Susanne Zbinden - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 05 Aug 2020 15:42:37 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Susanne Zbinden - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Frühfremdsprachenunterricht und Mehrsprachendidaktik – eine Chronik des Grauens https://condorcet.ch/2020/08/fruehfremdsprachenunterricht-und-mehrsprachendidaktik-eine-chronik-des-grauens/ https://condorcet.ch/2020/08/fruehfremdsprachenunterricht-und-mehrsprachendidaktik-eine-chronik-des-grauens/#respond Wed, 05 Aug 2020 15:08:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=6027

Die Condorcet-Autoren Alain Pichard, Urs Kalberer und Felix Schmutz haben eine Zeitleiste des monumentalen bildungspolitischen Irrtums erstellt. Mit den Baustellen Frühfremsprachenunterricht und Mehrsprachendidaktik wurden Hunderte von Millionen Franken in den Sand gesetzt. Zugeben will es niemand!

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1998   

Die EDK erlässt ein Gesamtsprachenkonzept. Die Empfehlungen werden Thesen genannt. Damit unterstreicht die EDK deren programmatischen und empirisch nicht abgestützten Charakter.

 

2001  

Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER 2001) bildet den Eckpfeiler für die Neukonzipierung des Fremdsprachenunterrichts (was später zur Einführung der Mehrsprachendidkatik führen wird. Stichwort: Passepartout).

2002  

1. PISA-Test 2000. Obwohl die Fremdsprachen gar nicht Teil des Pisa-Tests sind, werden auch sie durch den inszenierten «Pisa-Schock» im Jahr 2000 erfasst. Erschüttert vom angeblichen Beleg für das Ungenügen des hiesigen Schulsystems, sieht man über die Grenzen hinaus und stellt fest, dass in Nachbarländern die Schulkinder viel früher mit Fremdsprachen beginnen. EDK-Erklärung verlangt einen früheren Fremdsprachenunterricht.

2002  

Um die berechtigten Einwände betreffend der fehlenden wissenschaftlichen Legitimation zu «entkräften», bestellt die Zürcher Erziehungsdirektion 2002 ein Gutachten an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Unglaublich, aber wahr: Der Urheber der Expertise ist an Frühfremdsprachenprojekten und der Entwicklung der entsprechenden Lehrmittel persönlich massgeblich beteiligt. Von einem unabhängigen Gutachten kann nicht die Rede sein.

2003  

Der Kanton Zürich zieht Englisch vor und verhindert damit eine Harmonisierung des Fremdsprachenunterrichts.

2004  

Überhastet erfolgt die Verabschiedung des neuen EDK-Sprachenkonzepts, demgemäss die erste Fremdsprache im dritten und die zweite im fünften Schuljahr einzusetzen habe sowie eine davon eine Landessprache sein müsse. Diese Lösung ist ein rein politischer Kompromiss zwischen den Kantonen, die sich nicht einigen konnten, ob zuerst Französisch oder Englisch gelehrt werden sollte. Um die Romandie zu besänftigen, versüsst man das in Zürich und anderswo favorisierte Primat des Englischen mit der Pille der Festlegung der zweiten Fremdsprache auf der Primarstufe.

2004   

Erste Hinweise, dass das frühe schulische Vermitteln einer Fremdsprache keine Wunder wirkt, liefert die spanische Studie. Carmen Muñoz von der Universität Barcelona verglich zwei Gruppen von Schülern: Die eine wurde bereits ab dem 8. Lebensjahr, die andere erst ab dem 11. Lebensjahr in Englisch unterrichtet. Im Alter von 15 testet sie die beiden Gruppen auf ihre Sprachkompetenz. Das Ergebnis ist ernüchternd: Gegenüber denen, die erst später begonnen haben, haben die Frühlerner kaum Vorteile. Lediglich bei der Aussprache schneiden sie etwas besser ab.

2005    

Zwei zeitgleiche Artikel in SPIEGEL und ZEIT bezeichnen die Einführung von Frühenglisch in Deutschland als «Murks» und «Blödsinn».

2006

Der Bildungsartikel wird mit grosser Mehrheit angenommen und verlangt eine weitgehende Harmonisierung der Bildungslandschaft Schweiz.

2006

Sechs Kantone starten das Projekt Passepartout.

