Sprachförderung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 13 Nov 2022 10:46:17 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Sprachförderung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 „Das holen die Kinder nie wieder auf“ https://condorcet.ch/2022/11/das-holen-die-kinder-nie-wieder-auf/ https://condorcet.ch/2022/11/das-holen-die-kinder-nie-wieder-auf/#comments Fri, 11 Nov 2022 20:46:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=12259

Olaf Köller ist einer der Promotoren der Kompetenzorientierung. Er wurde in diesem Blog wegen seiner Haltung auch kritisiert. In diesem Interview weist er aber schonunglsos auf die sinkenden Leistungen der deutschen Grundschulschüler hin. Die Frage ist allerdings, wie viel die von ihm unterstützten Bildungsreformen zu dieser fatalen Entwicklung beigetragen haben.

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Sabine Menkens, Politik-Redakteurin der WELT.

Ob Lesen, Schreiben oder Rechnen: Nichts weniger als eine „Katastrophe“ stellt Bildungsforscher Olaf Köller im Schulsystem fest – die auch mit einer stark veränderten Schülerschaft zu tun habe. Das Bildungssystem habe sich auf das Niveau von Pisa 2000 zurückentwickelt.

WELT: Der IQB-Bildungstrend ruft derzeit eine ähnliche Schockwelle hervor wie vor gut 20 Jahren Pisa. Ein Fünftel der Kinder erreicht nicht einmal den Mindeststandard in Lesen oder Mathematik, der Trend zeigt immer weiter abwärts. Wie bewerten Sie das, Herr Köller?

Olaf Köller: Die Entwicklung ist in der Tat dramatisch. Wir haben in den letzten zehn Jahren einen solchen Rückschritt im Bildungssystem erlebt, dass wir im Grunde wieder auf dem Niveau von Pisa 2000 angekommen sind. Wir haben große Gruppen von Risikokindern, die weder lesen noch schreiben noch rechnen können. Und das lässt sich nicht allein mit der Pandemie erklären. Der Trend war schon zuvor rückläufig.

Olaf Köller ist Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Das unabhängige Gremium aus Bildungsforschern berät die Bundesländer bei der Weiterentwicklung des Bildungswesens.

WELT: Welche Gründe sind aus Ihrer Sicht ausschlaggebend dafür?

Köller: Die Schülerschaft hat sich stark verändert. Wir haben eine deutliche Zunahme der Schüler mit Migrationshintergrund, darunter auch viele Flüchtlinge. Und dem System ist es in den letzten zehn Jahren offensichtlich nicht gelungen, darauf mit den entsprechenden Förderprogrammen zu antworten. Vor allem die in erster Generation eingewanderten Kinder sind weit abgehängt. Und auch die Leistungsstarken erreichen nicht mehr das Niveau wie vor zehn Jahren.

Neben den volkswirtschaftlichen Folgen hat es vor allem Folgen für den Ausbildungsmarkt.

WELT: Bildungsökonomen haben vorgerechnet, dass Lernrückstände in dem Ausmaß, wie wir sie jetzt beobachten, zu echten Einbußen beim Lebenseinkommen des Einzelnen und dem Wirtschaftswachstum insgesamt führen. Welche Folgen hat das für den Standort Deutschland?

Viele kommen nicht mehr in die Ausbildung.

Köller: Neben den volkswirtschaftlichen Folgen hat es vor allem Folgen für den Ausbildungsmarkt. Wir beobachten schon seit Langem, dass wir viele junge Leute nicht in die Ausbildung bekommen. Sie verfügen über so geringe schulische Kompetenzen, dass die Betriebe sie nicht einstellen können. Und der Wohlfahrtsstaat muss dann für ihre Alimentierung aufkommen.

WELT: Sie sehen also eine echte Katastrophe auf uns zukommen…

Köller: Vor allem eine Katastrophe, die in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch nicht den Platz einnimmt, den sie verdient. In den multiplen Krisen, in denen wir stecken, geht die Bildungskrise leider unter. Dabei führt die Entwicklung dazu, dass wir noch Jahrzehnte erhebliche Probleme haben werden.

WELT: Wie hätte man denn sinnvollerweise rechtzeitig gegensteuern müssen?

