Salamanca - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 27 Dec 2019 15:50:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Salamanca - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Plattitüden aus dem Elfenbeinturm https://condorcet.ch/2019/12/plattitueden-aus-dem-elfenbeinturm/ https://condorcet.ch/2019/12/plattitueden-aus-dem-elfenbeinturm/#respond Fri, 27 Dec 2019 15:50:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=3460

Am 23. Oktober 2019 hat der Basler Grosse Rat mit 72 gegen 12 LDP- Stimmen eine Motion an die Regierung überwiesen, die verlangt, dass in der Verordnung „über die Schulung und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Bildungsbedarf“ Kleinklassen als Förderangebot wieder eingeführt werden. Alles nur Nostalgiker? Nach Meinung der Volksschulleitung würde es sich […]

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Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge

Am 23. Oktober 2019 hat der Basler Grosse Rat mit 72 gegen 12 LDP- Stimmen eine Motion an die Regierung überwiesen, die verlangt, dass in der Verordnung „über die Schulung und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Bildungsbedarf“ Kleinklassen als Förderangebot wieder eingeführt werden.

Alles nur Nostalgiker?

Nach Meinung der Volksschulleitung würde es sich bei dieser Reform um „einen massiven Rückschritt“ in „frühere, oft auch leicht glorifizierte Zeiten“ handeln. Die 72 renitenten Parlamentarier aus (fast) allen Parteien müssen zerknirscht zur Kenntnis nehmen, dass sie zur offenbar unheilbaren Spezies der Nostalgiker zählen, die noch immer einer versunkenen pädagogischen Welt nachtrauern.

Und viele ehemalige Lehrkräfte haben sicher mit grösstem Erstaunen gelesen, dass die Kleinklassen „gegen Ende ihres Bestehens (…) schon damals nicht mehr angemessen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen reagieren“ konnten.

Eine Replik geht in der Regel auf die Argumente der Gegenseite ein und versucht, sie mit Fakten zu widerlegen. Im vorliegenden Fall wird aber ausser Worthülsen und warmer Luft nichts geboten.

Die Selbstbeweihräucherung aus der Schreibstube des Erziehungsdepartements („BaZ“, 17. Dezember 2019) war wohl ursprünglich als Antwort gedacht auf den Gastbeitrag von Riccardo Bonfranchi und mir vom vergangenen Samstag, in dem wir die Abschaffung der Kleinklassen als „bildungspolitischen Irrweg“ bezeichneten. Eine Replik geht in der Regel auf die Argumente der Gegenseite ein und versucht, sie mit Fakten zu widerlegen. Im vorliegenden Fall wird aber ausser Worthülsen und warmer Luft nichts geboten.

In Anlehnung an den bekannten Dokumentarfilm „Die Wüste lebt“ (Walt Disney, 1953) beginnen Dieter Baur und Doris Ilg ihre schönfärberische Beschreibung der Basler Schullandschaft mit dem Satz „Die integrative Schule lebt.“ Zahlreiche positive Rückmeldungen aus der Lehrerschaft auf unseren Artikel zeigen dagegen eindrücklich, wie weit sich die Bildungsbürokratie von der schulischen Realität entfernt und Augen und Ohren vor den Problemen in den Klassenzimmern verschlossen hat. „Die Wirklichkeit“, zitiere ich nochmals Marcel Proust, „ dringt nicht in die Welt des Glaubens.“

Kein Wort verlieren die Bewohner des Elfenbeinturms über die blamablen Ergebnisse der ersten schweizerischen Erhebung der Grundkompetenzen in der Volksschule. Die „Neue Zürcher Zeitung“ wählte für ihren Bericht eine drastische Überschrift: „Katastrophales Zeugnis für die Basler Schulen“. (NZZ, 24.5.2019)

Blamable Ergebnisse

Zur Erinnerung: Schüler aus Freiburg, Wallis und Appenzell Innerrhoden beweisen sowohl in Mathematik wie bei den Sprachen überdurchschnittliche Kompetenzen. Die rote Laterne schwenken die Schülerinnen und Schüler beider Basel und aus Solothurn. Bei den Schülern aus Basel-Stadt leuchtet die Lampe sogar dunkelrot. In Mathematik genügt nicht einmal die Hälfte der Schüler den Anforderungen, aber auch bezüglich der Sprachkompetenzen wird weniger erreicht als in fast allen anderen Kantonen.

