Regelklassen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 18 Apr 2024 06:51:04 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Regelklassen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Eine Bilanz nach 25 Jahren Schulreformen https://condorcet.ch/2024/04/eine-bilanz-nach-25-jahren-schulreformen/ https://condorcet.ch/2024/04/eine-bilanz-nach-25-jahren-schulreformen/#comments Thu, 18 Apr 2024 06:51:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=16506

Fünf zentrale Reformvorhaben stellt Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz bezüglich ihrer Wirkung auf die jüngere Schulentwicklung auf den Prüfstand. Die mit vielen Vorschusslorbeeren versehenen Reformschritte sind mit der Ankündigung geschaffen worden, sie würden die Schulqualität entscheidend verbessern. Sie dürfen daher auch an diesem hohen Anspruch gemessen werden.

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  1. Bildungssteuerung aufgrund von Lernstandserhebungen

“Durch ein Top-down-Bildungsmonitoring kann die Schulqualität kontinuierlich gesteigert werden.”

Bildungsversprechen:

Durch regelmässige Lernstandserhebungen in systematisch ausgewählten Schulen werden in zentralen Fächern die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ermittelt. Die EDK und die Pädagogischen Hochschulen verschaffen sich durch diese auf wissenschaftlicher Basis erhobenen Messungen einen Überblick über den Erfolg des Unterrichts in den einzelnen Fächern. Werden Mängel festgestellt, sollen durch gezielte Steuerungsmassnahmen die Resultate verbessert werden.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Bilanz:  Es herrscht in der EDK grosse Ratlosigkeit, wie die festgestellten Mängel behoben werden könnten.

Den Lernstand einer Klasse festzustellen ist zwar aufwändig, aber keine Hexerei. Ganz anders sieht es aus, wenn die festgestellten Mängel behoben werden sollten. Schon in der ersten PISA-Studie wurde festgestellt, dass die Lesefähigkeiten unserer Schulabgänger nur mittelmässig waren. Die konzeptlosen Steuerungsmassnahmen blieben wirkungslos und die Grundkenntnisse im Deutsch wurden gar noch schlechter. Das Top-down-Prinzip erweist sich als Misserfolg, wenn Schulentwicklung nicht in enger Zusammenarbeit mit den Schulpraktikern erfolgt und deren dringende Forderung nach einer Konzentration aufs Wesentliche weiter missachtet wird.

Lösungsansatz:

Nach eingehender Befragung der Lehrpersonen Ballast aus dem Bildungs-Wunschprogramm abwerfen und sich auf wesentliche Bildungsziele einigen.

 

  1. Frühes Sprachenlernen als ein Schlüssel zum Schulerfolg

“Das frühe Lernen zweier Fremdsprachen verschafft den Kindern einen erheblichen Startvorteil.”

Bildungsversprechen:

Kinder lernen Sprachen leichter als Erwachsene. Mit einer modernen Mehrsprachendidaktik und spielerischen Lernformen können problemlos zwei Fremdsprachen nebeneinander gelernt werden. Mit einem Schwergewicht auf den kommunikativen Fähigkeiten statt auf der Grammatik stehen Fremdsprachen allen Kindern offen. Diese werden so rechtzeitig auf die Anforderungen einer globalisierten Welt vorbereitet.

Bilanz:  Das Konzept einer frühen Dreisprachigkeit ist kein Erfolgsmodell und hinterlässt zu viele Verlierer.

Karikatur von Alain Pichard nach Idee von r.alf

Die Behauptung, dass die meisten Primarschüler mit nur zwei oder drei Wochenlektionen eine Fremdsprache durch das Eintauchen in ein Sprachbad (Immersion) spielerisch lernen würden, ist völlig falsch. Immersion gelingt nur, wenn Kinder täglich in vielen Situation mit einer Fremdsprache in Berührung kommen. Gescheitert ist auch die propagierte Mehrsprachendidaktik, die in einigen Lehrmitteln zu einem eigentlichen Unterrichtsdebakel geführt hat.

Immersion gelingt nur, wenn Kinder täglich in vielen Situation mit einer Fremdsprache in Berührung kommen.

Völlig ungenügend sind auch die Resultate des Frühfranzösisch, wo bis zu zwei Drittel einer Klasse die elementarsten Bildungsziele nicht erreichen. Dieser Misserfolg dämpft die Freude vieler Schüler am Sprachenlernen und führt in manchen Fällen bis zum Schulverdruss. Der Aufwand für das Lernen der Frühfremdsprachen geht teils auf Kosten wertvoller Übungszeit im Deutsch, wo immer grössere Defizite festgestellt werden.

