Schulaufsicht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 17 Nov 2021 11:05:09 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Schulaufsicht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Jeremias Gotthelf – ein unbequemer Schulkommissär https://condorcet.ch/2021/11/jeremias-gotthelf-ein-unbequemer-schulkommissaer/ https://condorcet.ch/2021/11/jeremias-gotthelf-ein-unbequemer-schulkommissaer/#respond Wed, 17 Nov 2021 10:44:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=9811

Dass Jeremias Gotthelf, alias Albert Bitzius, eine namhafte Grösse in der Schweizer Literaturgeschichte darstellt, ist allgemein bekannt. Weniger im Bewusstsein der Leute könnte seine Tätigkeit als "Schulkommissär" und sein Engagement für gute Lehrer, eine gute Schule und die allgemeine Schulpflicht sein. Peter Aebersold ruft dies in seinem Beitrag in Erinnerung.

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Albert Bitzius (1797–1854) alias Jeremias Gotthelf ist bekannt als Pfarrer und Schriftsteller – weniger als Kämpfer für die Schule. Als Schulkommissär entsetzten ihn die Zustände, die er in den schmutzigen Schulstuben antraf: völlig untaugliche Lehrer, erbärmliche Löhne, eintönige Paukerei ungerechte Behandlung der Kinder, Prügeleien mit dem Rohrstock. Weil er Schulgesetzgebung und Schulverwaltung deutlich kritisierte, kein Blatt vor den Mund nahm und Missstände öffentlich und in seinen Büchern anprangerte, wurde er als früher Whistleblower vom Berner Erziehungsdepartement als Schulkommissär entlassen.

Albert Anker, Dorfschule: völlig untaugliche Lehrer, erbärmliche Löhne, eintönige Paukerei.

Liberale Schulreform

Die Reform des Schulwesens war eines der zentralen Projekte der liberalen Bewegungen in der Schweiz seit dem liberalen Umschwung 1830/31 gewesen. Aufgrund der Liberalen Verfassung von 1831 wurde im Kanton Bern 1835 das «Gesetz über die öffentlichen Primarschulen» als Grundlage für eine Reform des Schulwesens verabschiedet. Bitzius war 1830 in Bern bei den Vorbereitungen zum Sturz des alten Regiments noch führend mitbeteiligt, hatte sich jedoch von der siegreichen Bewegung bald nach 1831 abgewendet, indem er den Vorwurf erhob, hier etabliere sich eine neue Aristokratie mit dem vorherrschenden Interesse der Geldkumulation.

Er wirkte als Pfarrer und Schulkommissär tatkräftig an den Veränderungen im Sozial- und Bildungswesen des Kantons Bern mit. Die Forschungen Gustav Toblers («Jeremias Gotthelf und die Schule» 1907) und Hans Bloeschs («Jeremias Gotthelf. Unbekanntes und Ungedrucktes über Pestalozzi, Fellenbergund die bernische Schule» 1938) zeigen, dass er sich mit leidenschaftlicher Anteilnahme um das Wohl der Schule seiner Zeit kümmerte.  Sein von ihm verehrter Lehrer Lutz nannte seinen Eifer «unbescheidene Zudringlichkeit».

Nie hätte ich geglaubt, dass das Unterrichtgeben so nützlich wäre, da lernt man erst, indem man zum Erklären genötigt ist.

Jeremaias Gotthelf: Geriet immer wieder in Konflikt mit den Schulbehörden.

Lehrer und Menschenbildung

Bereits als Jugendlicher interessierte sich Bitzius für pädagogischen Fragen. Während seines Studiums beschrieb er seine künftige Tätigkeit als Pfarrer: «Bildung des Menschen in der mir anvertrauten Gemeinde wird meine erste und einzige Pflicht sein.»
1818 übernahm er als 21-jähriger Student für eineinhalb Jahre eine Stellvertretung an der «Grünen Schule», dem Progymnasium in Bern. Die Tätigkeit in der Schulstube, deren Anforderungen und die Bereicherung für den Lehrer beschrieb er folgendermassen: «Ich sehe alle Tag, dass mir vieles fehlt, vieles ich falsch angreife…» «Nie hätte ich geglaubt, dass das Unterrichtgeben so nützlich wäre, da lernt man erst, indem man zum Erklären genötigt ist, über Dinge Rechenschaft zu geben, von denen man sonst geglaubt, man verstünde sie von selbst.»

Er kam zum Schluss, dass nicht das Lernen an sich, sondern die Entwicklung des Charakters und Bildung desselben die höchsten anzustrebenden Ziele seien. Fortan blieb sein Interesse an pädagogischen Fragen bis zu seinem Tode. Dabei geriet er immer wieder mit dem Erziehungsdepartement, den lokalen Behörden und Autoritäten in der Schulpolitik wie beispielsweise mit Philipp Emanuel von Fellenberg in Konflikt:
«Damals (nach der Regeneration) war der Kanton Bern der Schauplatz verschiedenartigster Kriege, unter welchen doch keiner mit der Erbitterung geführt wurde wie der pädagogische.» Er sei «einigermassen in diese Kriege verflochten» worden und habe dabei «mehr als eine Lanze mit Herrn Fellenberg» gebrochen.

Während seiner Vikariatszeit in Utzenstorf bis 1824 half Bitzius regelmässig dem Schulmeister im Dorf aus und versuchte die Dorfbewohner zum Neubau eines Schulhauses zu bewegen. 1828 unterbreitete er als Pfarrvikar in Herzogenbuchsee dem Bernischen Kirchenrat Reformvorschläge für das Schulwesen. 1829 geriet Bitzius im «Bollodinger Schulstreit» in Konflikt mit dem Oberamtmann von Effinger in Wangen, weil er sich für den Schulmeister Johannes Steiger einsetzte, dem zufolge einer Schulteilung der Lohn gekürzt werden sollte. Weil sich Bitzius gegen diese Ungerechtigkeit erfolglos gewehrt hatte drohte man ihm mit Zwangsversetzung nach Amsoldingen. Es gelang im jedoch die Versetzung rückgängig zu machen und sie wurde in eine Beförderung als Vikar an die Heiliggeistkirche in Bern umgewandelt.

Grosse Landschulkommission und Armenerziehungsanstalt

Bitzius wurde 1832 in die Grosse Landschulkommission gewählt, die ein neues Schulgesetz für den Staat Bern erarbeiten sollte. Von 1834 bis 1836 wirkte er als Lehrer für «Vaterländische Geschichte» an den staatlichen Lehrerfortbildungskursen («Burgdorfer Normalkurse» für angehende und bereits amtierende Volksschullehrer) in Burgdorf und wurde dabei von Fellenberg öffentlich kritisiert.  Bitzius hatte für die Unterrichtsvorbereitung u.a. das Buch «Des Schweizerlands Geschichte für das Schweizervolk» von Heinrich Zschokke (1834) benutzt. Die «Weltbeglückungsideen» Fellenbergs wurden zu einem öffentlichen Hindernis der Schulentwicklung. Sowohl die Ausarbeitung eines Schulgesetzes, wie die Etablierung einer funktionierenden Lehrerbildung wurden immer wieder durch seine öffentliche Polemik gestört und die Öffentlichkeit wurde verunsichert.

Bei sehr guter Schulzucht erwarb er sich die Liebe der Kinder, die Achtung der Eltern und brachte die Schule in einen sehr erfreulichen Zustand. Auch sein Betragen ausser der Schule, das manchem jungen Lehrer zum Muster zu geben wäre, verdiente nie eine Rüge.

Seit 1835 leitete Gotthelf gemeinsam mit Gleichgesinnten im Bezirksverein für christliche Volksbildung eine Armenerziehungsanstalt. Dieser beauftragte ihn mit einer Werbeschrift für die Armenerziehung, was angesichts der Sparsamkeit der Bauern keine leichte Aufgabe war. Das Ergebnis, das Buch die Armennoth, ist zugleich Kampfansage an den Kinderverding und Erfolgsbericht der vom Kanton geförderten und bis 1872 bestehenden Trachselwalder Anstalt.