Merkel lässt grüssen

Das Erziehungsdepartement hat die Abschaffung der Kleinklassen und der Einführungsklassen stets damit begründet, dass sie die Forderungen des Behindertengleichstellungsgesetzes erfüllen müsse. Diese Massnahmen seien, Angela Merkel lässt grüssen, alternativlos. „Freiheitlich angelegte demokratische Strukturen“, wendet hier mein verehrter Heilpädagogik-Lehrer Emil E. Kobi ein , „vertragen sich nicht mit ekklesialen Alleinseligmachensansprüchen.“ (Heilpädagogik online 02/08)

Die UN-Konvention von Salamanca verlangte keineswegs die Liquidierung der Sonderschulen.

Stillschweigend geht die Volksschulleitung auch an unserem Einwand vorbei, dass die UN-Konvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 an keiner Stelle die Liquidierung der Sonderschulen verlangt hat. Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische und räumliche Fragen, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden. Es kann wohl nicht wirklich an einer UN-Konferenz in der Universitätsstadt in Kastilien-León entschieden werden, welche spezifischen Schulformen in Basel-Stadt oder Riehen notwendig und erlaubt sind.

Dieter Baur, Leiter Volksschulen, Erziehungsdepartement der Stadt Basel: “Diffamieren, wenn man keine Argumente hat:”

Banalitäten und Durchhalteparolen

Zum krönenden Abschlusses eines Artikels voller Banalitäten und Durchhalteparolen werden die Verfasser nochmals unverschämt. Sie diskreditieren die fundierten Argumente zweier Heilpädagogen mit jahrzehntelanger Erfahrung als „rückwärtsgerichteten Blick in vergangene Zeiten“, der den Lehrerinnen und Lehrern im Alltag weniger helfe als ihre departementale Anerkennung.

Diese Platte kennen wir doch: Kritikern der integrierten Schule nach dem Gusto der Obrigkeit, die sich nicht vorbehaltlos der karikativ-missionarischen Agitation unterwerfen und sich einem „romantisierenden Idealismus“ (Emil E. Kobi) verweigern, werden Vorurteile, falsches Bewusstsein, Aberglaube, antiquiertes Denken und mangelnde geistige Beweglichkeit vorgeworfen.

Eine ernsthafte Debatte kann mit Drohgebärden gegen aufmüpfige Lehrkräfte und mit lammfrommen, ED-hörigen „Gewerkschaften“ allein jedenfalls nicht geführt werden.

 

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Abschaffung der Kleinklassen: Ein bildungspolitischer Irrweg https://condorcet.ch/2019/12/abschaffung-der-kleinklassen-ein-bildungspolitischer-irrweg/ https://condorcet.ch/2019/12/abschaffung-der-kleinklassen-ein-bildungspolitischer-irrweg/#comments Wed, 11 Dec 2019 19:18:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=3245

Diesmal ein Text zweier Condorcet-Autoren, beides ehemalige Heilpädagogen, beide mit grosser Berufserfahrung und beide Rufer in der einsamen Wüste, als man die Kleinklassen abgeschafft hat. Roland Stark und Riccardo Bonfranchi über einen fatalen Reformschritt.

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Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge
Riccardo Bonfranchi

Wissen Sie, was “postfaktisch” bedeutet? Das Adjektiv beschreibt Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Meinungen beeinflusst wird.

Uns scheint es, dass insbesondere bei der Diskussion über Vor- und Nachteile der schulischen Integration von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen postfaktisches Vorgehen angesagt ist. Dies wird der enormen Bedeutung der Sache aber nicht gerecht. Es sollen hier deshalb einige uns  relevant erscheinende Gründe ohne ideologische Verklärung oder Überhöhung dargestellt werden. Dabei soll, quasi als unser erkenntnisleitendes Interesse, offen gelegt werden, dass wir die Aufhebung und Schliessung von Institutionen, in denen diese Kinder und Jugendliche über Jahrzehnte fachlich fundiert und auch immer wieder erfolgreich gefördert und beschult worden sind, für falsch halten.

Von welchen Institutionen sprechen wir?

Es geht um die Abschaffung der Kleinklassen, der Einführungsklassen, um Reorganisationen beim Logopädischen Dienst, bei der Psychomotorik und auch bei der Sprachheilschule sowie in Bezug auf die Berufsfindung die Werkjahre.