Lösungsansatz:

Eine Fremdsprache in der Primarschule genügt!

  1. Der Lehrplan als verlässlicher Bildungskompass

“Der Lehrplan 21 ist ein Bildungskompass, der als Schweizer Rahmenlehrplan verbindliche Bildungsziele festlegt.”

Bildungsversprechen:

Der neue Lehrplan erleichtert die Mobilität, indem innerhalb vereinheitlichter Schulstrukturen (drei einheitliche Bildungszyklen) in allen Kantonen dieselben Bildungsziele gelten. Mit einem verbindlichen Konzept aus Grundanforderungen und erweiterten Kompetenzzielen soll sichergestellt werden, dass die Qualität der Volksschulbildung gewährleistet und gut überprüfbar ist.

Bilanz:  Der Lehrplan erfüllt seine Funktion als Bildungskompass nur unzureichend.

Das Jahrhundertwerk des neuen Lehrplans führt weit über seinen Grundauftrag der Harmonisierung der Bildungsziele hinaus. Mit seinen oft kompliziert formulierten Kompetenzzielen und seiner Überfülle an Möglichkeiten wirkt er unübersichtlich und erschwert eine Konzentration auf wesentliche Bildungsinhalte.

Der Grundsatz, dass im neuen Lehrplan Kompetenzen gegenüber Inhalten eindeutig Vorrang haben, ist in vielen Fällen fragwürdig.

Ein Lehrplan, der den Anspruch erhebt, ein nützlicher Bildungskompass für Lehrpersonen zu sein, erfüllt seinen Zweck nicht, wenn er kaum einmal konsultiert wird.

Der Grundsatz, dass im neuen Lehrplan Kompetenzen gegenüber Inhalten eindeutig Vorrang haben, ist in vielen Fällen fragwürdig. So ist es wenig hilfreich, wenn beispielsweise im Geschichtsunterricht bestimmte politische Kompetenzen an mehr oder weniger beliebigen Inhalten erworben werden können. Lehrpersonen und Schüler möchten in erster Linie wissen, welche konkreten Bildungsinhalte im Zentrum des Unterrichts stehen.

Lösungsansatz:

Ein Lehrplan in Kurzform mit verbindlichen Bildungsinhalten als Ergänzung zur aktuellen Vollausgabe wäre für die Schulpraxis sehr hilfreich.

  1. Integration aller Schüler in Regelklassen

“Alle Kinder haben das Recht, in einer Regelklasse unterrichtet zu werden.”

Bildungsversprechen:

Keine Schülerin und kein Schüler soll in irgendeiner Form von seinen Mitschülern ausgegrenzt werden. Die Separation in Kleinklassen ist deshalb kein geeignetes Mittel, um Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lerndefiziten zu fördern. Klassenlehrpersonen werden von Heilpädagoginnen unterstützt, damit in Regelklassen integrierte schwierige Schüler professionell betreut werden können.

Bilanz: Das dogmatisch aufgegleiste Integrations-Konzept hat den Praxistest nicht bestanden und ist finanziell ein Fass ohne Boden.

Kinder und Jugendliche mit Teilleistungsschwächen oder kognitiven Einschränkungen belasten eine Klasse in der Regel weit weniger als Schüler mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten. Wo einzelne Schüler hingegen immer wieder den Unterricht durch ihr auffälliges Verhalten massiv stören, wird konzentriertes Arbeiten in der Klasse stark beeinträchtigt. Lehrpersonen beklagen sich zu Recht, dass sie in diesen Fällen zu viel pädagogische Energie auf Einzelne aufwenden müssen. Die versprochene Unterstützung durch Fachkräfte ist meist ungenügend, da die Heilpädagoginnen nur wenige Stunden in den ihnen zugeteilten Klassen verbringen können.

Solange Lösungen mit Klein- oder Förderklassen kategorisch abgelehnt werden, wird sich die Diskussion weiter im Kreis drehen.

Die in den Bildungsstäben dogmatische vertretene Ansicht, Kleinklassen seien keine gleichwertigen Alternativen zu einer integrierten Schulung, erschweren pragmatische Lösungen. Die meistgenannte Forderung, die Zahl der Heilpädagoginnen sei massiv zu erhöhen, ist in der aktuellen Personalsituation nicht realistisch und droht finanziell zu einem Fass ohne Boden zu werden. Solange Lösungen mit Klein- oder Förderklassen kategorisch abgelehnt werden, wird sich die Diskussion weiter im Kreis drehen.

Lösungsansatz:

Eine separative Förderung soll gleichberechtigt neben dem aktuellen Integrationsmodell stehen und darf finanziell für die Schulen kein Nachteil sein.