Köller: Wir wissen ja um die Risikogruppen. Das sind häufig Kinder mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache nicht ausreichend lernen, oder auch deutsche Kinder, die sozial und kulturell besonders benachteiligt sind. Wir wissen auch, in welchen Kitas und Schulen diese Kinder sich sammeln. Man hätte frühzeitig mit Förderprogrammen an den Start gehen können, die man auf diese Schulen und Kitas konzentriert.

Wir wissen ja um die Risikogruppen. Das sind häufig Kinder mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache nicht ausreichend lernen, oder auch deutsche Kinder, die sozial und kulturell besonders benachteiligt sind.

WELT: Was halten Sie von dem „Startchancen“-Programm zur Förderung von 4000 Brennpunktschulen, das die Bundesregierung auflegen will?

Köller: Die Idee finde ich nicht schlecht. Es ist aber wichtig, frühzeitig die genauen Ziele festzulegen. Denn nur weil das Schulgebäude saniert ist, lernen die Kinder nicht automatisch besser Deutsch und Mathe. Wir brauchen hier eine klare Ex-ante-Evaluation, was erreicht werden soll und wie die Mittel sinnvoll eingesetzt werden.

WELT: Grundschullehrer beklagen, dass vielen Kindern schon bei der Einschulung wichtige Fähigkeiten fehlten – von der Sprache über mathematische Vorkenntnisse bis zur Feinmotorik. Legen wir zu wenig Wert auf frühkindliche Bildung?

Köller: Wir haben immer noch in zu wenigen Einrichtungen das Bewusstsein, dass die Kita neben dem Betreuungs- und Erziehungsauftrag auch einen Bildungsauftrag hat. Das bedeutet, vor allem für benachteiligte Kinder gezielte Förderangebote zu machen. Sie liegen gegenüber privilegierten Kindern in der Entwicklung schon bei der Einschulung um bis zu zwei Jahre zurück. Das holen sie nie wieder auf.

WELT: Der IQB-Schock hat jetzt dazu geführt, dass sogar über die Einführung einer Kita-Pflicht gesprochen wird. Sind Sie dafür?

Uns fehlt das Bewusstsein, wie wichtig die Kitas sind.

Köller: Teilweise gibt es Ähnliches schon. In Berlin etwa müssen Kinder, die bei der Sprachstandserhebung auffällig werden, in die Sprachförderung, etwa in einer Kita. Die Pflicht ist aber das eine, die Umsetzung das andere. Laut Statistik kommt nur ein Drittel der Kinder mit negativer Diagnose auch in den Förderangeboten an. Wenn man solche Dinge einführt, muss man aber auch sicherstellen, dass sie eingehalten werden – notfalls mit Bußgeldern. Es mangelt an der Durchsetzungskraft. Aber natürlich auch an qualifiziertem Personal.

WELT: Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz, der Sie vorsitzen, beschäftigt sich damit, wie Unterricht in der Grundschule aussehen muss, um alle Kinder bestmöglich zu fördern und fordern. Nämlich wie?

Köller: Wir werden Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres unser Gutachten dazu vorstellen. Den Viertklässlern, über die wir jetzt reden, mangelt es ja an ganz basalen Kompetenzen. Dazu gehören zum Beispiel das flüssige Lesen und das Verständnis für den Satzzusammenhang. Mit diesen Kindern muss man erst mal üben, die Wörter, die sie sehen, zu dekodieren. Erst wenn sie flüssig lesen können, ist ein normaler Unterricht überhaupt möglich. Genauso in der Mathematik: Hier geht es um ganz basale Rechenfertigkeiten und ein Zahlenverständnis, Dinge, die man eigentlich in den ersten beiden Klassen lernt. Das muss man gezielt mit ihnen üben.

WELT: Wird an unseren Schulen insgesamt zu wenig Wert auf Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen gelegt?

Köller: Wir akzeptieren noch zu wenig, dass man sich in solchen Fällen nicht mehr an den Lehrplänen orientieren kann. Diese Kinder brauchen zusätzliche Angebote, um aus der Misere rauszukommen. Es reicht nicht aus, sie nur im Regelunterricht zu unterstützen.

WELT: Hat die Grundschule als Gemeinschaftsschule für alle noch Bestand? Oder braucht es schon am Anfang mehr Differenzierung nach Leistungsstand?