Lernbehinderte Kinder und Jugendliche in einem grossen Klassenverband von mehr als 20 Mitschülern können nicht im gleichen Masse gefördert werden, wie wenn sie sich z.B. zu acht in einer Klasse befinden.

Zu welchen Auswirkungen hat das Verschwinden dieser Institutionen geführt?

Wir können hier nicht auf jede Einzelheit eingehen, sondern beschränken uns auf Aussagen, wie wir sie von den Menschen in der Praxis immer wieder gehört haben. Da ist zum einen der Fakt, dass lernbehinderte Kinder und Jugendliche in einem grossen Klassenverband von mehr als 20 Mitschülern nicht im gleichen Masse gefördert werden können, wie wenn sie sich z.B. zu acht in einer Klasse befinden. Die heilpädagogische Begleitung, die einem Kind für einige Stunden in der Woche zusätzliche Unterstützung bieten soll, kann aber nur einigermassen erfolgreich arbeiten, wenn sie das Kind aus der Klasse herausnimmt. Sie geht dann mit ihm ins Kopierräumchen oder irgendwo anders hin. Doch ist es dann nicht integriert. Bleibt sie mit ihm in der Klasse, so führt dies zu einer zusätzlichen Unruhe während des Schulbetriebs. Denn es sind ja noch eine Reihe von anderen (heil-)pädagogisch tätigen Erwachsenen in der Klasse, wie z. B. eine Person, die sich um ein “integriertes” geistig behindertes Kind kümmert, eine Person, die Deutsch für Ausländer erteilt etc. Eine Dilemma-Situation sondergleichen. Es geht zu wie am Bahnhof. Schüler und Erwachsene kommen und gehen. Dass dann Mitschüler einen Gehörschutz erhalten, um sich besser konzentrieren zu können, zeigt das Widersprüchliche dieser Vorgehensweise drastisch auf.

Integration in einer Gesamtschule im Ruhrgebiet (Dorsten)
Bild: api

Vom sozialen Standpunkt aus ist zu fragen, wem es auf Dauer schon gefiele, täglich zu erfahren, dass man die oder der Schwächste ist, dass man die Witze der Mitschüler nicht so ganz versteht und dieselben Mitschüler nur die Augen verdrehen, wenn man selber mal einen erzählt. Ein immer wiederkehrendes Misserfolgserlebnis, das diesen Bezugsgruppenkonflikt drastisch verdeutlicht.

Die Schüler und Schülerinnen, und das muss hier besonders betont werden, sind nur “formal” integriert. Sie stehen auf der gleichen Klassenliste.

Den angeblich integrierten Kindern fehlt eine stabile und vertraute Lernumgebung, wie sie in den fälschlicherweise als integrationsfeindlich denunzierten Kleinklassen vorhanden war. Die Schüler und Schülerinnen, und das muss hier besonders betont werden, sind nur “formal” integriert. Sie stehen auf der gleichen Klassenliste. Aber ob sie als Menschen auch integriert sind, erscheint doch mehr als fraglich zu sein. Diese sogenannte Integration stellt eine Bagatellisierung und damit auch eine Trivialisierung ihrer Behinderung dar. Man könnte somit auch von einer Würdeverletzung ihrer Persönlichkeit sprechen. Integration kann und wird diesen Schülern in ihrem So-Sein in keiner Art und Weise gerecht.

Verhaltensauffällige Kinder gehören nicht in Heilpädagogische Sonderschulen.

Eine weitere Konsequenz dieser fragwürdigen Integration besteht darin, dass eine ganze Reihe von lernbehinderten Kindern und Jugendlichen, die auch verhaltensauffällig sind, eben nicht integriert werden (können). Diese unterstehen natürlich weiterhin der Schulpflicht und werden in Heilpädagogische Sonderschulen überwiesen. Dieser Schultypus wurde für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung konzipiert, und diese Schulen sind heutzutage übervoll. Lernbehinderte/verhaltensauffällige Schüler und Schülerinnen gehören nun aber genauso wenig in diese Heilpädagogischen Schulen wie in die Regelschulen. Als Konsequenz tut sich damit ein weiteres Problemfeld auf.

Fazit: Die “integrative Schule” bietet nur ein ungenügendes, für alle Beteiligten oft frustrierendes Angebot.

Was bedeutet die UN-Menschenrechtskonvention für die sogenannte Integration?

Verhaltensauffällige Schülerinnen oder Schüler gehören nicht in eine Heilpädagogische Sonderschule.