  1. Lehrpersonen sollen primär als Lerncoachs wirken

“Der Frontalunterricht ist abzulösen durch didaktische Konzepte, in welchen die Lehrpersonen als Lerncoachs die Jugendlichen begleiten.”

Bildungsversprechen:

Moderne Lernkonzepte basieren auf Lernlandschaften und digitalen Lernprogrammen, die ein weitgehend selbständiges Lernen mit unterschiedlichen Bildungszielen ermöglichen. Digitale Programme vereinfachen die Organisation eines stark individualisierten Unterrichts und entlasten die Lehrpersonen im Bereich des Sprach- und Rechentrainings.

In didaktisch anregenden Lernlandschaften sollen die Jugendlichen in individuellem Lerntempo selbständig Wege finden, um wichtige Bildungsziele zu erreichen. Dabei stehen ihnen die Lehrpersonen als kompetente Begleitpersonen zur Seite. Frontalunterricht kann den individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen kaum gerecht und soll deshalb stark eingeschränkt werden.

Bilanz:  Die generelle Verunglimpfung des Frontalunterrichts durch führende didaktische Zentren war ein Rohrkrepierer.

Wissenschaftlich ist die Abwertung der direkten Instruktion (genannt Frontalunterricht) in keiner Weise haltbar. Die Erwartung, Lehrkräfte könnten in der Funktion als unterstützende Lernbegleiter von Jugendlichen weit mehr bewirken als bei gemeinsamen Einführungen im Klassenverband, hat sich als illusorisch erwiesen. Spätestens seit der bekannten Hattie-Studie weiss man, dass ein von einer kompetenten Lehrkraft geführter gemeinsamer Unterricht sehr effizient sein kann.

Für die meisten Schüler ist eine sorgfältige direkte Instruktion in Verbund mit angeleiteten gemeinsamen Übungsphasen von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg.

Zu viele Jugendliche scheitern am Anspruch eines zielgerichteten eigenverantwortlichen Lernens, da sie noch nicht über die dazu notwendige Selbstdisziplin verfügen. Für die meisten Schüler ist eine sorgfältige direkte Instruktion in Verbund mit angeleiteten gemeinsamen Übungsphasen von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg. Lehrpersonen müssen frei entscheiden können, welche Lernformen in bestimmen Situationen am geeignetsten sind. Leider haben Druckversuche im methodischen Bereich in den letzten Jahren zugenommen und eine erhebliche Unsicherheit in Lehrerkreisen ausgelöst. So wurde mit dem favorisierten neuen Rollenbild und detaillierten methodischen Vorgaben die pädagogische Gestaltungsfreiheit der Lehrpersonen zum Schaden der Volksschule erheblich beeinträchtigt.

Lösungsansatz:

Lehrpersonen benötigen Rückenstärkung durch eine volle Garantie der Methodenfreiheit und dürfen nicht in die Rolle des Lerncoachs gedrängt werden.

 

Versuch einer Gesamtbilanz der Reformen

Die mit hohen Erwartungen verknüpften fünf grossen Reformvorhaben wurden ihrem Anspruch, einen entscheidenden Schritt vorwärts zur Schulentwicklung zu leisten, nicht oder höchstens teilweise gerecht. Zu vieles wurde gross angekündigt, aber nur wenig davon erreicht. Zwar gibt es zu dieser Aussage wenig konkrete Daten, die direkte Auswirkungen der fünf Reformen auf die Schulleistungen belegen könnten. Aber entsprechende Befragungen der Lehrerverbände bei ihren Mitgliedern lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die grossen Reformbaustellen sind bestens bekannt und führen im Schulalltag immer wieder zu heftigen Diskussionen über die getroffenen bildungspolitischen Zielsetzungen.

Zu vieles wurde gross angekündigt, aber nur wenig davon erreicht.

 

Bedenklich an der ganzen Sache ist, dass die EDK bisher keinen ihrer grossen Reformschritte einer systematischen Überprüfung unterstellt hat. Einige der Reformen liegen schon ein paar Jahre zurück, so dass eine gründliche Bilanz längst hätte erwartet werden können. Zwar gibt es Lernstandserhebungen in mehreren Fächern, die gewisse Rückschlüsse auf die Wirkung der Reformvorhaben ermöglichen. Aber die Reformen an und für sich waren nie Gegenstand einer gründlichen Analyse, wie man dies bei einem wissenschaftlich begleiteten Grossprojekt erwarten könnte. Besonders umstrittene Reformen wie das Dreisprachenkonzept der Primarschule oder die schulische Integration wurden von der EDK gar wie Tabuzonen behandelt. Statt sich einer offenen Diskussion zu stellen, verteidigte man sich unter Zuhilfenahme starrer Dogmen oder übte recht massiven politischen Druck aus.