2007 

Urs Kalberer vergleicht in seiner Master-Arbeit Schüler, die nach dem neuen Lehrplan bereits in der Primarschule in Frühenglisch unterrichtet wurden, mit solchen, die erst in der Sekundarstufe die Fremdsprache aufnahmen. Fazit: Die frühen Lerner erbringen trotz viel mehr Unterricht keine besseren Leistungen.

2009

15 Kantone nehmen das HarmoS-Konkordat an, 7 lehnen es ab.

Ab 2009

Tausende von Unterstufenlehrerinnen und -lehrer werden mit Kursen zu Französisch- bzw. Englischlehrkräften «gemacht».

2011/12  

Passepartout wird ohne vorherige Erprobungsphase flächendeckend eingeführt. Es gilt als das teuerste Lehrmittel ever und ist eine Einwegmappe aus Plastik für jedes Schuljahr.

2011

An einer Orientierung über Frühfranzösisch fragt eine Schulleiterin den damaligen Erziehungsdirektor Pulver, was denn das Ziel von Frühfranzösisch sei: «Sollen die Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit besser Französisch können oder gleich gut oder will man einfach Frühfranzösisch einführen?» Herr Pulver fragt darauf seinen Zentralsekretär: «Ja, haben wir da eine Zieldefinition?»

An 2011

Beginn der berüchtigten Passepartout-Kurse in den 6 Passepartout-Kantonen.

2012 

Die Berner Zeitung titelt: Frühfranzösisch kommt den Kanton teuer zu stehen. Sie spricht von 40 Mio Franken!

2012

Ohrfeige für Frühfremdsprachler, titelt die Luzerner Zeitung und berichtet von einer Evaluation der Englischkenntnisse von 6. KlässlerInnen. Im Bereich Hören schaffen 53,9 Prozent die Lehrplanziele nicht. Im Lesen sind es gar 65,3 Prozent, die unter den gesetzten Zielen liegen, im Sprechen bleiben 3,2 Prozent unter den Lehrplanzielen und im Schreiben 25,3 Prozent. Dabei handelt es sich wohlverstanden um Minimalanforderungen, die grundsätzlich von allen Schülern erreicht werden sollten.

2014 

An einem Podium vor der Delegiertenversammlung des lvb in Muttenz werden die Passepartout-Vertreter regelrecht vorgeführt. «Das Podium geriet zum Tribunal», titelt die BAZ.

2015 

Die Evalutation Französischunterricht in der Zentralschweiz zeigt erschreckende Resultate. Ein Grossteil der Schüler erreicht die Ziele nicht.

2016

«Unmut der Eltern» titelt die BAZ und berichtet von einer öffentlichen Veranstaltung, in der Regierungsrat Eymann seitens der Eltern heftige Kritik abwehren muss.

Horrende Kosten

2016  

Der Basellandschaftliche Lehrerverein spricht von insgesamt 100 Mio Fr. für die sechs Passepartout-Kantone, die das Frühfranzösisch und Frühenglisch kosten sollen.

2016  

Simone Pfenninger und David Singleton legen ihre erste Studie zu Frühenglisch vor. Sie resümieren: Frühenglisch bringt nichts. Regierungsrat Eymann bezeichnet die preisgekrönte Arbeit als «unwissenschaftlich» und erntet heftige Kritik.

2017 

Die Passepartout-Lehrmittel «Milles Feuilles» sollen überarbeitet werden. Das beschliessen die Bildungsdirektoren der sechs Passepartout-Kantone.

2017 

Mit 62 gegen 60 Stimmen hat das Thurgauer Kantonsparlament am Mittwochmorgen in zweiter Lesung die Verschiebung des Französischunterrichts von der Primar- in die Sekundarschule abgelehnt.

2017  

Luzern lehnt die Initiative ab, welche nur noch eine obligatorische Fremdsprache an der Primarschule fordert.

2017  

Susanne Zbinden weist in einer empirischen Studie der Uni Freiburg über das Verstehen von französischen Texten nach, dass die Passepartout-Lernenden gegenüber den Bonne-Chance-Lernenden massiv im Rückstand seien.

2017

Die Fremdspracheninitiative im Kanton Zürich, welche nur eine Fremdsprache auf der Primarstufe fordert, wird mit 60% der Stimmen abgelehnt.

2017 

Der Kanton Solothurn verzichtet auf Passepartout für die gymnasiale Vorstufe.

2018  

Die Berner Gymnasien streichen die französische Grammatik aus den Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium und führen nur noch mündliche Prüfungen durch.