Bei der Schuldzuweisung an der Misere sind es oft die Kinder, die Eltern oder die Umstände. Es wird zu selten gefragt, was in den Kollegien selbst getan werden kann. Immer nur zu sagen: „Wir würden ja gern, aber es geht nicht“ ist zu wenig.

Köller: Wir werden die Grundschule in ihrem Grundgefüge nicht ändern. Aber man braucht auf jeden Fall kluge Ideen der Binnendifferenzierung. Mit zunehmenden Ganztagsangeboten brauchen wir in jedem Fall passende Angebote sowohl für die leistungsschwachen als auch für die leistungsstarken Schüler, um allen Kindern gerecht zu werden.

WELT: Welche Rolle spielt die Lehrerpersönlichkeit?

Köller: Natürlich spielt Professionalität eine Rolle. Vor allem aber muss ein Kollegium insgesamt bereit sein, an der Weiterentwicklung des eigenen Handelns zu arbeiten. Bei der Schuldzuweisung an der Misere sind es oft die Kinder, die Eltern oder die Umstände. Es wird zu selten gefragt, was in den Kollegien selbst getan werden kann. Immer nur zu sagen: „Wir würden ja gern, aber es geht nicht“ ist zu wenig.

WELT: Was muss sich an der Lehrerausbildung ändern, damit die geeignetsten Menschen Lehrer werden?

Köller: Beim derzeitigen Lehrermangel brauchen wir über Zulassungsbeschränkungen an Unis gar nicht nachzudenken. Aber wir haben bei der Qualität der Ausbildung noch durchaus Luft nach oben. Die Studenten werden viel zu wenig auf den Umgang mit der extremen Heterogenität der Schülerschaft vorbereitet. Wir gehen immer noch von einer Schule aus, wie sie vielleicht vor 30 oder 40 Jahren existiert hat. Auch Fortbildungen finden oft nicht strategisch statt. Es ist letztlich den Interessen und Hobbys der Lehrkräfte überlassen, welche Fortbildungen sie besuchen.

WELT: Ist den Kultusministern bewusst, wie hoch der Handlungsdruck ist?

Köller: Das Bewusstsein ist da. Aber es gibt angesichts der vielen Krisen natürlich einen enormen Verteilungskampf um die Ressourcen. Meine Befürchtung ist, dass die Bildung den Kürzeren zieht. Das wäre allerdings ein fataler Fehler. Die Bildungskrise hat immense Langfristfolgen auch finanzieller Natur. Jeder Euro, den wir hier nicht investieren, fehlt uns in den nächsten 20 Jahren um ein Vielfaches beim Bruttoinlandsprodukt.

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Sarah soll verstehen https://condorcet.ch/2022/02/sarah-soll-verstehen/ https://condorcet.ch/2022/02/sarah-soll-verstehen/#respond Tue, 15 Feb 2022 10:43:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=10558

Frühförderung scheint von rechts bis links ein valables Mittel zu sein, um den Spracherwerb in einer der Landessprachen zu forcieren und dabei unterschiedliche Startchancen zu verhindern. Wie aber gestaltet man eine Sprachförderung wirksam? Der NZZ-Autor Giorgio Scherrer besuchte eine KITA und machte eine Bestandsaufnahme. Wir schalten diese qualitativ hochstehende Reportage gerne für unsere Leserinnen und Leser auf.

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Sarah* mag Nastücher. Sie faltet sie genüsslich auf, wirft die gebrauchten schwungvoll in den Abfall und beschwert sich lautstark, wenn es keine mehr hat. Jetzt drückt sie sich gerade zwei über das Gesicht, springt auf und schnäuzt sie bei der Landung voll. Es ist ein Gaudi. «Sarah, wie viele Nastücher hast du denn da?», fragt Carolin Deiner. «Zwei!», ruft Sarah fröhlich, und beide lachen.
Eine ganz normale Szene in einer ganz normalen Kita in ZürichAltstetten? Nicht ganz. Denn Carolin Deiner, die an diesem Morgen mit Sarah spielt, ist keine normale KitaFachfrau, sondern eine Spezialistin für Deutschförderung bei Kleinkindern. Und Sarah drei Jahre alt, zwei Muttersprachen, keine davon Deutsch hätte noch vor wenigen Monaten weder Deiners Frage verstanden noch ihr so antworten können. «Sie hat heute Worte aufgegriffen, neue verstanden», wird Deiner nach der Spielstunde mit Sarah sagen.
«Das war ein erfolgreicher Besuch.»

