ihre Altersgruppe zu erreichen, als Kinder mit weniger schweren Störungen.

Bei rund 70 Prozent der behandelten Kinder konnten die Sprachauffälligkeiten bei allen funktionalen Fähigkeiten zu 100% behoben werden.

Damit konnte nachgewiesen werden, dass bei rund 70 Prozent der behandelten Kinder die Sprachauffälligkeiten bei allen funktionalen Fähigkeiten zu 100% behoben werden konnten, so dass sie mit den Gleichaltrigen mithalten konnten und keine Therapie mehr benötigten. Bei 30 Prozent konnte immerhin eine Verbesserung erzielt werden. Diese Erfolgsquote wurde auch international bestätigt. Die vielfältigen Ursachen für weniger oder keine Fortschritte reichten von zu wenig Therapiestunden über Verweigerung der Kooperation durch Kinder oder Eltern bis zu Krankheiten.

Mit der Therapie, präventiven Massnahmen (unter anderem Reihenuntersuchungen im Kindergarten) sowie fachlichen Stellungnahmen, Empfehlungen und Unterstützung der Lehrpersonen leistet die Logopädie einen wichtigen Beitrag zur schulischen Integration bei Sprachauffälligkeiten. In der Schweiz wären ohne die logopädischen Therapien die 24 Prozent (Pisa 2018) der bei der Lesekompetenz getesteten Schweizer Schulabgänger unterhalb des minimalen Niveaus 2 vermutlich noch höher ausgefallen.

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Emil_Fr%C3%B6schels

https://de.wikipedia.org/wiki/Logop%C3%A4die

https://www.asha.org/  American Speech-Language-Hearing Association (ASHA)

https://ialpasoc.info/  International Association of Logopedics and Phoniatrics (IALP)

 

 

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Bei der Logopädin https://condorcet.ch/2019/12/bei-der-logopaedin/ https://condorcet.ch/2019/12/bei-der-logopaedin/#comments Thu, 12 Dec 2019 12:25:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=3251

Endlich wieder einmal ein Beitrag aus der Elternperspektive. Condorcet-Autor und Redaktionsmitglied Daniel Goepfert schildert eine persönliche Erfahrung mit der therapeutischen Abteilung.

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Daniel Goepfert, BS, ehem. Grossratspräsident, SP, Gymnasiallehrer und dreifacher Vater

Die Stadt Basel brodelte, als ich meinen jüngeren Sohn um 14:00 Uhr zur Logopädin brachte. Das Gespräch fand in einem grossen, leeren Haus statt, die Stimmung war ein bisschen gespenstisch. Die Logopädin entschuldigte sich, sie sei soeben aus Biel nach Basel gezogen und hätte nicht gewusst, dass dieser Tag mitten in der Fastnacht liege. Ich gestand ihr, dass mir die Überschneidung der beiden Termine nicht nur bewusst gewesen sei, sondern dass sie mir damit einen Gefallen getan habe, weil ich ein Fastnachtsmuffel sei. Nach dieser Begrüssung wandten wir uns dem Problem meines Sohnes zu.

 

Wir schickten unseren Sohn allerdings nicht zur Logopädie, weil wir dachten, die Sache würde sich, wie bei anderen Kindern auch, von alleine auswachsen.

Schon seine Kindergärtnerin hatte meine Frau und mich darauf hingewiesen, dass er den Buchstaben „s“ falsch aussprach. Dasselbe wiederholte sich an der Primarschule. Wir schickten unseren Sohn allerdings nicht zur Logopädie, weil wir dachten, die Sache würde sich, wie bei anderen Kindern auch, von alleine auswachsen. Zudem hatte ich meinen Sohn geradezu zum Lispeln ermutigt, in dem ich sein Anstossen als „herzig“ bezeichnet und es im Gespräch mit ihm sogar imitiert hatte. Das würde ich in Zukunft unterlassen.