Schlagzeile in der BAZ. Dieses Lehrmittel ist nicht mehr haltbar

2018

Baselland beschliesst den Austritt aus dem Passepartout-Konkordat.

2018  

Graubünden lehnt eine umstrittene Initiative ab, welche nur noch eine obligatorische Fremdsprache an der Primarschule fordert. Die Initiative wird vorgängig von den Gegnern bis vors Bundesgericht gezogen, dort aber in allen Punkten als rechtmässig beurteilt.

2018  

Das Hearing der Baselbieter Bildungsdirektion zum Französischlehrmittel «Mille Feuilles» ergibt ein vernichtendes Urteil.

2019

Die Ergebnisse der EDK-Tests (ÜGK) zeigen miserable Ergebnisse für die Französischkenntnisse der Passepartout-Kantone (Ausnahme Fribourg).

2019 

Die lange angekündigte Evaluation der Passepartout-Lehrmittel durch das Freiburger Institut für Mehrsprachigkeit liegt vor: Sie stellt dem Lehrmittel ein miserables Zeugnis aus. Die Studie sollte geheim gehalten werden («Die geheime Studie», titelt die Berner Zeitung).

2019 

Die Passepartout-Verantwortlichen verzichten auf eine Evaluation des Oberstufen-Lehrmittels Clin d’Oeil, obwohl diese zugesichert war.

2019

Mit überwältigendem Mehr stimmt der Kanton Baselland für die Lehrmittelfreiheit, was einem Aus für Passepartout gleichkommt.

Pfenningers und Singletons Langzeitstudie liegt nun vor!

2017   

Die Sprachforscherin Frau Dr. Simone Pfenninger und ihr Kollege David Singleton legen ihre Langzeitstudie «Beyon Age Effects in Instructional Learning» vor. Sie zeigt, dass Frühstarter gegenüber Spätstartern keinerlei Vorteile haben und endet mit folgender Feststellung:

 

“Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, stellt sich die Frage des möglichen Gesichtsverlusts; Bildungspolitiker sind nicht bereit, eine Intensivierung des Fremdsprachenunterrichts über kürzere Zeiträume später im schulischen Lehrplan (d.h. in der Sekundarschule) in Betracht zu ziehen, da dies mit ziemlicher Sicherheit als ‘Rückzieher’ und als Eingeständnis des Scheiterns der neuen Bildungsgesetze betrachtet würde”.

 

 2020    

Bern zeigt sich offene für alternative Französischlehrmittel.

Auch Basel-Stadt führt die Lehrmittelfreiheit ein, d.h. die Passepartout-Lehrmittel für Englisch und Französisch werden auf elegante Art und Weise entsorgt.

 

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Das unrühmliche Schicksal von Passepartout https://condorcet.ch/2019/09/das-unruehmliche-schicksal-von-passepartout/ https://condorcet.ch/2019/09/das-unruehmliche-schicksal-von-passepartout/#comments Tue, 17 Sep 2019 04:58:58 +0000 https://condorcet.ch/?p=2228

Condorcet-Autor Felix Schmutz beschreibt in seinem Beitrag wohl das nahende Ende eines der düsterten Kapitels "neureformerischer" Irrläufer, das Passepartout-Konzept.

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Felix Schmutz, BL

Geringes Medienecho zum Abschluss

Mit überraschend geringem Medienecho endete das sechskantonale Fremdsprachenprojekt Passepartout, mit dem ganz neue Unterrichtskonzepte samt den dazu entwickelten Lehrmitteln Mille feuilles, Clin d’oeil und New World obligatorisch implementiert wurden. Der Abschlussbericht des Projektleiters Reto Furter[1] fand ebenso wenig Beachtung wie die umfangreiche und lang angekündigte Evaluation des IfM (Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg) von 2019[2].