Bei der Sprachförderung ist Rollenspiel angezeigt.

Lernen mit Spielzeugfischen
Sarah erhält alle zwei Wochen eine Stunde lang Deutschförderung von Carolin Deiner, dazwischen arbeiten die KitaAngestellten mit ihr. Das Ziel: Sarah soll aufholen. Kinder in ihrem Alter können normalerweise klar sagen, was sie wollen. Ohne Hilfe ein Rollenspiel machen, Verkäuferlis zum Beispiel. Sarah kann das auf Deutsch noch nicht. Bis sie in den Kindergarten kommt, soll sie gleich weit sein wie die anderen. Damit sie ihre Schulkarriere nicht schon mit einem Rückstand beginnt.
Doch wie bringt man einer Dreijährigen überhaupt Deutsch bei? Zum Beispiel so: Sarah inszeniert gerade die Schlachtung eines Spielzeugfischs und kommentiert in ihrer Muttersprache Englisch. Carolin Deiner spielt mit.

Sarah: «Bye, fish!»

Deiner: «Tschüss, Fisch!»

«Bye, fish!» «Tschüss, Fisch!» «. . .Tschüss!»

Der Fisch wird getötet und zubereitet.

Sarah: «Yummy!»

Deiner: «So fein!»

«Yummy!»

«So fein!»

«. . . Yummy!»


Im Spiel die deutschen Wörter hören, durch Wiederholung die richtigen Ausdrücke lernen und sie am Ende idealerweise selbst anwenden: So funktioniert Deutschunterricht in Zürcher Kitas. «Ich zwinge ihr nichts auf, gehe auf ihre Interessen ein, fordere sie aber auch heraus», sagt Carolin Deiner. Etwa mit neuen Wörtern oder offenen Fragen.

«Was isst der Fisch?»

«Yummy!»

«Was isst er?»

«Yummy!»

«Was isst er?»

«Ässe Brot.»

Die Sprachförderung hat ihr einen guten Schubs gegeben, um sich hier noch wohler zu fühlen.

Sarah lacht schallend. Spass scheint sie also zu haben. Aber hat sie auch wirklich etwas gelernt? Ja, findet man in Sarahs Kita. Anfangs sei sie zurückhaltend und schüchtern gewesen, erzählt ihre Betreuerin Cristina Chirica. Bei Konflikten habe Sarah schnell nachgegeben. «Die Sprachförderung hat ihr einen guten Schubs gegeben, um sich hier noch wohler zu fühlen.» Wenn sie etwas nicht hergeben möchte, schreit sie nun: «Nei!» Wenn sie etwas nicht versteht, fragt sie: «Hä?» Und sie hat eine beste Freundin gefunden, die ihr kürzlich das Wort «Eisenbahn» beibrachte.

Die Stadt Zürich setzt voll auf die Deutschförderung in Kitas. In den vergangenen sechs Schuljahren hat sie ihr Programm dazu stetig ausgebaut. Eine externe Evaluation stellte der Deutschförderung ein gutes Zeugnis aus. 428 Kinder in 134 Kitas sind zurzeit Teil davon. Und es sollen noch mehr werden. Bis 2025 sollen 14 Prozent der Kinder im Vorschulalter mitmachen, also etwa doppelt so viele wie jetzt. Die Kosten belaufen sich auf 1,7 Millionen Franken jährlich. Bis 2025 sollen es 2,9 Millionen sein.

Das Programm «Gut vorbereitet in den Kindergarten» funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Ein Kind mit Deutschdefizit kommt in eine reguläre Kita. Dort erhält es regelmässig Förderstunden, bezahlt von der Stadt und durchgeführt von der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Die KitaAngestellten schauen dabei zu und lernen auf diese Weise, wie sie die Techniken der Expertin selbst anwenden können. So auch bei Sarah. Ihre Betreuerin Cristina Chirica schaut der Förderstunde auf einem kleinen Kinderstuhl sitzend zu, mit Notizpapier und Stift in der Hand.

«Grüezi, ich hätte gern ein Brot.»

«Da is kei Brot.»

«Was denn? Ein Fisch?»

«Nei, kei Fisch.»