Von den Befürwortern der sogenannten Integration wird gebetsmühlenartig immer wieder auf die UN-Konvention aus dem Jahre 1994 von Salamanca verwiesen. Bei der Auslegung dieses Papiers haben sich aber zwei Missverständnisse eingeschlichen, die oft vergessen gehen. Zum einen ist zu sagen, dass in der Konvention an keiner Stelle die Rede davon ist, dass Sonderschulen, d.h. spezifische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Defiziten, abgeschafft werden müssen. Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische bzw. räumliche Fragen der Zusammenlegung, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.

Das zweite Missverständnis basiert auf einem Übersetzungsfehler. Eine Klarstellung in dieser politischen und ideologischen Spannung wird durch einen Blick in den Text der UN-Vorgabe möglich. Hier lautet die Grundforderung: Die Vertragspartner hätten sicherzustellen, dass kein Kind vom “general education system”, also vom allgemeinen Schulsystem, ausgeschlossen werde. Diese Zielvorstellung geht primär auf die Tatsache zurück, dass weltweit immer noch etwa 25 Millionen Kinder mit Behinderungen im Primärschulalter überhaupt keine Schule besuchen können, wie die Unesco-Kommission im Jahr 2009 feststellte. “Inklusives” Bildungssystem bedeutet demnach, es muss alle Kinder, also auch Kinder mit Behinderungen, in besonderen Einrichtungen einbeziehen.

Die Verabsolutierung des Integrationsprinzips wurde dadurch möglich, dass der englische Terminus “general education system” fälschlicherweise mit dem deutschen Begriff der “allgemeinen Schulen” (im Unterschied zu den Kleinklassen) gleichgesetzt wurde. “General education system” entspricht aber eindeutig dem, was wir als “allgemeinbildendes Schulsystem” (im Unterschied zu berufsbildenden Schulen) verstehen, zu dem nach schweizerischem Schulrecht der Kantone eindeutig auch die Kleinklassen gehör(t)en.

Bildungspolitische Überlegungen

Die Integrationsbewegung steht, so muss man weiter nüchtern festhalten, völlig schief in der aktuellen Bildungslandschaft. Diese hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten immer weiter aufgefächert, spezialisiert. Wir sprechen hier z. B. von Fachmittelschulen, der Lehre mit oder ohne Berufsmaturität, Höheren Fachschulen, Fachhochschulen, Schulen für Hochbegabte etc. Erwähnenswert ist auch, dass am 24.11.2019 im Kanton Basel-Landschaft die Aufgliederung der Sekundarstufe I in drei Leistungskategorien der promotionswirksamen Fächer vom Volk mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Wir können deshalb festhalten, dass die Entwicklung von Bildung – dies als ein Kredo der Sozialdemokratie aus dem letzten Jahrhundert – dahin ging, dass spezifische Gruppen in einer Gesellschaft auch ein Anrecht auf eine spezifische Bildung haben. Wieso man dann diesbei Menschen mit einer Behinderung  auflöst, muss andere Gründe haben, über die hier aber nur spekuliert werden kann. Fachleuten und insbesondere den Lehrkräften in der Praxis ist klar, dass verhaltensauffälligen, lernbehinderten, oft auch sprachlich und kulturell noch nicht integrierten Kindern und Jugendlichen eine besonders geförderte Schule angeboten werden muss.

Ist Integration billiger?

Nein, in keiner Art und Weise. Diese sogenannte schulische Integration ist wesentlich teurer als ursprünglich gedacht, obwohl mit der Behauptung des Gegenteils vor ca. 20 Jahren Politiker und Verwaltungsbeamte der Bildungs- und Erziehungsdirektionen geködert worden sind. Inzwischen wirft die Praxis immer größere Finanzierungsprobleme auf. Es wird verblüfft gefragt: Hat denn niemand die zu erwartenden Kosten berechnet? Voreilige Departemente in den Kantonen hatten sich erhofft – sie waren durch oberflächliche und geschönte Schätzungen dazu ermuntert worden –, die entstehenden Kosten für ein integriertes Schulsystem liessen sich durch den Wegfall der Kosten für die Kleinklassen kompensieren. Diese Auffassung hat sich als total irrig erwiesen, konnte aber nicht verhindern, dass es zu schulischen Improvisationen von Integration und damit zu Benachteiligungen der betroffenen Kinder kam.