Wieso diese Zurückhaltung? Furter schreibt dazu im Abschlussbericht:

Im Frühling 2018 beschloss die Steuergruppe, keine gemeinsame Medienkonferenz zum Abschluss des Projekts durchzuführen. Es sei zu exponiert, zu stark in der Kritik, um öffentlich eine positive Bilanz zu ziehen. Zudem liegen die Ergebnisse im Rahmen der ÜGK (der EDK) nicht wie geplant bereits im Juni vor. Eine Verschiebung zu kommunizieren wäre Wasser auf die Mühlen der kritischen Medien giessen. (Furter, S. 26)

Kritische Stimmen wurden stets auf die Evaluation vertröstet. Die Verantwortlichen nahmen an, dass damit der Erfolg der neuen Methode und die Tauglichkeit der Lehrmittel bewiesen und alle Befürchtungen der Unzufriedenen beseitigt werden könnten. Blind vertrauten sie darauf, mit dem neuen Unterrichtskonzept markante Verbesserungen zu erzielen. In einem ersten Schritt wurden deshalb 2017 die Kenntnisse nach vier Jahren Primarschulunterricht in Französisch evaluiert, und zwar in Kombination mit der EDK-Überprüfung der Grundkompetenzen in der ersten Fremdsprache (ÜGK).

Während die Ergebnisse des EDK-Tests im Mai 2019 ausführlich kommuniziert wurden, blieb es um die gleichzeitig veröffentlichten, ergänzenden Resultate der IfM-Studie auffällig still. Die Passepartout-Steuergruppe beschloss sogar im Juni 2019 endgültig, die Evaluation der Sekundarstufe, deren Ergebnisse für 2021 angekündigt waren, gar nicht mehr durchführen zu lassen. Man begnüge sich mit der dann fälligen Überprüfung der gesamtschweizerischen Grundkompetenzen der EDK, ohne die Passepartout-Didaktik und das Lehrmittel Clin d’oeil speziell zu untersuchen.

Der Glaube an die Wirksamkeit ist ins Wanken geraten

Der Verdacht liegt nahe, dass der kleinlaute Umgang mit der Evaluation und der Verzicht auf weitere IfM-Studien ein Zeichen dafür sind, dass der tiefe Glaube an die Wirksamkeit der «neuen Didaktik» doch etwas ins Wanken geraten ist. Offen zugeben kann man das noch nicht, es gilt, das Gesicht zu wahren, besonders auch wegen des vielen Geldes, das man in das Projekt gesteckt hat.

Ergebnisse stellen das Unterrichtskonzept in Frage

Warum wurde nun aber der Bericht zur Evaluation des IfM nicht breiter bekannt gemacht? Zu lesen war lediglich von den Ergebnissen der EDK-Überprüfung der Grundkompetenzen, denn das war die gute Nachricht: 62% schafften die Grundkompetenz A1.2 im Lese-, 88% im Hörverstehen. Für die Passepartout-Kantone galt allerdings als Grundanforderung nach 4 Jahren Französisch das Niveau  A2.1. Dort sah es nicht mehr so rosig aus: Nur 33% schafften das Leseverstehen und 57% das Hörverstehen. Richtig niederschmetternd waren hingegen die nur vom IfM geprüften Sprechkompetenzen: Ganze 42,5 % schafften das Niveau A1.2 und gar nur 11 % das von Passepartout anvisierte Niveau A2.1.

Eine gigantische Materialschlacht die jedes Jahr im Müll landet!

Eine Didaktik, die sich dezidiert der Förderung der Kommunikation und den Strategien des Leseverstehens verschrieben hat, ist als gescheitert anzusehen, wenn sie nach 4 Jahren Unterricht mit einem derart bescheidenen Resultat aufwarten muss.

Das IfM, das streng die Fragen klärte, die von der Projektleitung gestellt wurden, rührt noch an einem weiteren Credo der neuen Didaktik, der «Sprachbewusstheit», mit anderen Worten: am Kern der Mehrsprachigkeitstheorie, der besagt, dass «Die Sprachen … nicht mehr isoliert gelernt [werden]. Es werden Bezüge zwischen Deutsch, Französisch und Englisch hergestellt, damit die Kinder von bereits Gelerntem profitieren und schon erworbene Lernstrategien anwenden können.»[3]. Dazu das IfM:

Wichtig ist jedoch zu sagen, dass der Zusammenhang zwischen der Arbeit an der Sprachbewusstheit und dem Aufbau der kommunikativen Sprachkompetenzen ungeklärt ist, d.h. dass mehr Arbeit an der Sprachbewusstheit sicherlich ein spezifisches Ziel für sich sein kann, dass sie aber nicht zwingend zu besseren rezeptiven und/oder produktiven Sprachkompetenzen führt.[4]

Damit weist das IfM auf das Problem hin, wie deklaratives (theoretisches) Sprachwissen in prozedurales (automatisch abrufbares) Sprachwissen überführt werden kann. Empirisch wurde nachgewiesen, dass dies nur mit grossem Übungsaufwand möglich ist.

