Spezialunterricht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 09 Mar 2024 08:33:45 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Spezialunterricht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Reformen gewollt – Bildung verschlechtert – wie prognostiziert https://condorcet.ch/2024/03/reformen-gewollt-bildung-verschlechtert-wie-prognostiziert/ https://condorcet.ch/2024/03/reformen-gewollt-bildung-verschlechtert-wie-prognostiziert/#comments Sat, 09 Mar 2024 08:33:45 +0000 https://condorcet.ch/?p=16098

Die ehemalige Berner SVP- Grossrätin Sabina Geissbühler war schon immer eine Gegnerin der neuzeitlichen Reformagenda und bekämpfte u. a. den Lehrplan 21, das Frühfranzösisch und die Umsetzung des Integrationsartikels. In diesem Beitrag sieht die Praktikerin sich noch einmal bestätigt, was ihre Prognosen betrifft.

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Seit dem 1. Januar 2008 erfolgte die Umsetzung von Art. 17 des Volksschulgesetzes, das heisst, die Anzahl besonderer Klassen wurden stark reduziert. Dafür wurde der Spezialunterricht wie Integrative Förderung, Logopädie, Legasthenie, Dyskalkulie, Deutsch für Fremdsprachige und Psychomotorik massiv ausgebaut. Von diesem Förderunterricht sind in einigen Klassen bis die Hälfte aller Schüler/-innen betroffen.

Gastautorin Sabina Geissbühler

Dieser Spezialunterricht findet oft innerhalb der Klasse statt.  Heilpädagoginnen, Klassenhilfen, usw. betreuen während dem Regelklassenunterricht Kinder mit Defiziten, indem sie Erklärungen und Anweisungen geben, was sehr störend sein kann. Diese Unruhe führt ab und zu sogar dazu, dass Schüler/-innen mit Gehörschutz ausgerüstet werden müssen. Der Förderunterricht in Kleingruppen findet während der ordentlichen Unterrichtszeit ausserhalb des Klassenzimmers statt. Auch diese Massnahme führt zu Hektik und Unruhe, denn daraus resultiert ein stetiges Kommen und Gehen.

Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder wird durch die Unruhe überstrapaziert, und gute Schulleistungen sind in einem solchen Umfeld schwierig zu erbringen. Da der Spezialunterricht ausserhalb des Klassenzimmers stattfindet, verpassen Kinder den Unterrichtsstoff der Regelklasse.

Auch darf es nicht sein, dass bald bei der Hälfte der Schulkinder ein Defizit diagnostiziert wird. Jedes Kind, das einen Spezialunterricht besuchen muss, ist stigmatisiert. Nicht nur die Kinder sind in einem solchen Schulklima überfordert, sondern auch manche Lehrperson. Ihre Lehrtätigkeit wird durch Koordination und Absprachen belastet. Die individuellen Arbeitspläne der Kinder und die heterogenen Klassen verlangen nach individueller Förderung, welche die Lehrperson nur ungenügend erfüllen können.

Ebenfalls belastend für die Lehrpersonen und die Kinder sind Mehrjahrgangsklassen. Insbesondere überfordert sind die Erstklässler beim selbständigen Arbeiten währenddem die Zweit- und Drittklässler am mündlichen Unterricht teilnehmen.

Zum Frühsprachenlernen

Bedenken von Sprachforschern und Lehrpersonen wurden ignoriert, und das Frühsprachenlernen wurde ohne Versuchsphase eingeführt. Dies obschon fremdsprachigen Drittklässler/innen die Standardsprache bereits grosse Probleme bereitet.