Wahl zum Schulkommissär

Gotthelfs Einsatz für die Schule wurde 1835 mit der Wahl zum Schulkommissär des Kommissariatskreises Lützelflüh honoriert, zu dem Lützelflüh, Hasle, Rüegsau und Oberburg gehörten. In dieser Funktion – neben seinem Pfarramt und seiner schriftstellerischen Tätigkeit – beaufsichtigte er 19 Schulen, die er auch tatsächlich regelmässig besuchte. Andere Schulkommissäre schreckten die langen Wege ab, im Fall Gotthelfs bis zu vier Stunden.

Sein Einsatz gegen die sozialen Missstände ist eindrücklich dokumentiert.

Bitzius setzte sich immer wieder für seine Lehrer ein: So stellte er am 23. August 1840 als Aktuar der Schulkommission Lützelflüh dem Lehrer Stucker, der wegen seines Pflichteifers, seiner Schulführung und seines Betragens sehr geschätzt war, folgendes Zeugnis aus: «Bei sehr guter Schulzucht erwarb er sich die Liebe der Kinder, die Achtung der Eltern und brachte die Schule in einen sehr erfreulichen Zustand. Auch sein Betragen ausser der Schule, das manchem jungen Lehrer zum Muster zu geben wäre, verdiente nie eine Rüge».

Als der Schulkreis von Grünenmatt Stucker, der damals noch Unterlehrer in Lützelflüh war, als Oberlehrer begehrte, schrieb Bitzius im Auftrag der Schulkommission von Lützelflüh an das Erziehungsdepartement: Stucker, «ein sittlicher, friedlicher, begabter Lehrer erwarb sich die Liebe der Gemeinde und der Schulbehörde und die letztere theilt mit dem Schulkreis die Überzeugung, dass derselbe unter obwaltenden Umständen zu dieser Stelle am besten passe, da seine bekannte Persönlichkeit eine Garantie des zurückkehrenden Friedens darbietet»

Setzte sich immer wieder für die Lehrer ein.

Eindringlich erinnerte er die Behörden und die Lehrer immer wieder an ihren Auftrag, ohne Rücksicht auf seine eigene Person, sein Image oder seine Karriere. So schreibt er beispielsweise im Schulbericht von Lützelflüh ungeschminkt:
“Im Durchschnitt des Winters findet sich kaum die Hälfte der Kinder in der Schule ein, in den zwei ersten Monaten nicht ein Drittel…. . 1/50 versucht sich an Aufsätzen, ein 1/75 verirrt sich in Brüchen, 1/758 (die Gemeinde Lützelflüh zählte 758 Schüler) weiss, wo kleine und grosse Anfangsbuchstaben stehen sollen. 0/758 bildet einen vernünftigen Satz.”

Er berührt dabei nicht nur zahlreiche pädagogische Konzepte, sondern zeigt auch die soziale Rolle des Schulmeisters auf.

Bringt die sozialen und politischen Probleme zur Sprache.

Freuden und Leiden eines Schulmeisters

In den Jahren 1838 und 1839 veröffentlichte er das Buch «Leiden und Freuden eines Schulmeisters» (2 Bände), in das viele Erfahrungen aus seiner Schulkommissärs-Zeit einflossen. Gotthelf schrieb, dass er in dieser Form soziale Missstände und Vorschläge zur Reform zum Ausdruck bringe, weil er sich auf dem Dienstweg kein Gehör verschaffen könne. Schulkommissär Gotthelf und der fiktive Schulmeister Peter Käser seien beide «unterdrückte Naturen», der Schulmeister könne sich allerdings allein nicht freikämpfen. Er fühlte den inneren Auftrag, etwas Konkretes zu tun und zu verändern. Er konnte weder schweigen noch zuwarten. Energisch setzt er sich darin für die allgemeine Schulpflicht, für eine bessere Schulbetreuung und eine bessere Lehrerbildung ein – ganz im Sinne des Volksschulgedankens von Heinrich Pestalozzi. Aus der Sicht des Primarlehrers Peter Käser im fiktiven Ort «Gytiwyl» schildert er in seinem Roman die Verhältnisse im Schulwesen, die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen der Schulmeister schonungslos:

«Dass meine Gelehrsamkeit nicht weit her sei und mein Unterricht selbst eine Stümperei, das sah ich noch nicht ein. Ich begriff noch immer nicht, wie man von einem Schulmeister verlangen könne, dass alle Kinder sollten rechnen und schreiben lernen, und noch viel weniger fiel mir ein, dass die Kinder lernen sollten, Selbstgedachtes auszudrücken, dass sonst das Schreiben ihnen nichts nütze. Ich begriff noch gar nicht, wie man eine Schule in Klassen abteilen und sogar vieles möglich machen könne, was bei der alten Unordnung unmöglich schien».

Er berührt dabei nicht nur zahlreiche pädagogische Konzepte, sondern zeigt auch die soziale Rolle des Schulmeisters auf. Den unmittelbaren Rahmen und Hintergrund des Romans stellt die allgemeine Primarlehrerprüfung dar, welche 1836 zur künftig leistungsbezogenen Lehrerbesoldung durchgeführt wurde. Mit diesem Buch gelang es Gotthelf, sich und seinen Anliegen Gehör zu verschaffen. Es entspannten sich heftige Debatten, und viele dringende Veränderungsprozesse kamen in Gang.

Gotthelf wusste, dass Kritik manchmal deutlich sein musste. Wo man Missstände verdeckt oder gar verdrängt, da ist laut und unanständig korrekter als leise und anständig.

Kritik an der Obrigkeit

Gotthelf wusste, dass Kritik manchmal deutlich sein musste. Wo man Missstände verdeckt oder gar verdrängt, da ist laut und unanständig korrekter als leise und anständig. Polemik, Polarisierung, Provokation sind Gotthelf nicht fremd. Von diesen Stilmitteln machte er regen Gebrauch. In vielen Fällen ist Imagepflege gar Verrat an der Sache. Lob und Anerkennung sind zwar angenehm, stehen aber oft genug dem Guten im Wege. Selbstverständlich verdarb es sich Gotthelf wegen seiner Kritik auch mit der Obrigkeit. Er hatte sich stark gemacht um die Schule und vor allem um die Kinder, was zum Bruch mit der schulischen Obrigkeit führen musste.

Lehrer Johann Stucker: Beeindruckender Briefwechsel.

In seinem Brief vom 9. August 1841 an Lehrer Stucker, der sich im Seminar Kreuzungen seiner Weiterbildung widmete, schildert er, welche Erfahrungen er als Schulkommissär machen musste:

 «Da schnauzt uns das Erziehungsdepartement ab, zeigt das Volk uns die Zähne, hängen die Seminaristen einem heimlich die Nägel ein, und wenn man unverdrossen das Alles duldet, so hat man endlich den Lohn, dass es heisst: man sei ein verfluchter Pfaff. Und wenn es einer sagt, so sagen es alle halbgebackenen Helden nach, wie auch alle Frösche in einem Weiher quacken, wenn einmal einer angefangen hat. Unser Erziehungsdepartement hat einen Unterrichtsplan losgelassen und einige 40 Fragen, welche jährlich beantwortet werden müssen, und zwar über jede Schule. Es heisst, sie hätten das Formular dazu aus China express kommen lassen.»

Entlassung

1844 stellte Bitzius in der international bekannten «Pädagogischen Revue» von Dr. Karl Mager in einem anonymen Beitrag das bernische Schulwesen allzu drastisch an den Pranger und warf im gravierende Mängel und Pflichtversäumnisse vor. Damit brachte er das Fass zum überlaufen. Als Verfasser identifiziert, wurde er 1845 in verletzender Weise durch das verärgerte Erziehungsdepartement als Schulkommissär entlassen und durch einen jungen Vikar aus Oberburg ersetzt.

 

Den Kampf weitergeführt.

Der Kampf geht weiter

Nichtsdestotrotz beschäftigte sich Gotthelf weiterhin mit pädagogischen Angelegenheiten. Wenn Gotthelf Elend und Unglück sah, konnte er nicht tatenlos zusehen, er musste handeln und etwas verändern. Er wirkte stets vor dem Hintergrund seines starken christlichen Glaubens. Leben und Glaube bildeten für ihn eine Einheit. Im Namen der Gemeinde Lützelflüh verfasste er 1849 eine Eingabe zum geplanten neuen Schulgesetz von 1856 an den Grossen Rat.