Das IfM untersuchte per Fragebogen auch Motivation und Interesse an Französisch. Die Ergebnisse sind wiederum enttäuschend:

Ein Vergleich der Motivation zum Lernen der ersten Fremdsprache auf Basis der Schülerfragebogenitems über die Sprachregionen hinweg zeigt deutlich, dass die Motivation zum Französischlernen im Passepartout-Raum generell eher tief ist. Der Umstand, dass nur knapp die Hälfte der Schüler/innen die Themen und Texte bzw. die Aufgaben (tâches) im Lehrmittel (eher) interessant findet, kann durchaus eine Rolle für die Motivation spielen.

Zudem findet nur ca. die Hälfte der Schüler/innen den Französischunterricht interessant. [5]

Damit stellt das IfM das didaktische Konzept von Passepartout in drei zentralen Punkten in Frage:

  1. Leseverstehen und vor allem Sprechen werden mit dieser Didaktik zu wenig gefördert.
  2. Die Betonung von Sprachvergleichen und das gleichzeitige Lernen mehrerer Sprachen fördert die Kommunikationskompetenz nicht.
  3. Der Fokus auf Inhalte und Sprachverwendung wirkt sich auf die Motivation der Lernenden nicht förderlich aus.

Grundsätzliche Kritik zu wenig ernst genommen

Ob diese Feststellungen bei den Verantwortlichen gehört werden, ist aber fraglich. Der Umgang mit Kritik scheint ein Kernproblem des Passepartout-Projektes zu sein. Es gilt dabei zu unterscheiden zwischen grundsätzlichen Zweifeln am neuen Konzept und den in der Praxis festgestellten Mängeln der Lehrmittel:

Der Umgang mit Kritik scheint ein Kernproblem des Passepartout-Projektes zu sein.

Auf Letztere wurde zeitnah reagiert, indem Zusatzressourcen geschaffen wurden, die zum Teil noch immer in Arbeit sind: Differenzierungshilfen für Lernschwächere, Alltagswortschatz, Wörterbücher, Grammatik zum Nachschlagen, zusätzliche Übungsmaterialien, Umsetzungshilfen, On-Line-Angebote, Überarbeitung der Bände 5 und 6 von Mille feuilles, etc.

Clin d’oeil Schülerbox, Kostenpunkt: 35 CHF

Hingegen zeigten die Verantwortlichen keinerlei Musikgehör gegenüber der Kritik an der neuen Didaktik. Die theoretischen Grundlagen der Lehrmittel gelten bis heute als sakrosankt und unfehlbar, als stünden diese in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den Mängeln der Lehrmittel und den nun offenkundig enttäuschenden Ergebnissen der Evaluation. Da man die Projektverantwortlichen als intelligente Menschen ernst nehmen möchte, erstaunt es doch sehr, dass sie sich nicht selbst die Frage stellen, ob die «neue Didaktik» nicht zumindest teilweise für die Beanstandungen an den Lehrmitteln mitverantwortlich sein könnte.

Auch wissenschaftliche Beiträge, die das Konzept seit 2016 in Zweifel zogen, werden in Furters Bericht schlicht übergangen. So die Clearing-House-Studie zur Frage, wie sich das Lernen mehrerer Fremdsprachen im Primarschulalter unter definierten Bedingungen auswirkt[6], die Untersuchung von Simone Pfenninger zum Nutzen des Frühenglischen[7] oder die Masterarbeit von Susanne Zbinden, die in einer mit summa cum laude bewerteten Vergleichsstudie zwischen Passepartout und dem Vorgängerlehrmittel Bonne Chance das signifikant schlechtere Abschneiden der Lernenden mit dem neuen Französischlehrmittel offenlegte und bereits die Empfehlungen abgab, welche die IfM-Evaluation zum Teil auch aufgegriffen hat:

  • Wortschatz- und Grammatikkenntnisse sind entscheidend fürs Leseverständnis
  • Strategien sind vor dem Niveau C1 wirkungslos für das Leseverständnis
  • Authentische Texte sind als didaktischer Einstieg nicht geeignet [8]

Theorie bestimmt Praxis oder «It’s the didactics, stupid!»