Stimmungen

Der Forderung, Einführungs- oder sogar Kleinklassen wieder einzuführen, wird nicht mit (heil-)pädagogischer, sondern fast ausschliesslich mit ideologischen Schein-Argumenten begegnet. Von Salamanca herkommend, wird ein absoluter Integrationsauftrag abgeleitet, der aber dann noch nicht einmal als eine solche bezeichnet werden kann. Wir halten deshalb fest, dass diese sogenannte Integration der Persönlichkeit und den persönlichen Bedürfnissen von lernbehinderten Kindern in keiner Art und Weise gerecht wird. Sie werden als Mittel zum Zweck einer (Schein-)Normalität missbraucht. Deshalb kommt diese sogenannte Integration einer Würde-Verletzung gleich. Befürworter können sich als Gut-Menschen fühlen, während Kritiker, die sich nicht vorbehaltlos der karitativ-missionarischen Agitation unterwerfen, als Ewig-Gestrige, als abergläubische Menschen, als mit einem antiquierten Denken Versehene, als geistig Unbewegliche diskreditiert werden.

Wir aber meinen: Es gibt eine unendliche Vielfalt menschlicher Daseinsformen und alle sind gleichwertig. Aber nicht alle müssen, können oder sollen gleichartig behandelt, sprich gefördert werden. Die heutige sogenannte Integrationspraxis muss aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt werden. Der Wiederaufbau der Kleinklassen ist schwierig, jedenfalls schwieriger als der Abbruch. Aber im Interesse aller Beteiligten unumgänglich.

 

Dr. Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge, Ethiker

Roland Stark, Heilpädagoge, pens. Sonderklassen- und Kleinklassenlehrer in Pratteln und Basel

 

 

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Roland Stark, Heilpädagoge und ehemaliger Präsident der SP Basel-Stadt, unterrichtete fast 40 Jahre Kleinklassen in Pratteln und Basel. Dieser Artikel wurde zuerst im lvb-Forum veröffentlicht, ist aber brandaktuell, weshalb wir den Text gerne noch einmal im Condorcet-Blog publizieren.

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Die Oxford Dictionaries haben das Wort «post-truth» (postfaktisch) zum internationalen Wort des Jahres 2016 gewählt. Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger  durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde.

Auch die im Kanton Basel-Stadt wieder aufgeflammte Diskussion über Vor- und Nachteile der integrativen Schule bewegt sich leider weitgehend auf dieser postfaktischen Ebene. Das Erziehungsdepartement behauptet allen Ernstes, dass die im Riehener Einwohnerrat geforderte Wiedereinführung der Einführungsklassen dem Behindertengleichstellungsgesetz widerspreche und deshalb abzulehnen sei. Eine  substanzielle  pädagogische  Begründung wird schon gar nicht mitgeliefert.

In der Sonder-, Heil-, Behinderten- oder Rehabilitationspädagogik finden sich allerdings sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, ob das Fortbestehen spezieller Einrichtungen dem Inklusionsgedanken widerspreche. In der UN-Konvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 ist an keiner Stelle die Rede davon, dass Sonderschulen abzuschaffen seien. Im Mittelpunkt der Bemühungen  um Integration stehen nicht organisatorische Fragen, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.

So kann sich etwa die Gebärdensprache Gehörloser nur dort entfalten, wo den Betroffenen ein entsprechender sozialer Ort bereitgestellt wird. Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf intensivpädagogische Settings bei schwer verhaltensgestörten Schülern.

«Ein überschaubarer institutioneller Rahmen ist die Voraussetzung dafür», schreibt Prof. Dr. Bernd Ahrbeck, «dass sich intensive Beziehungserfahrungen einstellen, die für eine persönliche Veränderung unabdingbar sind.» (Inklusion – Eine Kritik, Verlag W. Kohlhammer 2014) Die Reihe der Beispiele liesse sich fortsetzen.

Der Kanton Basel-Stadt hat sich entschlossen, die UNESCO-Erklärung mit der generellen Zielsetzung einer «Bildung  für alle» kompromisslos umzusetzen: Liquidation der Kleinklassen, Abschaffung der Einführungsklassen, Reorganisationen beim Logopädischen Dienst, bei der Psychomotorik und bei der Sprachheilschule. Die Konsequenz ist nicht etwa eine spürbare Verbesserung des Förderangebots für die schwächeren Kinder, sondern vor allem eine belastende Vermehrung des bürokratischen Aufwandes für die unterrichtenden und beurteilenden Personen.