Die Primarlehrerin drängte auf eine Therapie

Die Primarlehrerin drängte jedoch auch auf eine Therapie. Ich bekam mit der Zeit den Eindruck, dass sie meine Frau und mich für renitente Eltern hielt, die das Problem ihres Kindes nicht ernst nahmen. Die Tatsache, dass wir beide Lehrkräfte waren, machte die Sache nicht besser. Langsam fürchteten wir, unser Sohn könnte mit der Zeit wirklich unter der Situation leiden, sei es wegen seines Lispelns, sei es wegen der mangelnden Kooperation seiner Eltern mit der Schule. Um das zu vermeiden, stimmten wir der Therapie schliesslich zu.

Gibt es in deiner Familie Probleme?

Nun waren wir also die knarrende Holztreppe hoch gestiegen und sassen zu dritt um einen kleinen, niedrigen Tisch: mein jüngster Sohn, die Logopädin und ich. Meine anderen Kinder und meine Frau vergnügten sich unterdessen an der Fastnacht, deren Dröhnen durch das Turmfenster eindrang. Die ersten Fragen drehten sich um die Personalien meines Sohnes. Dann wandte sich die Logopädin ihm zu und bedeutete mir, ich dürfe gerne im Raum bleiben. Damit sagte sie indirekt, dass ich von nun an zu schweigen habe. Mit den ersten Fragen ergründete sie, ob sich mein Sohn an der Schule wohl fühle, wie es mit dem Verhältnis zu den Lehrkräften bestellt sei und ob er Freunde habe. Dann fragte sie ihn, ob es in seiner Familie Probleme gebe. Ich hielt die Luft an und bewegte die Augen nach oben, was die Logopädin bemerkte. Ich sei sicher erstaunt über diese Frage, meinte sie. Die vorübergehende Redeerlaubnis nutzte ich, um mein Erstaunen zu bestätigen. „Wissen Sie“, so daraufhin die Logopädin, „eine schwere Sprachstörung kann ein Hinweis auf eine familiäre Dysfunktion sein.“ Darauf gab ich mir selbst das Wort und erwiderte, es handle sich beim Problem meines Sohns keineswegs um eine schwere Störung. Das genau kläre sie doch gerade ab, entgegnete die Logopädin, sie gehe aber auch davon aus, dass es nicht schwerwiegend sei.

Befund: Nichts Schwerwiegendes!

Kein schwerwiegendes Problem

Als die Untersuchung fertig war, eröffnete sie mir denn auch, mein Sohn habe kein unüberwindbares Problem. Kurz zusammengefasst könne er den Buchstaben „s“ korrekt aussprechen, tue es aber nicht. Meine Frau und ich müssten ihn einfach jedes Mal korrigieren.

Nun sassen wir zu dritt im leeren Haus und schwiegen uns einen Moment lang an. „Wie soll es weitergehen?“, fragte dann die Logopädin, „schliesslich wurde Ihr Sohn mit Dringlichkeit zu einer Therapie bei uns überwiesen“. „Damit niemand das Gesicht verliert“, schlug ich ihr nach kurzem Überlegen vor, „könnte mein Sohn ja für eine Stunde zu Ihnen kommen und die richtige Aussprache des Buchstabens „s“ üben“. Wir einigten uns darauf.

Noch weitere 29 Stunden für ein “nicht schwerwiegendes Problem”

Tatsächlich bot ihn der Logopädische Dienst nach der einen noch zu weiteren 29 Stunden auf. Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist mir nicht klar, warum so viele Therapiestunden nötig waren. Auf jeden Fall besuchte er sie gerne, weil sich die Therapeutinnen unterhaltsame Spiele ausdachten, zum Beispiel Eishockey mit einem Blasrohr. Heute ist mein Sohn 18 Jahre alt und absolviert das dritte Lehrjahr. Er ist mit dem Leben zufrieden und lispelt kein bisschen.

 

 

 

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