Die Schulqualität kann nur gefördert werden, wenn die Bilanz der eingeleiteten Reformen positiv ausfällt.

Die vorliegende Bilanz ist in keiner Weise ein Versuch, das Rad der Geschichte in der Pädagogik zurückzudrehen. Unsere Volksschule muss sich den aktuellen Herausforderungen stellen und sich weiterentwickeln. Aber die Schulqualität kann nur gefördert werden, wenn die Bilanz der eingeleiteten Reformen positiv ausfällt. Ist diese zwiespältig oder gar negativ, besteht berechtigter Grund zur Sorge, dass unsere nach wie vor erstaunlich robuste Volksschule ernsthaften Schaden nimmt. Um dies zu verhindern, braucht es jetzt eine gründliche Analyse der Schulentwicklung der letzten 25 Jahre und eine stärker an der Schulpraxis orientierte Bildungspolitik.

 

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Die wahren Gründe der Schulmisere in Basel https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/ https://condorcet.ch/2024/03/die-wahren-gruende-der-schulmisere-in-basel/#comments Wed, 27 Mar 2024 09:52:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=16286

Die integrative Schule beelendet alle. Die Lehrerschaft erstickt in der Bürokratie und wird angefeindet. Dabei gäbe es Wege aus der Krise. Marcel Rohr, Chefredakteur bei der BAZ, formuliert sie.

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Luca Urgese und Mustafa Atici wollen Basels neuer Erziehungsdirektor werden. Mit Verve streiten die beiden Politiker im grossen BaZ-Interview über das Basler Bildungswesen. Am 7. April steht der zweite Wahlgang für die beiden Kandidaten an.

Was Mustafa Atici offenbar noch nicht verstanden hat: Die integrative Schule ist längst gescheitert. Überall macht sich Resignation breit – dafür braucht es keine weitere Analyse, wie es der SP-Mann beim Schlagabtausch mit Urgese fordert.

Was es dafür umso dringender braucht: einen nüchternen Blick auf das ganze System, das alle nur noch beelendet. Die integrative Schule ist nur die Spitze des Eisbergs.

Marcel Rohr, Chefredaktor der Basler Zeitung BaZ

Erste Erkenntnis: Man wollte zu schnell zu viel. Selbstverständlich gibt es im Unterricht Möglichkeiten, Kinder mit Defiziten in den Regelklassen zu integrieren. Beim Singen, beim Musizieren, beim Sport oder beim handwerklichen Gestalten – also bei nicht kopflastigen Fächern.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird. Es muss um das Wohl einer Mehrheit gehen, nicht um das einer Minderheit. Für neue Förderklassenmodelle liegen genug Vorschläge auf dem Tisch.

Im geisteswissenschaftlichen Schulunterricht dagegen ist es für die meisten Kinder und die Lehrerschaft eine Belastung, wenn ständig auf verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler Rücksicht genommen wird.

 

Im Mittelpunkt einer neuen Ausrichtung muss die Lehrerschaft stehen. Hier offenbart sich das gleiche Elend wie bei der Polizei oder anderen Service-Public-Jobs: Die Beamten ersticken in der Bürokratie. Ausserdem werden sie immer stärker angefeindet. Die Respektlosigkeit kennt keine Grenzen mehr. Das sind die Zeichen einer rücksichtslosen und egoistischen Gesellschaft.

Weg mit der Bürokratie

Nur wenn die Bürokratie auf ein vernünftiges Mass reduziert wird, können sich die Lehrer wieder ihrem Kernauftrag widmen. Für alle, die es vergessen haben: Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden. Erziehungsberechtigt sind sie dann, wenn Kinder Grenzen überschreiten. Leider haben das viele Eltern vergessen. Sie meinen, mit dem Kind geben sie frühmorgens auch diese Verantwortung an die Schule ab.

Die grössten Feinde der Lehrerschaft sind die Juristen und die Versicherungen. Mit immer strengeren Vorschriften sorgen Letztgenannte dafür, dass sich die Lehrer und Lehrerinnen immer weniger trauen, etwas mit den Kindern zu unternehmen. Wer geht im Sommer noch freiwillig ins Schwimmbad? Das Risiko ist vielen zu gross.