Die Passepartout-Verantwortlichen schienen nicht zu bemerken, dass mit den Zusatzmaterialien bereits tüchtig an der «reinen Lehre» gekratzt wurde:

  • Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten benötigen für die Konsolidierung mehr Bearbeitungszeit, mehr Lernzeit, mehr Übung und mehr Wiederholung;
  • Die Lernenden sind auf eine gute Vorentlastung angewiesen. Es fehlt oftmals das Vorwissen für die Themen bzw. Inputs in den Lehrmitteln. Deshalb werden für die Texterschliessung zusätzliche Lernaufgaben zur Verfügung gestellt;
  • Für das Verstehen der Aufträge in den «activités» brauchen die Lernenden Sprachunterstützung und eine Verringerung des Abstraktionsgrads, damit sie autonomer arbeiten können;
  • Für die Sprechanlässe werden zusätzliche Sprachmittel zur Verfügung gestellt;
  • Für die Schreibaufträge werden zusätzliche Strukturierungshilfen angeboten. (Furter, S.14/15)

 Dies sind didaktisch-methodische Prinzipien, die jeder Lehrperson, unabhängig vom Fach, als professionelle Verfahren geläufig sind. Passepartout tat mit diesen Korrekturen nichts anderes, als die neuen Lehrmittel schrittweise den bewährten alten anzunähern.

Warum haben die Autoren diese selbstverständlichen Grundsätze nicht von Anfang an berücksichtigt? Ganz einfach, weil sie im Widerspruch zu den Theorien der neuen Didaktik standen. So sollte «der Hauptakzent auf der kommunikativen Handlungsfähigkeit» liegen. «Entscheidend ist, dass die Kommunikation funktioniert und gelingt». «In Zukunft sollte der Unterricht stark anwendungs- und inhaltorientiert sein.» «Sinnvolle und motivierende Aufgaben sind der Motor des Lernens und dienen dem Kompetenzaufbau.» (Furter, S. 5)

Diese Aussagen spiegeln deutlich die konstruktivistische Hypothese, dass sich der Spracherwerb autogenetisch und ohne die bewährten didaktischen Hilfestellungen einstellen werde. Die neue Didaktik propagierte den Spracherwerb zunächst idealistisch als Selbstläufer.

Grammatik wurde als Popanz aufgebaut

Verhängnisvoll wirkte sich dabei aus, dass die «funktionale Mehrsprachigkeit» von Anfang an Mühe im Umgang mit der Grammatik und dem Wortschatz bekundete. Grammatik wurde als Popanz aufgebaut. Neu sollten «Grammatik, Wortschatz und Orthografie … kein Selbstzweck [sein], sondern Mittel zur Bewältigung sprachlicher Herausforderungen. Sie … ergeben sich aus den Aufgaben und sprachlichen Aktivitäten.»[9] Das heisst, ein systematischer Aufbau der sprachlichen Mittel ist nicht vorgesehen. Stattdessen werden bei jeder Aufgabe die jeweils benötigten Wörter und Strukturen als Liste angeboten, aus der sich die Lernenden ihr Sprachhandeln ad hoc zusammenstellen. Diese eklektische Methode ist allerdings lerntechnisch viel zu anspruchsvoll unter den zeitlich begrenzten, schulischen Bedingungen.

Die in ideologischem Eifer geschmähte «Korrektheit» ist in Wahrheit konstituierend für das Gelingen der Kommunikation.

Bei der Arbeit an Themen, die nach Furter «interessant, wichtig und bedeutsam sind», und für «sinnvolle und motivierende Aufgaben»[10] braucht es sehr schnell einen entsprechend elaborierten Sprachcode, der sich nicht einfach nebenbei ergibt. Sprache ist ein komplexes symbolisches Zeichensystem mit interner Struktur. Diese Struktur ist bedeutungstragend, historisch gewachsen und konventionell vereinbart. Struktur und Kommunikation sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Deshalb ist ein systematischer Aufbau der Sprachmittel aus lerntechnischen Gründen ebenso notwendig wie die Anwendung in kommunikativen Situationen, wenn die Sprachkompetenz transferierbar und ausbaufähig sein soll. Die in ideologischem Eifer geschmähte «Korrektheit» ist in Wahrheit konstituierend für das Gelingen der Kommunikation.