Von den Lehrpersonen wird fürs Frühfranzösisch eine anspruchsvolle Weiterbildung verlangt, und für die neue Dotation an Lektionen muss (im Kanton Bern) mit jährlich wiederkehrenden Kosten von 14 Millionen CHF gerechnet werden. Auch diese Reform wurde durchgesetzt, obschon unzählige Studien zum frühkindlichen Lernen immer zum gleichen Schluss kommen, nämlich: dass es möglich ist, Fertigkeiten in verschiedensten Bereichen früh zu erwerben, dass aber bei späterem Beginn dieser “Vorsprung” wieder eingeholt wird. Dass das Lernen einer Sprache über das Ohr, wie es bei einem Aufenthalt in einem anders sprachigen Land stattfindet, mit zwei/drei Lektionen pro Woche nicht möglich, und das teure Lehrmittel “Milles feuilles” unbrauchbar ist, war von Anfang an klar. Von einem “Sprachbad” zu reden, ist absurd, muss doch ein Kind ungefähr 40% seiner Wachzeit mit einer Fremdsprache konfrontiert sein, damit sein Gehirn diese speichern kann.

Die Sprachforscherin Simone Pfenninger, welche die Sprachkompetenzen der Frühenglisch- mit Spätenglischlernenden verglichen hat, kam zu folgendem Fazit:

  • Spätlernende sind motivierter und holen den Vorsprung der Frühlernenden in kurzer Zeit auf.
  • Wegen den Defiziten der Frühlernenden in der deutschen Sprache fällt den Kindern das Fremdsprachenlernen schwerer
  • Eine gefestigte Sprachbasis ist positiv für den Fremdsprachenerwerb,

Unsere Mittelstufenschulkinder sind mit einem übervollen Stundenplan belastet. Insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund (ca. 30%) sind oft überfordert, denn sie müssen neben ihrer Heimatsprache, die Mundart, dann die Standartsprache und im dritten Schuljahr bereits die französische oder englische Sprache erlernen.

Einschulung von Vierjährigen

Dem Bildungsziel der linken Politik: Jedem das Gleiche, anstatt jedem das Seine konnte mit der Früheinschulung näher gerückt werden. Die Behauptung, eine obligatorische Früheinschulung führe zu besseren Leistungen, konnte jedoch widerlegt werden: Die Kinder, die bei der Pisa-Studie am besten abgeschnitten haben, stammen aus dem Kanton Freiburg, wo nur gerade 19% einen zweijährigen Kindergarten besuchten. Die Kinder des Kantons Tessin hingegen gehen alle zwei bis drei Jahre lang in den Kindergarten und schlossen die Pisa-Tests mit den schlechtesten Ergebnissen ab.

Mit der obligatorischen Einschulung von Vierjährigen wurde die in diesem Alter eminent wichtige Aufgabe einer individuellen motorischen und sprachlichen Förderung den Familien weggenommen. Auch die beste Kindergärtnerin kann nicht auf die vielen Fragen, die jedes Kind in diesem Alter stellen möchte, eingehen. Sie wird zudem kaum den Bewegungsdrang dieser Kinder stillen können, sie auf Mäuerchen klettern und in ihre Arme springen lassen. Mit diesen zwei Beispielen soll gezeigt werden, wie die Kinder in einer Gruppe in ihrer persönlichen Entwicklung behindert werden.

Defizite in Sprache und Motorik verlangen vermehrt Förderunterricht, also auch Kostenfolgen. Dass bei einer Verlängerung der Schulzeit von neun auf elf Jahre auch mehrere hundert Lehrpersonen mehr nötig sind, wurde im Bernischen Grossen Rat zwar vorgerechnet, aber von der Bildungsdirektion kaum zur Kenntnis genommen. Die finanzielle Belastung von Gemeinden durch zusätzliche Schulräume, Schulmaterial und Anstellungen ist enorm.

Gezwungenermassen müssen nun diese kleinen Kinder einen umfangreichen Blockzeitenstundenplan von vier Lektionen pro Morgen absolvieren, anstatt, wie für sie angepasst, einmal in der Woche eine Spielgruppe besuchen zu können.

Eltern beklagen, dass ihre Vierjährigen unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Aggressionen leiden, ein Zeichen ihrer psychischen Überforderung.

Ein weiteres Problem ist für viele Vierjährige der Schulweg, entweder ist er zu lang oder zu gefährlich. Mit dem Schulbeginn bereits nach acht Uhr, ist die Dunkelheit im Winter ebenfalls eine Zumutung. Trotzdem wagen es viele Eltern und Kindergärtnerinnen nicht, ihre Erfahrungen mit den vierjährigen Kindern offenzulegen, da sie sonst als Versager/-innen abgeurteilt werden.

“Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.”

Ursina Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ)

 

Mutig weist hingegen die Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ) auf die Probleme von und mit Vierjährigen hin: “Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.” Auch Erziehungswissenschafterin Prof. Stamm meint: “Der vorverlegte Schulbeginn hat entwicklungspsychologisch durchaus seine Nachteile.” Zwar würden früh instruierte Kinder einen Vorsprung gegenüber anderen bekommen, aber dieser wachse sich relativ schnell aus. Eine ausgewogene physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes Selbstwertgefühl seien ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Zwei Kantone, nämlich Schwyz und Nidwalden, haben bereits auf die Klagen von Eltern und Lehrpersonen reagiert. Und in den Kantonen Graubünden, den beiden Appenzell und Zug gibt es keinen obligatorischen zweijährigen Kindergarten.

Es ist erwiesen, dass Vorschulkinder in den Bereichen motorische, kognitive, emotionale und soziale Kompetenz noch grosse Unterschiede aufweisen, die sich bis zum 6./7. Lebensjahr – dem aus diesem Grund gewählten Einschulungstermin – immer mehr angleichen. Meist sind erst ca. sechsjährige Kinder fähig, während längerer Zeit zuzuhören oder selbstständig für sich zu spielen oder zu arbeiten.

Auch die Erziehungsdirektion hat im Rahmen eines Controllings die Anzahl Kinder mit einem reduzierten Pensum (was im Kanton Bern z.T. möglich ist) erhoben. Von 9633 Kindern wurde für 5956 Kinder, also für 62%, ein reduziertes Pensum verlangt und 9,6% zurückgestellt.

Selbstgesteuertes, digitales Lernen

Das im Lehrplan propagierte selbst gesteuerte Lernen überfordert viele Kinder und verlangt zusätzlichen Förderunterricht. Dies führt zu Chancenungleichheit, indem Kinder von wohlhabenden Eltern Privatunterricht oder eine Privatschule besuchen können.

Mit der Einführung des Lehrplans 21 wurden die Lehrpersonen beauftragt, nicht primär Wissen zu vermitteln, sondern nur noch als Coaches das selbstgesteuerte Lernen der Kinder organisatorisch zu begleiten.

Das selbstgesteuerte, digitale Lernen gelingt nicht allen Kindern gleich gut. Gemäss einer in der Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlichten kanadischen Studie mit 4520 Kindern zwischen acht und elf Jahren sind die kognitiven Fähigkeiten wie wahrnehmen, denken und verstehen schon ab zwei Stunden vor dem Bildschirm beeinträchtigt. Digitales Lernen ist asozial und kann bei Kindern zu psychischen Problemen führen.

Als Folge des individualisierten Unterrichts mit dem mühsamen Zusammentragen von Unterrichtsstoff durch die Kinder selbst, brauchen die Kinder mehr Zeit. Diese Mehrlektionen haben im Kanton Bern mehrere hundert neue Vollzeitstellen erfordert. Die Aufstockung der Lektionen belastet nicht nur die Schulkinder und Lehrpersonen, sondern auch die Finanzen (im Kanton Bern von jährlich 30 Mio. CHF). Neu entwickelte Lehrmittel sollten nicht zwingend die Arbeit mit Tablets oder Hanys voraussetzen. Diese digitalen Lernhilfen müssen jedoch im Zyklus 3 – vom Kanton finanziert – jedem Kind zur Verfügung gestellt werden, um die Chancengerechtigkeit zu garantieren.

Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit.

 

Entwicklungspsychologisch steht im Zyklus 1 und 2 das analoge Lernen über den direkten Austausch, die Nachahmung, das Ansprechen aller Sinne und Erlebnisse in der Natur im Vordergrund. Das Prinzip des Lernens über Kopf, Herz und Hand, aber auch die verschiedenen Lerntypen müssen berücksichtigt werden. Dies als Ausgleich zum zunehmenden Gebrauch von digitalen Medien in der Freizeit.

Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit. Dies zeigte sich in der Schweiz bei den digitalen Unterrichtshilfen zu den Lehrmitteln “Mille Feuilles” und “Clin d’Oeil”. Was nicht sofort per Klick geht, wird verworfen.

Immer mehr Jugendlichen fehlt die Ausdauer

Das Phänomen “lazy brain” tritt auf und zeigt sich längst bei den Ausbildungsplätzen. 798 Personalverantwortliche von Schweizer Ausbildungsbetrieben gaben bei einer Umfrage an, dass immer öfter die Ausbildungen abgebrochen würden und vielen Jugendlichen die Ausdauer fehle. Aufgaben und Probleme im Berufsalltag liessen sich eben nicht mit einem Wisch auf dem Touchscreen lösen.

Die Digitalisierung wirkt sich auch gesundheitlich aus. Professor Dr. Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklinik des Universitätsspitals Mainz, weist auf die Zusammenhänge zwischen Bildschirmarbeit und zunehmender Kurzsichtigkeit von Kindern und Jugendlichen hin. Weitere gesundheitliche Folgen des immer exzessiveren Computer-, Tablet- und Handygebrauchs sind Fehlbelastungen, insbesondere der Halsmuskulatur, was zu degenerativen Veränderungen an Wirbelkörpern oder Bandscheiben führen kann.

An (Berner) Schulen muss die heute vorhandenen Erfahrungswerte und neusten Erkenntnisse zum Einsatz von digitalen Hilfsmitteln berücksichtigt werden. Das Ziel muss ein Mehrwert beim Lernen der Kinder sein, aber nicht auf Kosten ihrer Gesundheit.  Die Meinung, dass in unserer digitalen Welt kein eigentliches Wissen mehr gefragt sei, weil sich alles im Internet finden lässt, muss revidiert werden.

Spezielles Curriculum für zukünftige Lehrpersonen (Kindergärtnerinnen) für 4- und 5- Jährige, sowie Einführung einer 4-jährigen Berufslehre für Lehrpersonen mit einem Berufsmaturabschluss

Mit der Forderung, dass alle zukünftigen Kindergärtnerinnen das Gymnasium und die Matura machen müssen, war absehbar, dass damit geeignete, sozialkompetente, musisch begabte und auf die besondere Pädagogik für Kleinkinder Ausgebildete fehlen würden.

Mit der Lehrpersonenausbildung an Seminaren, mit allgemeinbildenden Fächern und einer vierjährigen Einführung ins Berufsleben konnten die Absolventen bereits als 20-Jährige eine Schulklasse übernehmen.

Heute stehen den Absolventinnen und Absolventen eines Gymnasiums mit der Matura alle Studienrichtungen offen. Somit hat sich der Einstieg ins Berufsleben und die Eigenständigkeit für Lehrpersonen drei bis vier Jahre hinausgeschoben. Oft sind der Umgang und die Arbeit mit Kindern den Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums fremd.

Deshalb müsste insbesondere für die Lehrpersonen für 4- und 5-Jährige eine spezielle Ausbildung analog der Kindergärtnerinnenausbildung geschaffen werden. Beginn nach der obligatorischen Schulzeit mit einem mindestens einjährigen Sozialpraktikum/ Praktikum mit Kindern, dann einer 2- bis 3-jährigen Ausbildung an der PH.

Für zukünftige Lehrpersonen der Zyklen (1), 2 bis 3 ist ein Curriculum für eine Berufslehre nach der obligatorischen Schulzeit mit einem Berufsmaturaabschluss auszuarbeiten.

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Warum plötzlich mehr Kinder Lernschwächen haben https://condorcet.ch/2023/04/warum-ploetzlich-mehr-kinder-lernschwaechen-haben/ https://condorcet.ch/2023/04/warum-ploetzlich-mehr-kinder-lernschwaechen-haben/#respond Fri, 07 Apr 2023 15:02:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=13602

Seit der Einführung des Lehrplans 21 erhalten signifikant mehr Schulkinder Spezialunterricht. Wie ist das möglich? Eine Spurensuche von Tamedia-Journalistin Naomi Jones.