Diese  Bildungspolitik  ist  aber  nicht «alternativlos», um den Lieblingsbegriff der deutschen Kanzlerin  zu gebrauchen. «Freiheitlich angelegte demokratische Strukturen vertragen sich nicht mit ekklesialen Alleinseligmachensansprüchen», mahnt Emil E. Kobi,  ehemals  Privatdozent  für Heilpädagogik an der Universität Basel.

«Unterschiedliche kulturelle Erwartungen erfordern eine variantenreiche Schule. Schule bedarf, gerade für Behinderte, der Wahl- und  Wechselmöglichkeiten. Ein Inklusions-Konzept, das nicht in den Ruch einer ‹Totalen Institution› geraten will, hat zumindest die Möglichkeit zur Selbst-Exklusion offen zu halten.» (publiziert in «Heilpädagogik online», 02/08)

Zurecht weist Kobi darauf hin, dass Erziehung und Bildung stets kultureller Rahmenbedingungen, Orientierungen und einer gesellschaftlichen und ideellen Trägerschaft bedürfen. Es kann deshalb wohl  nicht an einer UN-Konferenz in der schönen Stadt in Kastilien-León entschieden werden, welche spezifischen Schulformen in Basel-Stadt oder Riehen zulässig sind.

In der UN-Konvention von Salamanca aus dem Jahr 1994 ist an keiner Stelle die Rede davon, dass Sonderschulen abzuschaffen seien. Im Mittelpunkt der Bemühungen um Integration stehen nicht organisatorische Fragen, sondern die Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden.

Fast allen Fachleuten, den Pädagogen an der «Front» sowieso, ist klar, dass verhaltensauffälligen, lerngestörten, sozial, oft auch sprachlich und kulturell noch nicht integrierten Kindern eine besonders geförderte Schulentwicklung geboten werden  muss. Die «integrative Schule» bietet dafür nur ein ungenügendes, für alle Beteiligten oft frustrierendes Angebot.

Die Konsequenz ist nicht etwa eine spürbare Verbesserung des  Förderangebots für die schwächeren Kinder, sondern vor allem eine belastende Vermehrung des bürokratischen Aufwandes für die unterrichtenden und beurteilenden Personen.

Dazu kommt noch ein kaum übersehbarer Etikettenschwindel: Die heilpädagogische Betreuung in einer Vielzahl von Programmen und Personen führt zu einer Verzettelung des Unterrichts, zu Unruhe und Konzentrationsproblemen. Die  Schüler  sind  formal «integriert», sie stehen schliesslich auf der gleichen Klassenliste, werden aber häufig separiert unterrichtet. Den Kindern  fehlt dann  eine stabile  und vertraute Lernumgebung, wie sie in den unterdessen verteufelten, fälschlicherweise als integrationsfeindlich denunzierten Kleinklassen gewährt wurde.

Kritikern der «integrierten Schule», die sich nicht vorbehaltlos der karitativ-missionarischen Agitation  unterwerfen und sich einem «romantisierenden Idealismus» (Kobi) verweigern, werden Vorurteile, falsches Bewusstsein, Aberglaube, antiquiertes Denken, mangelnde geistige Beweglichkeit vorgeworfen und zuweilen stellt man sie sogar unter Rassismusverdacht.

Schulpolitische Fragen werden hierzulande kaum kontrovers debattiert. Es herrscht ein Klima der Diskussionsverweigerung. Der Forderung, Einführungs- oder gar Kleinklassen wieder einzuführen, wird nicht mit pädagogischen, sondern fast ausschliesslich mit formalen Argumenten begegnet. Aus dem Dokument von Salamanca leitet sich das Konkordat Sonderpädagogik ab, davon das revidierte Schulgesetz. Und daraus wiederum der absolute Integrationsauftrag. Ein geschlossener, widerspruchsfreier Kreislauf. Wir kennen das Muster von päpstlichen Enzykliken.

«Die Wirklichkeit  dringt nicht  in die Welt des Glaubens», klagt Marcel Proust. Eine verhängnisvolle Entwicklung. Nicht nur, aber vor allem für die Schulen.

Fast allen Fachleuten, den Pädagogen an der «Front» sowieso, ist klar, dass verhaltensauffälligen, lerngestörten, sozial, oft auch sprachlich und kulturell noch nicht integrierten  Kindern eine besonders geförderte Schulentwicklung geboten werden muss.

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