Einer wird der nächste Basler Bildungsdirektor: Mustafa Atici/SP, links; oder Luca Urgese/FDP, rechts (Bilder: Nicole Pont/Pino Covino)

Die Juristen dagegen sind die Krücken der Eltern, um Recht durchzusetzen. Ein falsches Wort im Unterricht, eine zu schlechte Beurteilung im Zeugnis – schon steht der Anwalt im Lehrerzimmer und droht. Das sind unerträgliche Zustände, denen mit aller Kraft entgegengewirkt werden muss. Notfalls per Gesetzesänderung.

Lehrer lehren. Sie haben einen Bildungsauftrag. Sie kreieren den Unterricht und helfen den jungen Menschen, Mitgestalter dieser Welt zu werden.

 

Lehrerinnen als Autoritätspersonen müssen unbedingt wieder gestärkt werden, ohne dass dabei Muster aus der Steinzeit bedient werden, als noch Kopfnüsse verteilt wurden. Tatort Klassenzimmer: Aggressive Schüler, die selbst auf Primarstufe mit den Fäusten auf Ausbilder losgehen, sind im Alltag 2024 keine Seltenheit. Das sind jene Unverschämtheiten, welche die Lehrer desillusionieren und ausbrennen.

Deshalb sind Klassenassistenzen eine sinnvolle Sache. Sie stärken die Führungskraft im Schulzimmer und entlasten die Lehrer. Jedes Kind bekommt – falls gewünscht – mehr Aufmerksamkeit oder kann – falls nötig – mit vereinter Kraft in die Schranken gewiesen werden.

Klassenassistenzen kosten Geld, doch dies darf gerade in Basel-Stadt kein Argument sein. Bildung ist der Schlüssel für eine prosperierende Zukunft und die Basis für eine Humanistenstadt wie Basel, wo Gelehrtheit eine grosse Tradition geniesst. Aber nicht nur begabte Kinder haben ein Recht auf Unterstützung, auch verhaltensauffällige. Im Kanton Aargau beklagen sich viele Experten, dass beispielsweise viel zu wenig finanzielle Ressourcen in die Logopädie fliessen.

Der hohe Ausländeranteil in Basel schafft Probleme

Immer höher wird der Anteil jener Kinder, die zu einer frühen Deutschförderung verpflichtet werden. Es hat nichts mit Rassismus zu tun, wenn man festhält: Der hohe Ausländeranteil in Basel – im Kleinbasel liegt er mittlerweile bei rund 40 Prozent – ist für die gesamte Schule nicht leistungsfördernd.

Es gibt Schulhäuser in Basel, in denen Schweizer Kinder in der Minderheit sind. Allein mit diesem Hintergrund mutet es als Witz an, dass gewisse Kreise immer noch auf Frühfranzösisch oder Frühenglisch pochen. Dieser Murks bringt niemanden weiter, er schadet vor allem jenen jungen Menschen, die schon mit Deutsch ihre liebe Mühe haben.

Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen.

 

Was bei der Migrationspolitik im ganzen westlichen Europa gilt, muss auch für die Region Basel zählen. Irgendwann ist eine Obergrenze erreicht. Viele Eltern mit Schweizer Pass pochen bewusst auf einen Schulhauswechsel oder zügeln weg, um der Alltagsproblematik «wir nix verstehen» auszuweichen. Das ist verheerend für unser Bildungssystem.

Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen haben es noch schwieriger in einer Welt, die immer anforderungsreicher wird. Jahrelang waren die Schulnoten das Mass aller Dinge, sie dienten als Wasserwaage zur Einordnung von Leistung. Immer lauter werden nun jene Stimmen, die die Notengebung als unbefriedigend wahrnehmen.

Das Beispiel Luzern

Der Kanton Luzern geht neue Wege. Dort wird ab Sommer 2026 in allen Primarschulen das neue «Rahmenkonzept Beurteilung» umgesetzt, 2027 folgt die Oberstufe. Dann gibt es in allen 19 Schulen der Stadt Luzern keine Prüfungsnoten mehr, stattdessen Kompetenzraster, Lerntagebücher und Feedbackgespräche.

Kinder wollen nicht nur spielen, die meisten wollen sich auch messen.

Es ist zweifelhaft, ob sich dieses Konzept bewährt. Die meisten Kinder wollen sich messen. Sie lieben den Wettkampf, den direkten Vergleich. Es sind eher die Angehörigen, die ihren Nachwuchs nicht diesem Leistungsdruck aussetzen wollen. Sie fürchten die schlechte Note.

Mustafa Atici wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

 

Eine Note ist sehr oft weniger verletzend als eine persönliche Einschätzung des Lehrers, die unterschiedlich ausgelegt werden kann. Mit Noten lernen Kinder, auch mal eine Niederlage einzustecken. Es härtet sie ab auf dem weiteren Weg in die Berufswelt, die mitunter unbarmherzig ist.