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Als diese Zeitung Ende letzten Jahres eine Umfrage zum Lehrplan 21 durchführte, stellten mehrere Heilpädagoginnen und Eltern einen Zusammenhang zwischen Lernstörungen wie etwa einer Legasthenie und dem Lehrplan 21 her. Eine Heilpädagogin spricht von einer Zunahme der “Pseudo-Legastheniker”. Ist da etwas dran?

Gastautorin Naomi Jones

Genaue Zahlen zu bekommen, ist nicht möglich. Der Kanton erfasst die auf den Erziehungsberatungsstellen gestellten Diagnosen nicht separat. Doch seit 2014 erhebt er, wie viele Kinder Spezialunterricht etwa durch eine Logopädin oder einen Heilpädagogen erhalten. Nebst Kindern mit Lernschwierigkeiten gehören dazu auch hyperaktive Kinder mit Konzentrationsproblemen wie ADHS oder Kinder mit einer Entwicklungsstörung etwa aus dem Autismusspektrum (ASS).

Diese Zahlen deuten tatsächlich auf einen möglichen Zusammenhang von Lernschwächen und dem neuen Lehrplan hin: In den Jahren 2014 bis 2017 erhielten je rund 4000 Schulkinder des Kantons Bern zusätzlichen Spezialunterricht. Darunter fallen Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie, Verhaltensauffällige mit ADHS oder ASS, aber auch Kinder mit einem Sonderschulstatus, etwa aufgrund eines Downsyndroms.

2019, ein Jahr nach der Einführung des Lehrplans 21, erhalten rund 1000 Kinder mehr Spezialunterricht. Bei gut 100’000 Schulkindern im Kanton ist der Anstieg nicht riesig, aber doch signifikant. In Prozenten dargestellt bewegen sich die Zahlen vor dem Lehrplanwechsel um die vier Prozent. Ein Jahr nach dem Wechsel sind sie auf fast fünf Prozent geklettert und dort oben geblieben.

Der neue Lehrplan

Der Lehrplan 21 legt grosses Gewicht auf selbstständiges Lernen. Dazu gibt es an vielen Schulen eigens im Unterricht eingeplante Zeiten. In den oberen Klassen sind dies sogenannte SOL-Lektionen. SOL steht für selbst organisiertes Lernen.

Das sei insbesondere für Kinder mit ADHS schwierig, sagt der Könizer Kinderarzt Rolf Temperli. “Sie lassen sich leicht ablenken und brauchen klare Strukturen.” Vorausschauendes Planen stelle sie vor grosse Herausforderungen.

    “Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.”

Eliane Perret, Psychologin

 

Die Zürcher Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret sieht es ähnlich. Viele Kinder seien mit dem selbst organisierten Lernen überfordert, und Verhaltensauffälligkeiten könnten mit dem Gefühl zusammenhängen, allein gelassen zu sein. Mit dem selbst organisierten Lernen kämen meist nur die Cleversten zurecht. “Viele Kinder werden durch ihre Eltern oder Nachhilfe unterstützt, andere werden mutlos und geben auf.”

Die Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret warnt vor vorschnellen Diagnosen. (Foto. Urs Jaudas)

Wie auch die neuere entwicklungspsychologische Forschung zeige, sei Lernen ein Beziehungsgeschehen, erklärt Perret. “Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.” Sie habe in ihrer langjährigen Arbeit an einer Schule für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lernproblemen oft beobachtet, dass die Symptome der Kinder sich milderten oder gar verschwanden, wenn der Unterricht auf deren Bedürfnisse ausgerichtet worden sei.

Stefan Wittwer vom Berufsverband Bildung Bern nimmt den Lehrplan in Schutz. Selbst organisiertes Lernen (SOL) sei eine didaktische Methode und als solche nicht im Lehrplan vorgeschrieben. “Schulen, die SOL fix im Stundenplan haben, machen das aus Überzeugung, der Lehrplan schreibt das nicht vor”, sagt er.