«Gibt’s gar nichts?»

«No.»

«Nein?»

«Nobody, no Brot.»


Diesen Dialog bespricht Chirica später im Coaching, das auf jede Förderstunde folgt. Sarah gibt mehrmals auf Deutsch Antwort, das ist ein Fortschritt. Doch die Vermischung mit englischen Wörtern ist ein Problem. Beide Sprachen gut zu sprechen, aber zwischen ihnen unterscheiden zu können, ist ein zentrales Ziel der Förderung.
Deshalb spricht Cristina Chirica möglichst kein Englisch mit Sarah, sondern redet mit Händen und Mimik, wenn Sarah sie nicht versteht. «Sie hat die Ideen, aber keine deutschen Wörter dafür», sagt Chirica. «Die versuchen wir ihr zu geben.»

«Let’s go!»

«Los geht’s!»

«Let’s go!»

«Los geht’s!»

«. . . Bauzoooo!»

Manchmal weiss auch die Förderexpertin Deiner nicht, was ihr Schützling da gerade zu sagen versucht. «Aber man darf ihr nicht zeigen, dass man sie nicht versteht.» Sonst zieht sich Sarah zurück, probiert nichts mehr aus. Dabei ist genau das ausprobieren, scheitern, neu versuchen der Kern des Lernens, bei jeder Sprache.

Nicht weniger als drei Sprachen prägen Sarahs Alltag: Englisch, Französisch und Deutsch. Sie ist damit kein Einzelfall. Die Hälfte der Zürcher Kinder wächst mehrsprachig auf, für 40 Prozent ist Deutsch eine Zweitsprache, und jedes dritte Kleinkind braucht sprachliche Förderung. Das zeigt eine Erhebung der Stadt. Immerhin die Hälfte der förderbedürftigen Kinder nimmt am Deutschprogramm Teil, Tendenz steigend. Das Angebot wird also rege genutzt. Eltern erhalten von der Stadt auch kein zusätzliches Geld, wenn sie ihr Kind dafür in der Kita platzieren. Die regulären Subventionen sind für Geringverdienerinnen allerdings bereits recht grosszügig. Entsprechend stammen auch die meisten Förderkinder aus finanziell weniger privilegierten Verhältnissen.

Durch den Kontakt mit der Kita sollen aber auch die Eltern mitbekommen, wie viel Selbständigkeit zum Beispiel bei der Einschulung erwartet wird.

Sie isst zum Zmittag am liebsten nur Brot.

Kinder in die Kitas bringen
Die Stadt will mit ihrem Programm vor allem Kinder erreichen, die noch nicht in einer Kita sind und wegen des Förderprogramm überhaupt erst eintreten. Sie sollen dank der frühen Fremdbetreuung nicht nur besser Deutsch lernen, sondern auch andere Kinder und schulische Strukturen kennenlernen. «Die Kinder kommen zum Teil aus Familien ohne viele Kontakte zum deutschsprachigen Umfeld», sagt Carolin Deiner. «Für sie ist es besonders wichtig, die Sprache ihrer Umgebung kennenzulernen.» Das könne manchmal ein kleiner Kulturschock sein, es sei aber für die Vorbereitung auf den Kindergarten wichtig.
Durch den Kontakt mit der Kita sollen aber auch die Eltern mitbekommen, wie viel Selbständigkeit zum Beispiel bei der Einschulung erwartet wird. Und die Kinder sollen lernen, welche Art von Essen es in schulischen Einrichtungen gibt. So wie Sarah: Sie isst zum Zmittag am liebsten nur Brot. Kartoffelstock oder Pommes frites sind ihr nicht geheuer. Deshalb wird sie jetzt langsam an das gewöhnt, was in ihrer Kita als normale Mittagskost gilt. Dabei müssen sich die KitaFachpersonen täglich die Frage stellen: Wo endet die Förderung von Sprache und Integration? Und wo beginnt Erziehung zu einem bestimmten Verhalten? Einfache Antworten darauf gibt es nicht. Doch alle Beteiligten betonen, es gehe darum, den Kindern beim Lernen zu helfen. Die Erziehung bleibe Sache der Eltern. «Sie sind die Experten, was ihr Kind angeht», sagt Carolin Deiner. «Wir sind die Experten beim Erlernen der Sprache.»