Am 7. April wählt Basel seinen neuen Erziehungsdirektor, Mustafa Atici ist der grosse Favorit. Er wird eine dicke Haut, einen klaren politischen Kompass und viel Menschenverstand brauchen, um sich bei der Bewältigung der Basler Schulmisere eine gute Note abzuholen.

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Integration – zwischen pädagogischer Meisterleistung und menschlichem Fiasko (2. Teil) https://condorcet.ch/2023/05/integration-zwischen-paedagogischer-meisterleistung-und-menschlichem-fiasko-2-teil/ https://condorcet.ch/2023/05/integration-zwischen-paedagogischer-meisterleistung-und-menschlichem-fiasko-2-teil/#comments Mon, 01 May 2023 08:18:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=13764

Kaum eine der Schulreformen der letzten Jahrzehnte polarisiert so stark wie die konkrete Umsetzung der schulischen Integration. Dabei ist die Zielsetzung, Menschen mit einer Behinderung zu ermöglichen, trotz ihres Handicaps dieselben Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten zu haben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben wie alle anderen, sicherlich weitgehendst Konsens. Zweiter Teil des Beitrags von Gastautor Beat Kissling,

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Die wissenschaftliche Forschung zur menschlichen Phylo- wie Ontogenese hat ein Verständnis der Evolution des Menschen als Kultur- und Sozialwesen eröffnet, das die Fähigkeit und zugleich Notwendigkeit zu lernen als elementare Eigenschaft des Menschenkindes aufzeigt. Die entwicklungspsychologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat illustrieren können, dass der Säugling bereits ab der Geburt aktiv den Dialog mit seiner Mutter/Bezugsperson sucht – zunächst noch mit sehr eingeschränkten Mitteln, bald aber mit erstaunlich schnell sich differenzierenden Möglichkeiten. Bereits mit knapp einem Jahr zeigen Experimente des bekannten amerikanischen Anthropologen, Psychologen und Verhaltensforschers und Psychologen Michael Tomasello und seinem Team, dass Kleinkinder die Absichten von Erwachsenen zuverlässig erkennen und ohne Aufforderung den spontanen Impuls zeigen, bei einem Problem sofort helfend zuzuspringen und dies noch dazu zumeist sehr adäquat. (6)

Beat Kissling, Mitherausgeber des Magazins “Einspruch”, Erziehungswissenschaftler, Psychotherapeut und Dozent für Umweltethik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Es konnte mit vielfältigen Experimenten und oftmals in Vergleichsstudien zuverlässig bewiesen werden, dass Kinder im Unterschied zu den Menschenaffen die besondere Eigenschaft aufweisen, sich zu freuen, wenn sie unterrichtet werden: ältere Geschwister und Erwachsene werden als “kulturelle Mentoren” erachtet, von denen sich Kinder gerne etwas erklären lassen und auf deren Informationen und vermittelten Fähigkeiten sie sich verlassen, um in sozialen Geschehen mitwirken zu können. Nichts interessiert sie mehr, als verstehen zu können, wie die Beziehungen und die Kommunikation unter den Erwachsenen funktioniert, um selber daran teilnehmen und mitwirken zu können.
Daher rührt ihr natürliches Bedürfnis und der damit verbundene Eifer, möglichst viel von ‘den Grossen’ lernen zu wollen. (7)

Sowohl bei ADHS, ADS, Formen von Kontaktstörungen wie Autismus oder bei besonderer Ängstlichkeit vor Neuem zeigen sorgfältige lebensgeschichtliche Anamnesen, dass häufig Formen der Bindungsproblematik die psychische Basis für diese Störungen sind.

Peter Hobson, Professor für Psychopathologie, Kinderpsychiater und renommierter englische Entwicklungsforscher, ergänzt diesen sozial-emotionalen Aspekt mit dem Hinweis darauf, dass die “Werkzeuge des Denkens” sich “im emotionalen Kontakt des Kindes mit anderen Menschen” herausbilden, ja, dass es zum Denken gar nicht käme, wenn ein Kind nicht in Beziehung zu anderen Menschen wäre. Diese Einsicht wurde von der Bindungsforschung, einem Wissenschaftszweig in der Entwicklungspsychologie, empirisch bis in seine Feinheiten vertieft. Es hat sich mittlerweile etwas herumgesprochen, dass problematische Entwicklungen im Verhalten und in der Fähigkeit, sich zu konzentrieren und sich geistigen Anforderungen zu stellen bei Kindern mit einer Bindungsunsicherheit und einem Mangel an pädagogischer Unterstützung und Führung vorkommen. Sowohl bei ADHS, ADS, Formen von Kontaktstörungen wie Autismus oder bei besonderer Ängstlichkeit vor Neuem zeigen sorgfältige lebensgeschichtliche Anamnesen, dass häufig Formen der Bindungsproblematik die psychische Basis für diese Störungen sind.