Im Rahmen der überfachlichen Kompetenzen sollen die Kinder ihr Lernen zwar selber organisieren können, aber erst gegen Ende des dritten Zyklus. Bis dann sollten sie ab der Mittelstufe Schritt für Schritt dahin geführt werden. Der Lehrplanwechsel kann also nicht der einzige Grund für den plötzlichen Anstieg der Diagnosen sein.

Der Lehrkräftemangel

2018 mussten erstmals Studierende der Pädagogischen Hochschule in den Klassenzimmern einspringen. Dass ausgerechnet der Fachkräftemangel in der Schule zu mehr Diagnosen bei Schulkindern führen soll, scheint paradox. Denn nicht nur Lehrer fehlen in den Schulstuben, sondern auch sonderpädagogische Spezialistinnen.

Doch der Lehrermangel führt zu grösseren und heterogenen Klassen, da Schulleitende immer mehr Mühe haben, die freien Stellen zu besetzen. In den grossen Klassen hat die Lehrperson weniger Zeit für das einzelne Kind.

    “Ohne Diagnose gibt es nur sehr begrenzt individuelle Förderung für ein Kind.”

Rolf Temperli, Kinderarzt

 

Der Kinderarzt Rolf Temperli beobachtet in seiner Praxis, dass der Wunsch nach einer Abklärung ausser von den Schulen zunehmend von den Eltern kommt. Sie wollten verstehen, warum ihr Kind Schwierigkeiten habe, und erhofften sich, dass ihr Kind optimal gefördert werde, erklärt Temperli. “Denn ohne Diagnose gibt es nur sehr begrenzt individuelle Förderung für ein Kind.”

Obwohl im Vordergrund der Therapie oft pädagogische Massnahmen stünden und man bereits wisse, was das Kind brauche, müsse eine Beeinträchtigung gesucht und diagnostiziert werden, damit das Kind zusätzlich gefördert werden könne.

Das vermutet auch der Schulleiter des Schulkreises Bern-Bethlehem, Lukas Wiedmer, und zwar vor allem bei den bildungsnahen Eltern. “Angesichts des Selektionsdrucks wollen sie, dass ihr Kind gefördert wird, oder sie erhoffen sich gar einen Nachteilsausgleich, der den Zugang zu höherer Ausbildung doch noch ermöglichen soll.”

Der Co-Geschäftsführer von Bildung Bern, Stefan Wittwer, erachtet den Lehrkräftemangel als Mitgrund für den Anstieg der Diagnosen. (Foto: Nicole Philipp)

Tatsächlich hat die Zahl der auf die Erziehungsberatungen geschickten Kinder massiv zugenommen. Gegenüber der Zeit vor der Pandemie seien die Anfragen bei den Erziehungsberatungen um 40 Prozent gestiegen, schreibt die Bildungsdirektion Ende Februar in ihrem Newsletter.

“Das System sucht sich Entlastung, wo es diese finden kann”, sagt Stefan Wittwer von der Lehrer- und Lehrerinnengewerkschaft. Damit weist er zugleich auf einen Fehler im System.

Der Systemfehler

Diagnostizierte Kinder erhalten zusätzliche Ressourcen, und von diesen profitiert auch die Schule. Das Phänomen ist seit rund zehn Jahren vom Kanton Zürich bekannt. Dort hatte sich innerhalb von 15 Jahren die Zahl der Kinder, die mit Sonderschulstatus in eine Regelklasse integriert waren, fast verdoppelt.

Allerdings blieb die Zahl der Kinder, die so schwer beeinträchtigt waren, dass sie nicht in Regelklassen integriert werden konnten, stabil. Also hatten vor allem Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten zugenommen.

    “Viele Lehrpersonen sind in gewissem Sinne froh um jedes Kind, das eine Diagnose hat. So erhalten sie die Unterstützung, die sie im heutigen Schulalltag brauchen.”