Gotthelf hat mit seiner Polemik das bernische Schulwesen stärker gefördert als mancher, der mit seiner Kritik hinter dem Berg zurückhielt oder überhaupt kritiklos alles schluckte. Berechtigte Anliegen trennten Gotthelf von vielen Vertretern der jungen Lehrergeneration. Gegen ihren Standesdünkel, der oft umso grösser sich aufblähte, je kleiner und oberflächlicher Wissen und Bildung waren, gegen die sich überall breit machende  «Halbschoppenbildung» und «Pintenaufklärung» führte er einen Kampf, in dem es ihm um die besten Elemente des Berner Geistes ging. Der falschen, hochmütigen Ein-Bildung stellte er die einfache Herzensbildung gegenüber. Er hatte auch gegen den Eigennutz der Bauern, gegen die Vernachlässigung der Sommerschule, gegen Vorurteile und Mangel an Gemeinnützigkeit anzukämpfen.

Während der Reformzeit war Bitzius als engagierter Pfarrer, Bildungsplaner, Lehrer, Schulkommissär, Beobachter und Kritiker an der Entwicklung und Ausgestaltung des modernen Berner Schulsystems massgeblich beteiligt. Er engagierte sich Zeit seines Lebens unermüdlich für den Aufbau und die Verbesserung des bernischen Schulwesens. Mit seiner fordernden Art und seinem unerbittlichen Kampf geriet er immer wieder in Konflikt mit dem Erziehungsdepartement, den lokalen Behörden und Autoritäten der Schulpolitik.

Kritische Stimme im Berner Blätterwald

Im «Bauern-Spiegel» und im zweiten Roman «Leiden und Freuden eines Schulmeisters», die von 1836 bis 1838 entstanden, kommen alle sozialen und politischen Probleme zur Sprache, für deren Lösung sich Bitzius seit seiner Vikariatszeit engagierte und zu denen er seitdem in Zeitungen, Schul- und Vereinszeitschriften, Reden und Eingaben an das Berner Erziehungsdepartement Stellung nahm. Je weiter sich sein Ruhm als Erzähler verbreitete, desto hartnäckiger setzte er sich für die Verbesserung des Schulwesens ein, umso mehr wuchsen auch Furcht und Respekt vor seiner satirischen Stimme in mehr als 100 Zeitungsartikeln bis 1852 im Berner Blätterwald.

Bitzius kämpfte für die allgemeine Schulpflicht, notfalls mit Strafen für die säumigen Eltern – womit er sich natürlich nicht beliebt machte.

 Allgemeine Schulpflicht, neue Schulhäuser, mehr Lohn für Lehrer

Bitzius kämpfte für die allgemeine Schulpflicht, notfalls mit Strafen für die säumigen Eltern – womit er sich natürlich nicht beliebt machte. Zu Gotthelfs Zeiten behielten viele Bauern ihre Kinder für Hof- und Feldarbeiten zuhause, statt sie in die Schule zu schicken. Gotthelf verfügte über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und eine scharfe Beobachtungsgabe. Er porträtierte die Bauern in all ihren Facetten – nicht nur mit den Sonn-, sondern auch mit den Schattenseiten. Auch im Schulwesen lag damals vieles im Argen. So setzte sich Gotthelf für eine bessere Schulbildung ein. Auch auf der Seite der Lehrer gab es viele Missstände, da der Beruf wegen des geringen Lohns und Klassenzahlen von bis zu 100 Schülern in einem Raum unattraktiv war. So setzte sich Gotthelf für den Bau neuer Schulhäuser und die bessere Besoldung der Lehrenden ein. Zitat Gotthelf: «Ein Schulmeister ist denn doch kein Jagdhund, der am hungrigsten am besten jagt. Sondern sein Kopf steht bis auf einen gewissen Punkt in akkurat geradem Verhältnis zum Magen.»  Er konnte jedoch auch mit gutmütiger Ironie auf seine Schützlinge, die Schulmeister, bemerken, dass sie «bei höherer Besoldung nur längere Pfeifen anschaffen würden».

Gotthelf kritisierte das Fehlen von einheitlichen Unterrichtsplänen und den Wirrwarr von verwendeten Lehrmitteln mit spitzer Feder.

Einheitliche Unterrichtspläne und Lehrmittel

Gotthelf kritisierte das Fehlen von einheitlichen Unterrichtsplänen und den Wirrwarr von verwendeten Lehrmitteln mit spitzer Feder. An den Berner Schulen herrschte eine «babylonische Verwirrung». Er bemühte sich um eine Vereinheitlichung des Schulstoffes im Kanton Bern und setzte sich mit verschiedenen Schulbüchern auseinander.

Kampf gegen den Alkoholismus

Gegen den Alkoholmissbrauch

Gotthelf war gegen die Liberalisierung der Berner Wirtshausgesetzgebung, er bekämpfte den zu häufigen Wirtshausbesuch und den damit einhergehenden Alkoholkonsum von Lehrern und Schülern. So berichtete er in Briefen an das Erziehungsdepartement von Schülern, die regelmässig ins Wirtshaus gingen, sowie von Lehrern mit Alkoholproblemen. Einen konkreten Grund zur Kritik gab die Gemeinde Rüegsau. Dort befand sich der Gasthof näher am Schulhaus, als gesetzlich erlaubt war.

 Sozial verträgliche Massnahmen auf Gemeindeebene

Bitzius strebte nach direktem Wirken und konkreten Massnahmen auf Gemeindeebene. Eine sparsame, sozial verträgliche Gemeindepolitik sei der Prüfstein für die politische Kultur der Bürger, die auf zwei Säulen ruhen müsse. Einerseits werde sie durch Schulpflicht und ein einheitliches, breites Bildungsangebot erzeugt, andererseits griffen Schule und religiöse Unterweisung erst dann, wenn der soziale Zusammenhalt der Familie gesichert sei. Transparenz der Verwaltung, Anwendung der Gesetze und Kontrolle der Beamten seien vorrangig Aufgaben eines bürgernahen Staates.

Lebenswirklichkeit und zeitlose geistige Werte

Gotthelf blieb mit Namen und Schriften bis heute aktuell, während die Zeit über alle seine vielen Gegner hinweggegangen ist. Der Grund dafür ist einfach: Weil Gotthelf sich nicht für politische Ideologien oder theoretische Gesellschafts- und Wirtschaftskonstruktionen interessierte, sondern einzig für die Lebenswirklichkeit und die zeitlosen geistigen Werte, die diese Lebenswirklichkeit lebenswert machen.

Quellen:

Gustav Tobler: Jeremias Gotthelf und die Schule. Verlag Wyss, Bern 1906

Barbara Mahlmann-Bauer et al. (Hg.): Jeremias Gotthelf und die Schule. Katalog zur Ausstellung in der Gotthelf-Stube in Lützelflüh 2009. Bern 2009.

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Der Fall Rodriguez war kein Zufall. Er ist Symptom für ein System, das eine Reform dringend nötig hat https://condorcet.ch/2021/10/der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-er-ist-symptom-fuer-ein-system-das-eine-reform-dringend-noetig-hat/ https://condorcet.ch/2021/10/der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-er-ist-symptom-fuer-ein-system-das-eine-reform-dringend-noetig-hat/#comments Fri, 08 Oct 2021 10:04:08 +0000 https://condorcet.ch/?p=9443

Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier einen gut recherchierten Artikel des NZZ-Journalisten Niels Pfändler. Er beschreibt die Hintergründe zum Fall "Rodriguez" und zeigt auf, in welchem Masse der vom Condorcet-Blog oft kritisierte bildungspolitische "Überbau" sich der Schule bemächtigt hat. Das Ergebnis ist weder qualitätsfördernd noch ressourcenschonend.

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Niels Pfändler: Die Lösungen liegen in der Schublade.