Interessant ist dabei zu erwähnen, dass man immer wieder erleben kann, wie unterschiedlich dasselbe Kind (behindert oder nicht) bei unterschiedlichen Lehrpersonen in der Lage ist, zu lernen, also Informationen aufzunehmen, zu verstehen und einzuordnen. Offensichtlich hat dies damit zu tun, dass das Beziehungsangebot und die emotionale Stimmung, die eine Lehrperson einem Kind und seiner Klasse insgesamt entgegenbringt, beim Schüler entscheidend dafür ist, mit welcher Lerndisposition er/sie im Schulzimmer sitzt.

John Hattie: “Auf die Lehrer kommt es an”

Der Name des berühmten neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie ist seit einigen Jahren den meisten Lehrpersonen ein Begriff. Ihm ist zu verdanken, dass mehrere tausend Studien zur Wirksamkeit von Unterricht im angelsächsischen Raum und die vergleichenden Ergebnisse in Form von Metastudien ausgewertet werden konnten. Diese Studien erbrachten eine klare empirische Evidenz, wovon erfolgreicher Unterricht primär abhängt: Es sind die Lehrpersonen. Gemäss Hattie, der sein Engagement aus guten Gründen insbesondere in die Lehrerbildung steckt, müssen die Lehrernovizen v.a. eines besonders zuverlässig lernen, und zwar ihren eigenen Unterricht durch die Augen ihrer Schülerinnen und Schüler sehen zu können – die perfektionierte Form des lernenden Dialogs oder, wie Hattie sagt, des “Feedbacks”. Hatties Zürcher Kollege, der Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Erziehungswissenschaften Roland Reichenbach, hat ganz in diesem Sinne in einer eigenen Formel das Geheimnis, was gute Lehrpersonen auszeichnet, auf den Punkt gebracht, indem er sagt:

“Es gibt keine guten Schulen ohne gute Lehrpersonen. Und diese Lehrpersonen müssen den Schülerinnen und Schüler klar machen:
Erstens: Was du hier lernst, ist wirklich wichtig.
Zweitens: Mir ist es ein Anliegen, dass du das lernst.
Drittens: Ich glaube fest daran, dass du das schaffst.
Viertens: Ich werde dir dabei helfen und dich unterstützen.
Schüler, die solche Lehrer haben, sind glücklich zu schätzen.” (8)

Die besondere Bedeutung des gemeinsamen Unterrichts

Ein weiteres zentrales Element im Unterricht und in der Schule, welches das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler ganz wesentlich prägt, ist die Atmosphäre und die Kooperationsfähigkeit innerhalb einer Schulklasse und sogar einer ganzen Schule. Wer diese Aussage überprüfen möchte, kann dies im Gespräch mit schulpflichtigen Kindern oder Jugendlichen ohne weiteres in Erfahrung bringen. Umso fragwürdiger erscheint es, dass in der heutigen Lehrerbildung sowie in der Schulentwicklung insgesamt die sogenannte Individualisierung des Unterrichts zusammen mit der Methode des “selbstorganisierten” Unterrichts (SOL) – möglicherweise noch verknüpft mit “selbstentdeckendem” Lernen – ausserordentlich stark forciert wird. Der Schüler wird auf sich selbst zurückgeworfen, statt auf den Austausch mit Klasse und Lehrperson hingeführt.

Soll ein Lehrer nicht mehr lehren?

Hinzu kommt die forcierte Digitalisierung des Unterrichts. Auch sie akzentuiert die individualisierte Form des schulischen Lernens. Lehrpersonen, die heutzutage dennoch einem gemeinsamen Unterricht in ihrer Schulklasse den Vorzug geben, die den Lernprozess der Klasse führen, anleiten, die Zusammenarbeit unter den Schülerinnen und Schülern aktiv fördern und Dynamiken innerhalb des Klassenverbands konstruktiv lenken, die also einen sogenannten “lehrerzentrierten” Unterricht gestalten, haftet per se das undifferenzierte Negativ-Etikett “Frontalunterricht” an. Heute erfahren die Studierenden in der Lehrerbildung, dass eine Lehrperson nicht mehr lehren solle. Lehren, heisst es, sei antiquiert, sozusagen eine Macke älterer Lehrpersonen, die nicht loslassen könnten. Die Verantwortung fürs Lernen sollte den Schülern möglichst vollständig übergeben werden. Die Lehrperson habe nur noch die Rolle eines Coachs oder Lernbegleiters zu übernehmen. Dass es aber gerade der gemeinsame Unterricht ist, der eine besondere, stützende integrative Wirkung hat, scheint darüber vollkommen in Vergessenheit geraten zu sein.