Diese weiteren Beispiele von Grundwidersprüchen (Didaktisierung der Kurse und Umgang mit sprachlichen Mitteln) zeigen zusammen mit den vorher genannten, warum die Lehrmittel von Anfang an nicht praxistauglich waren. Die verfehlte Theorie stand dem didaktisch Notwendigen im Weg. Oder in Abwandlung des Spruches von Bill Clinton an seinen Vorgänger: It’s the didactics, stupid!

Gescheitert sind nicht die Lehrkräfte, gescheitert sind FachhochschuldozentInnen

Gescheitert sind nicht die Primarschullehrkräfte, die sich ohne fachliche Ausbildung in die Vorbereitung stürzten und viele Stunden Weiterbildung auf sich nahmen. Gescheitert sind nicht die Autorinnen und Autoren, die nach den Vorgaben Lehrmittel ausbrüteten, die jetzt nicht genügen, sondern die Fachhochschuldozentinnen und  -dozenten, die Konzepte entwickelten, die von der internationalen Spracherwerbsforschung längst widerlegt oder relativiert wurden, die empirisch nicht abgesichert sind oder auf Fehlinterpretationen der Hirnforschung beruhen.[11] Auf Reto Furters Einsicht in diese Zusammenhänge muss man aber noch lange warten, liest man sein Kapitel mit dem Ausblick, was bei künftigen Projekten besser zu machen wäre und wie man die neue Didaktik noch radikaler und effizienter gegen renitente Ungläubige an der Sekundarstufe durchstieren solle.

 

Zitierte Literatur:

Reto Furter (2018): Abschlussbericht zum Projekt Passepartout, Freiburg, August 2018
https://nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/Passepartout%20Schlussbericht_2019.pdf

Eva Wiedenkeller, Peter Lenz (2019): Schlussbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘ durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone
https://www.nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/upload/190513_Passepartout-Evaluation_Schlussbericht_def.pdf

Eva Wiedenkeller, Peter Lenz (2019): Kurzbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘
https://www.nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/upload/190513_Passepartout-Evaluation_Kurzbericht_def.pdf

Dyssegaard, C.B., Egeberg, J. de H., Sommersel, H.B., Steenberg, K., & Vestergaard,  (2015) A systematic review of the impact of multiple language teaching, prior language experience and acquisition order on student’s language proficiency in primary and secondary school. Copenhagen: Danish Clearinghouse for Educational Research, Department of Education, Aarhus University

Simone E. Pfenninger (2014): The literacy factor in the optimal age discussion:
a five-year longitudinal study, International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, DOI: 10.1080/13670050.2014.972334

Susanne Zbinden (2017): Leseverstehen mit altem und neuem Lehrmittel im Vergleich: Eine empirische Studie über das Verstehen von französischen Texten auf der Sekundarstufe 1, Masterarbeit, Universität Freiburg (CH).

Rod Ellis, Understanding Second Language Acquisition, Second Edition, Oxford 2015, Kindle-Edition

 

[1] Reto Furter (2018): Abschlussbericht zum Projekt Passepartout, Freiburg, August 2018
https://nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/Passepartout%20Schlussbericht_2019.pdf

[2] Eva Wiedenkeller, Peter Lenz (2019): Schlussbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘ durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone
https://www.nwedk.ch/sites/nwedk.d-edk.ch/files/upload/190513_Passepartout-Evaluation_Schlussbericht_def.pdf

[3] Furter, S. 5

[4] Evaluation IfM, S. 52

[5] Evaluation IfM, S. 91

[6] Dyssegaard, C.B., Egeberg, J. de H., Sommersel, H.B., Steenberg, K., & Vestergaard, S. be cited as (2015)  A systematic review of the impact of multiple language teaching,  prior language experience and acquisition order on student’s language proficiency in primary and secondary school. Copenhagen: Danish Clearinghouse for Educational Research, Department of Education, Aarhus University

[7] Simone E. Pfenninger (2014): The literacy factor in the optimal age discussion: a five-year longitudinal study, International Journal of Bilingual Education and Bilingualism, DOI: 10.1080/13670050.2014.972334

[8] Susanne Zbinden (2017): Leseverstehen mit altem und neuem Lehrmittel im Vergleich: Eine empirische Studie über das Verstehen von französischen Texten auf der Sekundarstufe 1, Masterarbeit, Universität Freiburg (CH).

[9] Furter, S. 5

[10] ebd.

[11] Dazu Rod Ellis (2015) Understanding Second Language Acquisition, der alle Theorien und die empirische Forschung dazu unter die Lupe nimmt.

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