Es klingt wie ein Lehrstück über Vetternwirtschaft: Ein hohes Behördenmitglied tritt freiwillig aus dem Amt, lässt sich von einem Gremium, das es selber präsidiert, in eine grosszügig bezahlte Stelle wählen und kassiert dafür auch noch eine Abfindung von 650 000 Franken. Genau so spielte sich die Geschichte ab – diesen Sommer in Zürich.

Der Fall des ehemaligen Schulpräsidenten des Schulkreises Uto, Roberto Rodriguez, schlug Ende Juli hohe Wellen. Selbst wenn die Abfindung von 3,5 Jahreslöhnen laut Verordnung rechtmässig war und der SP-Mann schliesslich auf die neue Stelle verzichtete, dürfte sich manch ein Beobachter über das bunte Treiben in der grössten Schweizer Stadt gewundert haben. Von Abzocke, Postenschacher und Machtmissbrauch war die Rede.

Das führt zu unklaren Verantwortlichkeiten, zu Ineffizienz und Doppelspurigkeit. Im schlimmsten Fall – und das hat der Fall Rodriguez bewiesen – auch zu Klüngelei.

Viele dürften im Zuge dieser Sommeraffäre gemerkt haben, wie kompliziert die Organisation der Stadtzürcher Schulbehörden ist. Das Konstrukt ist historisch gewachsen, mittlerweile ist es so unübersichtlich, veraltet und verschlungen, dass kaum jemand mehr den Durchblick hat. Das führt zu unklaren Verantwortlichkeiten, zu Ineffizienz und Doppelspurigkeit. Im schlimmsten Fall – und das hat der Fall Rodriguez bewiesen – auch zu Klüngelei.

Seit Jahrzehnten gibt es Versuche, das System zu reformieren. Bis jetzt erfolglos. Dabei wäre eine Neuerung dringend nötig. Denn die Organisation ist ein Konstrukt von vorgestern, das den Herausforderungen von morgen nicht gewachsen ist.

Ein stummer König

Zuoberst auf dem staubigen Thron der Zürcher Schulorganisation sitzt der Stadtrat und Schulvorsteher Filippo Leutenegger. Doch Leutenegger ist ein König ohne Macht. Denn bei vielem, was die Volksschule angeht, hat der FDP-Mann kaum etwas zu sagen.

Überholte Schulorganisation.

Das hat auch der Fall Rodriguez gezeigt. Er habe erst spät von den Vorgängen erfahren und danach gar nicht eingreifen können. Das beteuerte der Stadtrat in einem Interview mit der NZZ, und das lässt sich auch am verschachtelten Organigramm der Zürcher Schule festmachen: Rodriguez war einer von sieben Schulpräsidenten. Sie stehen in der Stadt Zürich den sieben Schulkreisen vor. Alle Präsidenten bilden zusammen mit dem Schulvorsteher die Schulpflege.

Ausserhalb dieses Gremiums hat Leutenegger aber kaum Einfluss. Denn die sieben Schulpräsidentinnen und Schulpräsidenten regieren in ihren sieben teilautonomen Schulkreisen auf derselben Hierarchiestufe wie die Schulpflege und geniessen dabei reichlich Freiheiten.

Eine Stadt, 175 Pestalozzis

Doch es wird noch komplizierter. Pro Kreis zählt jede Schulbehörde 25 Mitglieder. Mit insgesamt 175 Personen ist der Apparat deutlich grösser als das Stadtparlament mit seinen 125 Mitgliedern. Die Kreisschulbehörden gehören zwar alle zur selben Stadt, sie tüfteln aber vieles selber aus und agieren mitunter so, als ob sie in Pestalozzi-Manier die Schule neu erfinden müssten.

Der Schulkreis Waidberg pflegt neben einer Aufsichtskommission auch noch eine Kommission zur Integration fremdsprachiger Kinder und eine Verkehrskommission. Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch. Es umfasst 61 Seiten.

Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch: 61 Seiten!!!

Sie verfassen eigene Programme, Leitbilder und Geschäftsordnungen, in denen sie pädagogische Konzepte oder Richtlinien fürs Personal- und Krisenmanagement festhalten. Der Schulkreis Waidberg pflegt neben einer Aufsichtskommission auch noch eine Kommission zur Integration fremdsprachiger Kinder und eine Verkehrskommission. Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch. Es umfasst 61 Seiten.

Munteres Kompetenzenwirrwarr

Das Wirrwarr bei den Zuständigkeiten geht über die Stadtgrenze hinaus. Das zeigt sich bei der Frage, wer sich alles um die Qualität der Schulen kümmert. Beim Kanton heisst es, dass die Fachstelle für Schulbeurteilung «die Qualität der Schulen aus pädagogischer und organisatorischer Sicht» prüft. Bei der Stadt heisst es, dass das Schulamt «strategisch und operativ zuständig für die Qualität der städtischen Volksschule und für ihre Weiterentwicklung» sei. Und bei den Schulkreisen heisst es, dass die dortigen Behörden «verantwortlich für die Qualität der Schule» sind.

Ob so viel Qualitätssicherung die Qualität tatsächlich erhöht, sei dahingestellt. Jedenfalls steht in den Schulkreisen der bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis zu den Kompetenzen, welche den Behörden tatsächlich zukommen. Vor allem, weil ab 2022 eine ihrer wichtigsten Aufgaben wegfällt: die Beurteilung der Lehrerinnen und Lehrer. Neu sind die Schulleiter dafür zuständig. Ein längst überfälliger Schritt.

Filippo Leutenegger, Stadtrat FDP: Die Situation ist unbefriedigend, wenn nicht sogar unhaltbar.

Festklammern am Status quo

Die Mängel im System sind bekannt. Die Strukturen seien «unbefriedigend, um nicht zu sagen unhaltbar», sagte auch Filippo Leutenegger jüngst gegenüber der NZZ. Schon zwei seiner Vorgänger hatten probiert, einen Reformprozess anzustossen. Angeregt von einer Motion der SP und der AL im Gemeinderat, startete nun vor kurzem ein neuer Versuch.

Es spricht aber nicht viel dafür, dass sich grundlegend etwas ändern wird. Die Strukturen sind festgefahren, und die Meinungen darüber, wie sie entflochten werden könnten, gehen weit auseinander. Zudem ist der Status quo nicht nur für die Mitglieder der einzelnen Kreisschulbehörden, sondern auch für die Parteien lukrativ.

 

Ein Schulpräsident wie Roberto Rodriguez verdient gegen 190 000 Franken pro Jahr. Für die 24 nebenamtlichen Behördenmitglieder winkt nicht nur ein Einstieg in die städtische Politik, sondern auch ein jährlicher Verdienst von durchschnittlich 10 000 Franken, wie das Schuldepartement auf Anfrage bekanntgibt.

Das Geld lässt auch die Kassen der Parteien klingeln – allen voran der SP. Denn sowohl die Schulpräsidenten als auch die Mitglieder der Kreisschulbehörde sind vom Volk gewählt und gehören in den allermeisten Fällen einer Partei an. Die Sozialdemokraten stellen als stärkste Partei der Stadt die meisten Behördenmitglieder. Gegenwärtig gehören fünf der sieben Schulpräsidenten und rund ein Drittel der 175 Behördenmitglieder der SP an.

Nun muss man wissen, dass die SP von ihren Mitgliedern sogenannte Parteiausgleichsbeiträge verlangt. So will es das Reglement. Bei tieferen Einkommen von nebenamtlich tätigen Personen fällt das nicht so ins Gewicht. Vollamtliche Behördenmitglieder zahlen aber einen um 30 Prozent höheren Beitrag. Die Berechnungsskala ist öffentlich einsehbar. Es lässt sich deshalb beziffern, dass via die Mitglieder der Zürcher Kreisschulbehörden jährlich mehr als 100 000 Franken in die Parteikasse der SP fliessen.

Neben dem politischen Einfluss sind die Posten für die SP also auch finanziell attraktiv. Es ist deshalb naheliegend, dass manch einer in den Reihen der Partei wohl kein grosses Interesse daran haben wird, das System zu reformieren.