Manuel C. Widmer, Grossrat (GFL) und Lehrer

 

Der Grund dafür lag beim System. Die zusätzlichen Massnahmen für die Kinder mit Sonderschulstatus, also zusätzliche Lektionen durch Heilpädagoginnen, Logopäden und andere Spezialistinnen, zahlte der Kanton, und zwar nach Bedarf. Je mehr Sonderschulkinder eine Schule integrierte, desto mehr spezialisiertes Personal konnte sie anstellen

Der GFL-Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer sagt denn auch: “Viele Lehrpersonen sind in gewissem Sinne froh um jedes Kind, das eine Diagnose hat. So erhalten sie die Unterstützung, die sie im heutigen Schulalltag brauchen.” Der Berner Schulleiter Lukas Wiedmer bestätigt das, wenn auch nicht mit derart deutlichen Worten.

Der Lehrer und Grossrat Manuel C. Widmer ist froh um zusätzliche Ressourcen im Klassenzimmer. (Foto: Beat Mathys)

Aktuell werde ein Grossteil der schulischen Ressourcen durch Abklärungen auf der Erziehungsberatung generiert. Vor allem die Heilpädagoginnen und -pädagogen arbeiten dabei nicht immer einzeln mit dem zu unterstützenden Kind, sondern oft mit einer kleinen Gruppe oder gar im Team-Teaching mit der Klassenlehrperson. Davon profitiert nebst dem zu unterstützenden Kind die ganze Klasse.

“Es müsste möglich sein, dass Kinder unkompliziert zusätzliche Unterstützung erhalten, ohne dass zuerst so häufig mit Abklärungen eine Diagnose erstellt werden muss.”

Stefan Wittwer, Co-Geschäftsführer von Bildung Bern

 

Doch das Anbinden von Ressourcen an einzelne Kinder erschwere die Zusammenarbeit der Klassenlehrpersonen mit dem heilpädagogischen Personal, sagt Wiedmer. Dessen Arbeitspensum könne rasch ändern, etwa wenn ein Kind mit Diagnose wegziehe. Viel lieber wäre Wiedmer, dass die Schule dauerhaft mit genügend Ressourcen – also Lehrkräften und sonderpädagogischem Personal – ausgestattet würde, damit sie von Anfang an für alle Kinder bereit wäre.

Der Lehrergewerkschafter Wittwer verlangt deshalb mehr globale Ressourcen für die Schulen, die sie flexibler einsetzen können. “Es müsste möglich sein, dass Kinder unkompliziert zusätzliche Unterstützung erhalten, ohne dass zuerst so häufig mit Abklärungen eine Diagnose erstellt werden muss.”

Die Gesellschaft

Dies alles ist möglich, weil die psychiatrischen Diagnosen oft nicht so eindeutig sind wie etwa eine Sehbehinderung oder ein Downsyndrom. Die Diagnosen würden unter anderem mithilfe von Fragebögen nach Diagnosekriterien internationaler psychiatrischer Handbücher gestellt, erklärt die Psychologin Eliane Perret. “Sie beruhen auf Beobachtungen, was immer einen gewissen Spielraum zulässt.”

Dadurch entstehe eine scheinbare Objektivität, schreibt sie in ihrem Buch “Heilpädagogik im Dialog”. Im Allgemeinen würden das familiäre und schulische Umfeld, der Erziehungsstil und andere Bedingungen, die Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben, zu wenig gewichtet, findet sie. Selbstverständlich gebe es Kinder mit Entwicklungs- und Lernstörungen. “Aus meiner Beobachtung werden Kinder heute jedoch schneller mit einer Diagnose belegt als früher”, sagt sie.

Perret verweist auf eine Untersuchung, gemäss der etwa die Diagnose ADHS im Kanton Tessin viel seltener gestellt wird als in der Deutschschweiz. “Man vermutet, dass dort das tolerierte Spektrum an Temperamenten grösser ist.”

    “Die Gesellschaft erträgt aussergewöhnliches Verhalten weniger gut als vor 30 Jahren.”

Rolf Temperli, Kinderarzt

 

Der Kinderarzt Rolf Temperli bestätigt das. “Die Gesellschaft erträgt aussergewöhnliches Verhalten weniger gut als vor 30 Jahren.” Viele Kinder, bei denen heute eine Autismusspektrum-Störung diagnostiziert werde, hätten damals einfach als Sonderlinge gegolten. Man wisse heute mehr über diese Probleme und sei darauf sensibilisiert.

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