Die Förderexpertin sitzt neben Sarah auf dem Boden, folgt ihr von Spiel zu Spiel, hört zu, spricht Wörter auf Deutsch nach. Was sie tut, ist keine Hexerei. Es ist eigentlich einfach das, was es in Kitas zwischen Erwachsenen und Kindern zu selten gibt: ein längeres Gespräch.

«I bin Sarah!»

«Und ich bin Carolin.»

«I bi Carolin!»

«Wirklich? Dann wäre ich ja Sarah.»

«Nei, i bin Sarah!»

«Du bist Sarah, ich bin Carolin. Ist es so richtig?»

«Ja!»

 

Yasmine Bourgeois, Zürich, Primarlehrerin, Schulleiterin, Gemeinderätin FDP und Condorcet-Autorin: Es ist einfach schade, wenn ein kluges Kind deshalb nicht weiterkommt.

Das Frühförderprogramm der Stadt hilft nicht nur dem Deutsch der Kinder. Es schafft auch in der Politik etwas Seltenes: Von rechts bis links steht eine breite Allianz dahinter und das im sonst so umkämpften KitaThema. Für die FDPGemeinderätin Yasmine Bourgeois ist die Freiwilligkeit zentral, solange für einen obligatorischen KitaBesuch die Gesetzesgrundlage fehlt. Es sei zudem wichtig, dass bei zusätzlichen KitaSubventionen Zurückhaltung geübt werde. «Wer selber zahlen kann, soll das auch tun.» Unter diesen Voraussetzungen befürwortet sie die Sprachförderung in Kitas. Denn: «Wenn man mit schlechtem Deutsch startet, zieht sich das durch die gesamte Schulkarriere», sagt Bourgeois, die selbst eine Primarschule leitet. «Sogar in Mathe ist es schwierig, wenn man die Sprache nicht gut spricht. Und es ist einfach schade, wenn ein kluges Kind deshalb nicht weiterkommt.»
Ähnlich sieht es die ALKantonsrätin Judith Stofer. «Frühförderung ist total wichtig, für die Sprache und die Integration», sagt sie. Es sei im Interesse der Kinder, dass sie gut Deutsch lernten und nicht abgeschottet würden. «Je früher die Kinder in der Kita sind, desto besser, auch für ihre sozialen Kompetenzen.»

Nicht ganz einig sind sich linke und rechte Politikerinnen, wenn es um eine allfällige Verpflichtung zum KitaBesuch geht.


Zürich als Vorbild

Nicht ganz einig sind sich linke und rechte Politikerinnen, wenn es um eine allfällige Verpflichtung zum KitaBesuch geht. Für Stofer wäre eine solche für Kinder mit Deutschproblemen denkbar. Aber auch sie findet: «Eigentlich sollte man es auch ohne Pflicht schaffen, genug Eltern von einer Teilnahme zu überzeugen.»
So sieht es auch eine Mehrheit im Zürcher Kantonsrat, der eine KitaPflicht beschliessen müsste. Entsprechende Vorstösse wurden mehrmals abgelehnt. Letztes Jahr wurde jedoch mit knapper MittelinksMehrheit entschieden, dass der Kanton die Gemeinden beim Ausbau der DeutschFrühförderung unterstützen soll. Das Stadtzürcher Projekt könnte dabei zum Vorbild werden. Richterswil führt derzeit ein sehr ähnliches Pilotprojekt zur Kitaintegrierten Deutschförderung durch. Andere Gemeinden wie Kloten oder Wallisellen haben schon länger eigene Programme.

Zurück in der Kita in Zürich Altstetten. Dort sorgt unterdessen Sarahs Schnuddernase erneut für eine Lerngelegenheit. «Sarah, willst du dir nicht die Nase putzen gehen?», fragt Carolin Deiner. Sarah blickt vom Spielen auf, plötzlich konzentriert. Keine Handbewegung verrät, was gemeint sein könnte. Da ist nur die Sprache. «Die Nase putzen?», wiederholt Deiner. Sarah sitzt ganz still. Dann steht sie plötzlich auf, holt sich ein Nastüechli und schnäuzt genüsslich. Sie hat verstanden.

* Name geändert

Diese Reportage erschien ursprünglich in der NZZ (31.1.22) und wurde von Giorgio Scherrer verfasst.

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