Angst vor der «Verwaltungsschule»

Wie wichtig die Parteizugehörigkeit in den Kreisschulbehörden nach wie vor ist, zeigt ein Blick auf den Schulkreis Letzi. Dort empfahl die abtretende Präsidentin, Barbara Grisch von der SP, einen Kandidaten von der FDP als Nachfolger. Das passte ihrer Partei nicht. In einem aufwendigen Wahlkampf hievte sie eine Genossin auf den Posten. Der Knatsch hatte Folgen für Grisch: Sie trat nach mehr als 25 Jahren aus der Partei aus.

Solche Spielchen wie in den Schulkreisen Letzi und Uto schaden dem Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden. Dabei wäre dieses heutzutage besonders wichtig. In den kommenden Jahren entstehen Dutzende neue Schulhäuser, und mit dem Ausbau der Tagesschulen verbringen die Kinder immer mehr Zeit in der Schule. Die demokratische Legitimation in der Bevölkerung und eine direkte Verbindung von Eltern und Schule sind deshalb unabdingbar.

Es ist aber fraglich, ob es dafür eine Behörde mit vielen Mitgliedern und wenig Kompetenzen braucht. Klar, das System ist historisch gewachsen. Das kann eine Erklärung sein, aber keine Ausrede. Nun bietet sich einmal mehr die Chance, eine Reform anzupacken. Sie sollte nicht verpasst werden.

Lösungen in der Schublade

Ansätze, wie das System künftig aussehen könnte, gibt es schon lange. Bereits im Jahr 2009 hat das Consulting-Unternehmen Ernst & Young zusammen mit dem Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich für die Stadt einen Bericht verfasst, der mehrere Szenarien für eine schlankere Schulstruktur präsentiert. Passiert ist seither wenig. Dabei könnte das 124 Seiten starke Dokument fast eins zu eins auf die Gegenwart angewendet werden.

Das favorisierte Modell sieht eine klare Führungslinie zwischen dem Schulvorsteher, dem Leiter des Schulamts, sieben parteiunabhängigen Schulkreisleitern und den Schulleitern vor. Eine demokratisch legitimierte siebenköpfige Schulpflege amtet als Rekursinstanz und beaufsichtigt die städtische Volksschule. Die Politik, die Eltern und das Schulpersonal wirken via Schulbeirat oder Elternräte direkt auf der Ebene der Schulen mit.

Dadurch entstehen klare Verantwortlichkeiten, die Parteipolitik erhält weniger Gewicht, und das ganze System wird entschlackt, ohne die Teilnahme der Bevölkerung zu verlieren. Meilen, Dübendorf, Volketswil, Kloten, Dietikon, Maur und viele weitere Gemeinden haben bereits seit längerem ein ähnliches System. Winterthur hat am Sonntag mit der Abstimmung zur neuen Gemeindeordnung einem vergleichbaren Modell mit einer Leitung Bildung zugestimmt.

Auch in Zürich liegen die Ideen für eine Abspeckkur schon lange auf dem Tisch – oder heute wohl eher verstaubt in irgendeiner Schublade der Behörden. Es ist Zeit, sie endlich wieder hervorzunehmen.

Niels Pfändler, Journalist NZZ

Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen:

https://www.nzz.ch/meinung/schulbehoerden-in-zuerich-der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-ld.1645905

 

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Wann gilt ein Bildungssystem als demokratisch? https://condorcet.ch/2021/08/wann-gilt-ein-bildungssystem-als-demokratisch/ https://condorcet.ch/2021/08/wann-gilt-ein-bildungssystem-als-demokratisch/#comments Tue, 31 Aug 2021 09:51:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=9241

Nach dem Beitrag von Condorcet-Autorin Yasmine Bourgeois über die Entmündigung des Stimmbürgers in Bildungsfragen beschäftigt sich nun unser "Haushistoriker" Peter Aebersold grundsätzlich mit der staatsrechtlichen Problematik der Bildungsausfsicht. Der Befund von Peter Aebersold ist klar!

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Aus der Perspektive einer demokratischen Organisation des Bildungssystems müssen drei Grundanforderungen erfüllt sein, damit es als demokratisch bezeichnet werden kann: Erstens eine Bildung für alle im Sinne der Rechtsgleichheit, zweitens eine Selektion aufgrund von schulischen Leistungen und drittens müssen die Instanzen, an die Kompetenzen delegiert werden, demokratisch legitimiert und kontrolliert werden. Letzteres gilt auch für Handlungsinstanzen wie Schulleitungen oder autonome Schulen.

Heinrich Grunhozer (1819 – 1873): Die Schule unserem Volke und der Jugen bekanntmachen.

Heinrich Grunholzer, einer der bekanntesten Vertreter der demokratischen Volksbildung in der Schweiz im 19. Jahrhundert sah deren Aufgabe folgendermassen: «Es ist die Aufgabe eines jeden Freundes der Volksbildung, unsere republikanischen Institutionen, unsere Verfassung und staatlichen Einrichtungen unserer Jugend und unserem Volke bekannt zu machen.» Die Schule wurde im 19. Jahrhundert von den liberalen Staatsgründern als «republikanische Institution» konzipiert. Das Wissen um die demokratische Konzeption und Legitimation der Schule kann trotz politischem Unterricht in der Schule bei den heutigen Diskussionen um Privatisierung, Autonomisierung und Ökonomisierung der Schule (New Public Management) offenbar nicht mehr vorausgesetzt werden.

Wie also steht es um die institutionelle Verfasstheit der Schule, wenn man staats- und verwaltungsrechtliche Überlegungen in den Vordergrund stellt?

In den 1830er Jahren wurden in vielen Kantonen liberale Verfassungen eingesetzt, welche das Volk als Souverän bezeichneten, ein Parlament als dessen Stellvertreter vorsah, Rechtsgleichheit einführten und die Vorrechte von Stand und Geburt abschafften. Diese Entwicklung wurde 1848 im neu gegründeten Bundesstaat schweizweit nachvollzogen. Die Rechtsgleichheit aller Bürger versuchte man mit einem modernen Bildungssystem umzusetzen.

Ludwig Snell (1785-1854): Republikanische Verfassungen brauchen ein gebildetes Volk.

Es war allgemein anerkannt, dass republikanische Verfassungen notwendig «ein Volk verlangen, welches einen Grad von Ausbildung zur Vernunft besitzt, der Freiheit und Humanität des Staates gewährleistet. Das in geistiger Hinsicht ein freies und selbständiges Urteil fällen kann und das in sittlicher Hinsicht so viel Selbstverleugnung erbringt, dass es im Stande ist, das Privatinteresse dem allgemeinen Wohl unterzuordnen» (Ludwig Snell 1834). Der Grundsatz der Rechtsgleichheit hat zu einer Totalreform der Volksbildung geführt, die auf der Grundlage von Vernunft und Freiheit beruht. «Der oberste Zweck aller öffentlichen Erziehung ist demnach: alle werdenden Bürger der allgemeinen gleichen Menschenbestimmung entgegen zu führen – oder mit anderen Worten: sie alle zur Würde freier Vernunftwesen auszubilden» (Ludwig Snell 1840).

Die Schulpflicht war bereits in den Landschulordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts verankert. Nun wurden die Instrumente zur Durchsetzung etabliert und das Schulsystem ausgebaut. Um die Bildung aller, mit den Zugängen zu mittleren und höheren Schulen, zu gewährleisten, mussten diese Schulen flächendeckend erst gegründet werden, wobei das Gymnasium vorerst ein Vorrecht der Städte blieb. Um die Landbevölkerung nicht zu benachteiligen, konnte etwa die Universität Bern um 1850 auch schon nach Abschluss einer Sekundarschule besucht werden.

Der Bildungsausbau und die Idee der Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit gehörten zum Kernprogramm der liberalen und radikalen Staatsträger des 19. Jahrhunderts.

Chancengleichheit: Zugang zur Bildung für alle

Der Bildungsausbau und die Idee der Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit gehörten zum Kernprogramm der liberalen und radikalen Staatsträger des 19. Jahrhunderts. Es war jedoch nie deren Meinung, dass jedermann die Universität besuchen solle. Zum politischen Programm gehörte auch, dass Stellung und Position in der Gesellschaft nicht mehr durch Stand und Geburt, sondern durch Leistung zugeteilt werden solle. Weil dies auch für die Bildungs- und Lebenschancen gelten soll und gleichzeitig allen, aus naturrechtlichen und staatspolitischen Gründen, zukommen soll, ergibt sich dadurch ein doppeltes Regelungsproblem, das auch heute noch für bildungspolitische Diskussionen sorgt: Um Bildung für alle zu ermöglichen, muss erstens ein «Bildungssockelniveau» für alle festgelegt werden, zweitens müssen die Zugänge zu höheren Bildungsinstitutionen etabliert werden, die nicht von allen, sondern nach erbrachten Leistungen besucht werden können. Damit ersetzt das moderne Bildungssystem die Vorrechte von Geburt und Stand durch die Leistung.

Die Verfassungen garantieren zwar Rechtsgleichheit, jedoch nicht Gleichheit der Individuen.

Die Verfassungen garantieren zwar Rechtsgleichheit, jedoch nicht Gleichheit der Individuen. Da sich Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen individuell unterscheiden, ergeben sich daraus die Fragen, wieviel Bildung allen zu kommen soll und wie der Zugang zur höheren Bildungsinstitutionen geregelt werden soll.

Wieviel Bildung kommt allen zu, unabhängig von ihren Leistungsmöglichkeiten und -grenzen?

Die neunjährige Volksschulzeit als Bildungssockelniveau (Sekundarstufe I) konnte in der Schweiz nach 150jährigem Kampf während der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit durchgesetzt werden. Für eine reale Chance auf dem heutigen Arbeitsmarkt ist jedoch eine Ausbildung auf der Sekundarstufe II (Berufs- und Mittelschulen) quasi obligatorisch. 90% der Jugendlichen haben einen Abschluss auf Sekundarstufe II. Für die übrigen 10% wurden niederschwellige Ausbildungsangebote geschaffen.

Wie wird der Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen demokratisch geregelt?

Das moderne Bildungswesen hat die Mechanismen Selektion und Berechtigung eingeführt, um unter den Bedingungen der Rechtsgleichheit auf unterschiedliche Berufe und soziale Positionen vorzubereiten. Damit soll mit derselben Ausbildung auf unterschiedliche Berufe vorbereitet und allen dieselbe Ausbildung (bis zum Universitätsabschluss) ermöglicht werden.

Das Selektionsproblem, das beim alten ständischen System der Schule vorgelagert war, wurde nun in die Schule hineinverlagert und dort seit 1830 mit einer Selektion von Schulstufe zu Schulstufe.

Das demokratische Schweizer Schulsystem wurde von Condorcet übernommen

Im Zuge der Demokratisierung wurde das traditionelle ständische Modell mit der vertikalen Gliederung, das für unterschiedliche Berufe unterschiedliche Schultypen von der Einschulung an vorsah, allmählich in ein horizontal gegliedertes Schulsystem umgewandelt. Dieses moderne, demokratische System, das der Schweizer Schulrefomer Grégoire Girard von Condorcet übernommen hatte, brachte das Problem von Selektion und Berechtigung zwischen den Schulstufen. Das Selektionsproblem, das beim alten ständischen System der Schule vorgelagert war, wurde nun in die Schule hineinverlagert und dort seit 1830 mit einer Selektion von Schulstufe zu Schulstufe. Wer die Selektion nicht schaffte, verliess die Schule und wechselte in die Arbeitswelt. Mit der allmählichen Verlängerung der Schulpflicht wurden unterschiedliche Schultypen geschaffen, die wiederum die Notwendigkeit auf Selektion erhöhten.

Reduktion der Selektivität

In neuerer Zeit wurden im Selektionsbereich tiefgreifende Veränderungen vorgenommen: Selektionshürden wurden abgebaut, Selektionsinstanzen werden anders gewichtet, die Selektion wurde von der Gesamtnote auf die Hauptfächer eingegrenzt und zusätzlich weiche Kriterien wie die Sozial- und Selbstkompetenz einbezogen. Diese Entwicklungen sind für ein demokratisches Bildungssystem an und für sich schon problematisch.

Mit dem Übergang zur Kompetenzorientierung werden der Selektion die Grundlagen völlig entzogen: Erstens können die Leistungen nach Fächern nicht mehr gemessen werden, weil die Fächer abgeschafft werden und zweitens bleibt die Ableitung der Zeugnisnoten von den Kompetenzen ein Ermessensentscheid und kann weder mathematisch noch sonst wie nachvollzogen und kontrolliert werden, womit die Rechtsgleichheit nicht mehr gegeben ist.

Mit der Reduktion der Selektivität schleicht sich die Schule und die Lehrprofession aus der Verantwortung für die Zuweisung von gesellschaftlichen Chancen durch Bildung davon. Damit entsteht nicht eine klassenlose Gesellschaft ohne Hierarchie, wie man Ende der 1960er Jahr noch glaubte, sondern die Selektion wird von den kompetenzorientierten Bildungseinrichtungen zu den nachfolgenden Institutionen (Gymnasium, Hochschule, Lehrbetrieb usw.) verschoben. Diese müssen sich, weil Kompetenzbenotungen wenig aussagefähig sind, mit Zugangsprüfungen Klarheit verschaffen, womit die Chancengleichheit nicht mehr gewährleistet ist. Die Frage ist nicht, ob durch Selektion gesellschaftlichen Positionen zugewiesen werden oder nicht, dies geschieht so oder so.

Geringere Selektivität macht das Bildungssystem nicht gerechter.

Wer selektioniert mit welcher Legitimation?

Die Lehrerschaft ist durch ihre Ausbildung für die Durchführung der Selektion am besten qualifiziert und kennt die Schüler und ihr persönliches Umfeld. Diese Funktion ist mit viel Sozialprestige verbunden und machte einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Einflusses der Lehrerschaft aus. Wird diese Funktion nicht wahrgenommen, schadet es dem Beruf und der Schule als Institution. Die Öffnung des Bildungssystems durch die Reduktion der Selektivität erhöht die Chancen der unteren Sozialschichten nicht, sondern der Zugang zur höheren Bildung wird für alle erleichtert bzw. das notwendige Leistungsniveau wird herabgesetzt. Geringere Selektivität macht das Bildungssystem nicht gerechter.

Mechanismus der Berechtigungen

Neben der Selektion gibt es die Berechtigungen, die die Selektion ersetzen können. Die Selektion erfolgt bei den Berechtigungen nicht durch die aufnehmende sondern durch die abgebende Institution. In der Schweiz ist das klassische Beispiel die Matur, weil sie zu einem allgemeinen Hochschulzugang (ohne Zugangsprüfung) berechtigt. Das Problem in Sinne einer demokratischen Regelung bei den Berechtigungen ist, dass sie bei den verschiedenen Ausbildungstypen auf der Sekundarstufe II nicht einheitlich geregelt sind. Das Gymnasium hat aufgrund der von ihm definierten Eingangsselektion und abgebenden Berechtigung eine starke Position im Schweizer Bildungswesen und weil es ihm bisher gelungen ist, die Selektivität hoch zu halten.

Condorcets Ideen zielten in die Richtung einer unabhängigen Gewalt (Edukative), die die öffentliche Kontrolle der Bildungsinstitutionen gegenüber den drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) gewährleisten sollte.

Selektion und Berechtigung aufgrund von Leistung ist die notwendige Ergänzung des Bildungssystems zur Forderung nach Bildung für alle. Nur beide Prinzipien zusammen ermöglichen die Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit sowie die Berücksichtigung der individuellen Unterschiede im System ohne falsche Nivellierung. Nur zusammen ermöglichen sie ein Bildungssockelniveau für alle flächendeckend zu realisieren und gleichzeitig die Lernstarken zu fördern sowie eine faire Zuweisung von Bildungschancen auf objektivierbaren Kriterien.

Weiche Kriterien für Selektionsabbau

Demokratische Bildungspolitik und öffentliche Kontrolle

In einer Demokratie gibt es drei zentrale Grundprinzipien zur Machtausübung: Erstens muss die Macht demokratisch legitimiert sein, zweitens muss sie durch Teilung beschränkt werden und drittens muss sie mit verschiedenen Mechanismen kontrolliert werden können. Die Kontrolle der Kompetenzen durch demokratische Mechanismen waren eine der Stärken der traditionellen Bildungsorganisation. Die theoretische Begründung dieses Modells geht auf Condorcet zurück und wurde in der Helvetik im Projekt für die öffentlichen Schulen übernommen und in den 1830er Jahren in den liberalen Kantonen eingeführt. Condorcets Ideen zielten in die Richtung einer unabhängigen Gewalt (Edukative), die die öffentliche Kontrolle der Bildungsinstitutionen gegenüber den drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) gewährleisten sollte.

Zentraler Aspekt ist die Legitimation der einzelnen Instanzen und deren Kompetenzen (Entscheidungsbefugnisse) im System. Der Grad der Öffentlichkeit hängt vom Verhältnis zwischen der direkten Legitimation durch Volkswahl und der abgeleiteten Legitimation ab und welche Kompetenzbereiche direkt und welche nur indirekt demokratisch legitimiert sind. Instanzen mit wichtiger bildungspolitischer Steuerungs- und Kontrollfunktion werden normalerweise durch Volkswahl legitimiert. Neben Parlament und Regierung sind in den kantonalen Schulsystemen auch die Schulpflegen/-kommissionen (auf kommunaler Ebene) direkt-demokratisch legitimiert. Letztere bilden zusammen mit den von den kantonalen Verwaltungen eingesetzten Schulinspektoraten die Schulaufsicht.

Die Legimitation

Die Bildungsverwaltung und die Lehrerschaft haben nur eine abgeleitete Legitimation. Die Verantwortung für die Steuerung des Systems liegt bei den demokratisch legitimierten Instanzen, denen diejenigen mit abgeleiteter Legitimation hierarchisch untergeordnet sind. Für die abgeleitete Legitimation (Verwaltung, Lehrerschaft, Schulleitung) besteht normalerweise eine Rechenschaftspflicht. Macht- und Steuerungsmittel der Lehrerschaft sind der Unterricht nach Lehrplan, die Möglichkeit von Schwerpunktsetzungen, die freie Methodenwahl sowie die Selektion und Berechtigung, wobei ihr im Umfang der Reduktion der Selektivität Steuerungsmöglichkeiten entzogen werden.

Die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist von der öffentlichen Kontrolle und der demokratischen Legitimation abhängig.

Die Instanzen mit abgeleiteter Legitimation werden in der Regel durch ihre übergeordneten Instanzen mit direkter demokratischer Legitimation kontrolliert. Kompetenzdelegation ist immer mit Kontrolle verbunden, die damit die Kompetenzdelegation demokratisch legitimiert. Die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist von der öffentlichen Kontrolle und der demokratischen Legitimation abhängig.

Konsequenzen für eine demokratische Organisation des Bildungssystems

Das traditionelle Verständnis über Demokratie und Bildung begann mit der Forderung nach Schulen für alle. Als diese Forderung mit der Schulpflicht erfüllt war, ging es um die Dauer der Schulbesuchspflicht, die mit einem «genügenden Primarunterricht» in der Bundesverfassung von 1874 festgeschrieben wurde. Neben dem Ausbau des Bildungssystems wurde die Funktion der Bildung im Hinblick auf den demokratischen Staat diskutiert. Weil sich alle Bürger an den politischen Entscheiden beteiligen konnten, sollte die nationale Erziehung tugendhafte und demokratisch gesinnte Staatsbürger erziehen. Die Schüler sollten im Sinne einer kleinen politischen Gemeinschaft unterrichtet werden. Seit den 1960er Jahren soll ein demokratisches Bildungswesen die Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss für alle Sozialschichten gewährleisten.

Die neueren Diskussionen um die Steuerungsmechanismen im Bildungswesen (Schulleitungen, Schulautonomie usw.) zielen auf die Organisation des Bildungswesens und nicht mehr auf eine demokratische Erziehung der Individuen im System.

Die neueren Diskussionen um die Steuerungsmechanismen im Bildungswesen (Schulleitungen, Schulautonomie usw.) zielen auf die Organisation des Bildungswesens und nicht mehr auf eine demokratische Erziehung der Individuen im System. Das Ziel wurde eine Bildung für alle auf der Sekundarstufe II. Dem wirkt die Verringerung der Selektivität der Schule entgegen, weil ein sozialer Ausgleich nur möglich ist, wenn die Schule weiterhin und aufgrund von schulischen Leistungen selektioniert. Zugang für alle, Selektion und Berechtigung müssen dem Anspruch auf ausgewogene Freiheit und Gleichheit genügen, nur dann ist ein demokratisches Bildungssystem realisierbar. Freiheit bedeutet, dass nicht alle, die im Rennen gestartet sind, auch gleichzeitig am Ziel ankommen. Solchen Differenzen dürfen in einem demokratischen Bildungssystem nur aufgrund von Schulleistungsunterschieden entstehen, weshalb dieses der Selektion aufgrund von Leistung einen hohen Stellenwert einräumt.

Machtkonzentrationen bei den Behörden sind eine Gefahr für die Demokratie

Demokratische Legitimation, Kompetenzdelegation, Steuerungsmöglichkeiten und demokratische Kontrolle stehen in der bisherigen Organisation des Bildungswesens in einem ausgewogenen, labilen Gleichgewicht zueinander. Hohe Entscheidungsbefugnisse erfordern nach der modernen, demokratischen Staatstheorie eine direktdemokratische Legitimation, damit die Macht demokratisch legitimiert ist. Machtkonzentrationen bei den Behörden sind eine Gefahr für die Demokratie, deshalb hat man die Grundsätze der Gewaltentrennung, die Rechenschaftspflicht der Behörden und die Öffentlichkeit des Staatshaushaltes eingeführt.

Seit den 1990er Jahren werden immer mehr direktdemokratische Instanzen abgeschafft oder entmachtet (Abschaffung der Lehrerwahl, der Bezirksschulpflege und der Schulgemeinden, Entmachtung der Schulpflegen usw.) und durch solche mit abgeleiteter Legitimation ersetzt (Schulleiter, «professionelle» Schulaufsicht usw.).

Pseudodemokratische Instanzen, die nicht delegiert und nicht kontrolliert werden, sich selber «legitimieren» (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz SBBK usw.)

Mangelnde Legitimation

Gleichzeitig werden neue, pseudodemokratische Instanzen geschaffen, die nicht delegiert und nicht kontrolliert werden, sich selber «legitimieren» (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz SBBK usw.) und Kompetenzen geben (Einheitslehrplan 21, Berufsbildung 2030, Kompetenzorientierung usw.). Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass für die flächendeckende Durchsetzung des Lehrplans 21 extra die D-EDK geschaffen wurden, die sich dazu mit einer «Verwaltungsvereinbarung» selber eine gesetzliche Grundlage «im weiteren Sinne» schuf, die als «interkantonales Soft Law» mit Demokratiedefizit gilt, weil weder Parlamente noch das Volk darüber abstimmen konnten.

Wenn man sich über die staatsrechtliche Dimension des Problems hinwegsetzt, darf man sich nicht darüber beklagen, wenn die Lehrer nicht mehr als öffentliche Personen wahrgenommen werden.

Wenn Reformen (Einheitslehrplan 21, KV-Reform 2022, Berufsbildung 2030 usw.) und Diskussionen über Schulautonomie, New Public Management, «neue Steuerung» (Soft Governance) auf Bundesebene, «Professionalisierung» der Schulaufsicht, Abschaffung von Schulpflegen und Noten usw. die Schule ausserhalb des demokratischen Legitimationssystems versetzt, wird sie als öffentlich-demokratische Institution aufs Spiel gesetzt, ohne dass man sich der Tragweite dieser Entwicklung bewusst ist. Wenn man sich über die staatsrechtliche Dimension des Problems hinwegsetzt, darf man sich nicht darüber beklagen, wenn die Lehrer nicht mehr als öffentliche Personen wahrgenommen werden, wenn die Bürger bei der Finanzierung der öffentlichen Schule zurückhaltend werden sowie die Schule mit privatwirtschaftlichen Institutionen (Profit Center) verwechselt wird, die beliebig nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisiert werden kann und bei der die Chancengleichheit auf der Strecke bleibt: Heute besucht im Schulkreis Zürichberg rund jedes sechste Kind eine Privatschule. In Schwamendingen nicht einmal jedes fünfunddreissigste.

 

Quellen:

Lucien Criblez: Anforderungen an eine demokratische Bildungsorganisation. In: Jürgen Oelkers und Fritz Osterwalder [Hrsg.]: Bildung, Öffentlichkeit und Demokratie. Beltz, Weinheim 1998,

Ursula Hofer: «Instruction publique» im französischen Modernisierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. «La leçon de Condorcet».

Tonia Bieber: “Soft Governance in Education”. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland. „Staatlichkeit im Wandel“ − „Transformations of the State“ Bremen, 2010

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Abzockerei und Vetternwirtschaft im Bildungswesen https://condorcet.ch/2021/07/abzockerei-und-vetternwirtschaft-im-bildungswesen/ https://condorcet.ch/2021/07/abzockerei-und-vetternwirtschaft-im-bildungswesen/#comments Fri, 30 Jul 2021 07:10:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=9087

Der Zürcher Kreisschulpräsident des Schulkreises Uto, Roberto Rodriguez, lässt sich von der Behörde, welcher er vorsteht, zum Schulleiter wählen und kassiert obendrauf eine Abfindung von 650'000 Fr. Der Condorcet-Blog bat die Condorcet-Autorin, Lehrerin, Schulleiterin und FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois, ihre Sicht der Dinge darzulegen.

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Yasmine Bourgeois, Mittelstufenlehrerin, Gemeinderätin der FDP in Zürich: Motion war schon lange eingereicht

Die Schlagzeile verbreitete sich schnell. Ebenso die allgemeine Empörung. Der abtretende Präsident der Stadtzürcher Kreisschulbehörde im Schulkreis Uto liess sich von seiner eigenen Schulbehörde als zukünftiger Schulleiter anstellen. Zugleich kassiert er eine überrissen hohe Abfindung in der Höhe von 650’000 Franken. Die gesetzlich verankerte Abfindung kann Rodriguez nicht angelastet werden. Höchstens, dass er sich diese, vermutlich, um Steuern zu sparen, in Raten auszahlen lassen will.

Die Abfindungen sollen verhindern, dass Politiker, welche schon länger im Amt sind, nicht zu Sesselklebern werden, aus Angst, keinen anderen Job mehr zu finden.

Die Abfindungen sollen verhindern, dass Politiker, welche schon länger im Amt sind, nicht zu Sesselklebern werden, aus Angst, keinen anderen Job mehr zu finden. Je länger man im Amt und je älter man ist, desto schwieriger wird es, sich neu zu orientieren. Bedenkt man, dass Politiker ständig unter Beobachtung stehen und bereits der kleinste Fehler von der Öffentlichkeit genüsslich kritisiert, gedreht, gewendet und verbreitet wird, könnte man argumentieren, dass Abfindungen ein Zückerchen für diese doch dann und wann unangenehme Kehrseite der Medaille darstellen dürften. Doch wer sich auf die Politik einlässt, kennt alle Vor- und Nachteile, und ein Fallschirm in dieser Höhe kann nicht mehr zeitgemäss sein und ist gegenüber den Steuerzahlern, welche in den meisten Fällen selbst nie in den Genuss eines Fallschirms kämen, ein Affront.

So reichten zwei Gemeinderäte im Jahr 2018 eine Motion ein, die forderte, Abfindungen von Behördenmitgliedern auf maximal zwei Jahresgehälter zu kürzen.

So reichten zwei Gemeinderäte im Jahr 2018 eine Motion ein, die forderte, Abfindungen von Behördenmitgliedern auf maximal zwei Jahresgehälter zu kürzen. Die Forderung wurde vom Rat mit einer Textänderung in einer abgeschwächten Form überwiesen. Der Stadtrat hätte für die Ausarbeitung einer Weisung zwei Jahre Zeit gehabt, beantragte aber eine Verlängerung bis November 2021. Gemäss Aussagen von Politikern aller Parteien dürfte aber zumindest darüber Konsens herrschen, dass in Zukunft keine so hohen Summen mehr spendiert werden.

Wie steht es aber mit dem Vorwurf der Vetternwirtschaft? Es mutet schon etwas seltsam an, wenn ein abtretender Präsident einer Behörde sich von ebendieser Behörde einen Job zuspielen lässt. Selbst wenn der Betroffene in den Ausstand tritt, kann die Befangenheit nicht aus dem Weg geräumt werden.

Der zuständige Stadtrat betont, dass er den Schritt nicht hätte verhindern können, weil die Kreisschulpräsidien mit ihren Schulkreisen praktisch autonom seien. Im ganzen Kanton Zürich stellt man sich inzwischen in immer mehr Gemeinden die Frage, in welcher Form an den Schulpflegen festgehalten werden soll.

Seit die Schulen von professionellen Schulleitungen geführt werden, die neuerdings auch für die Mitarbeiterbeurteilung die alleinige Verantwortung tragen, sind Aufgabenspektrum und Verantwortlichkeiten der Schulpflege bedeutend geschrumpft.

Seit die Schulen von professionellen Schulleitungen geführt werden, die neuerdings auch für die Mitarbeiterbeurteilung die alleinige Verantwortung tragen, sind Aufgabenspektrum und Verantwortlichkeiten der Schulpflege bedeutend geschrumpft. Bereits heute ringen die verschiedenen Parteien um geeignete Kandidaten. Mit dem Wegfall der Mitarbeiterbeurteilung wird dieses Problem in Zukunft wohl verschärft. Einige Gemeinden sind bereits zur Tat geschritten und haben eine grundsätzliche Reorganisation der Schulbehörden eingeleitet. So zum Beispiel die Stadt Winterthur. Dort wird es, sofern die Vorlage beim Volk durchkommt, in Zukunft nur noch eine siebenköpfige Schulpflege für die ganze Stadt geben, die aus sechs Mitgliedern und einem Stadtrat bestehen wird. Den Schulleitungen in den vier Stadtkreisen wird je ein Leiter Bildung vorstehen. Diese Zwischenstufe – quasi ein Schulleiter für mehrere Schuleinheiten – wurde im Kanton Zürich jüngst als Option für grössere Gemeinden eingeführt.

Ob sich so ein Modell im ganzen Kanton bewähren würde? Die Stadt Zürich ist daran, eine Behördenreorganisation durchzuführen – aufgrund von Corona mit grossen Verzögerungen.

Aus liberaler Sicht gibt es beim Modell der Stadt Winterthur nicht nur Vorteile. Die Schulleitungen werden neu Beamten unterstellt.

Aus liberaler Sicht gibt es beim Modell der Stadt Winterthur nicht nur Vorteile. Die Schulleitungen werden neu Beamten unterstellt. In den letzten Jahren haben es liberale Kreise gänzlich verpasst, Schlüsselpositionen in der Bildung zu besetzen. Der Einfluss der meist ideologisch gesteuerten pädagogischen Hochschulen auf die Entwicklungen im Bildungssystem ist daher enorm. Was die PH’s predigen, wird an der Politik vorbeigeschleust und in der Praxis kaum hinterfragt. Kreative Beurteilungssysteme, die Abschaffung von Hausaufgaben, schulische Integrationsmodelle und vieles mehr. Schliesslich klingt zügellose Reformpädagogik gut und schön – man weiss es schliesslich auch nicht besser. Wer sich auskennt, kommt von einer der zahlreichen PH’s und hat die gut klingenden, praxisfernen Theorien bereits als Religion einverleibt. Und wer sich wehrt, wird als Ewiggestriger in die Schmuddelecke gestellt. Dies alles würde eher dafür sprechen, die echte Milizfunktion der Schulbehörden beizubehalten und allenfalls zu stärken, damit in Zukunft die Bodenhaftung der Volksschule nicht noch ganz verloren geht.

 

 

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