Gemeinsames Lernen und der lehrerzentrierte Unterricht wird wieder neu entdeckt

Interessanterweise wird in der angelsächsischen Welt seit einigen Jahren der “dialogische Unterricht” als besonders nachhaltiges, erfolgreiches schulisches Lernen unter Wissenschaftlerinnen diskutiert und als geeigneter Weg zur «Sozialisierung der Intelligenz» beschrieben. Gemeinsames Lernen und der lehrerzentrierte Unterricht wird damit sozusagen wieder neu entdeckt. Wer als Primarlehrperson über Jahre beobachten konnte, was den schwächeren Schülerinnen und Schülern besonders hilft, dem Unterrichtsverlauf gut folgen zu können, weiss, wie wichtig es für sie ist, gemeinsam in der Klasse unter Anleitung und Führung der Lehrperson, eine grössere Anzahl Aufgaben zu lösen. Die viferen Schülerinnen und Schüler können in einer solchen Situation zeigen, dass sie den Stoff schon begriffen haben, während die unsicheren, rasch abgelenkten Kolleginnen und Kollegen enorm froh sind, wenn sie die Lösungswege von mehreren ihrer Kameradinnen und  Kameraden nachvollziehen und abschauen können, bevor sie dann alleine vor der neuen  Aufgabe stehen.

Die pädagogische Funktion der Schule ist es gerade, den Sinn für das Gemeinsame, das Geteilte, also den Gemeinsinn zu fördern.

Gelingt es der engagierten Lehrperson, in der gemeinsamen Auseinandersetzung über ein Thema Freude an der Sache zu vermitteln, durch eigene Begeisterung und angemessene Anforderungen verbunden mit einem respektvollen Umgang eine eifrige Lernstimmung zu stimulieren, das Interesse der Schülerinnen und Schüler aneinander und die Hilfsbereitschaft untereinander zu wecken, kann den Selbstzweifeln bei den Unsicheren erfolgreich entgegengewirkt werden und Konkurrenzverhalten grundsätzlich entschärft werden. Auf diese Weise lösen sich viele Disziplinarprobleme sozusagen von selbst und praktisch alle Anwesenden sind in der Regel voll dabei, zumal für alle die Chance bestehen bleibt, mitgenommen zu werden. Die Methode, wie dies ohne ein besonderes Engagement der Lehrperson (lehrerzentriert) geschehen sollte, muss wohl noch erfunden werden. Sie würde nämlich voraussetzen, dass der gesamte pädagogische Gehalt des Unterrichts aus den Schülerinnen und Schülern selbst strömen müsste.

In seinem höchst lesenswerten Buch “Für die Schule lernen wir. Plädoyer für eine gewöhnliche Institution” unterstreicht Roland Reichenbach diese gemeinschaftliche Grundorientierung des Unterrichts, wenn er die Stellung der Schule “als Repräsentantin der Kultur und ihre besondere konstitutive Bedeutung für die moderne Gesellschaft” in Erinnerung ruft. Entgegen dem aktuellen Trend eines konstruktivistischen Credos, es gehe im Unterricht um den Aufbau individueller “eigener Welten” – Reichenbach spricht hier von solchen Lernenden als “Individualkunden” – geht es in der Schule um “die Befähigung, an einer gemeinsamen Welt zu partizipieren und darin Sinn zu finden”. (9) Die pädagogische Funktion der Schule ist es gerade, den Sinn für das Gemeinsame, das Geteilte, also den Gemeinsinn zu fördern, “eine Fähigkeit, die entwickelt, geübt und erworben werden muss, durch das Denken und Nachdenken selber”. (10) Ohne Zweifel kann dies nicht vorwiegend im SOL geschehen.

Integrativer Anschauungsunterricht

Wer einmal einem höchst erfolgreichen Unterricht mit der Integration verschiedener Schülerinnen und Schüler folgen möchte (ohne Unterstützung durch eine schulische Heilpädagogin), bei denen manche in einer Schweizer Volksschule heutzutage die bekannten Diagnosen ADHS, ADS, Formen des Autismus usw. verpasst erhielten und deren Funktionieren (Stillsitzen und Konzentrieren) medikamentös garantiert würde, sei der französische dokumentarische Film “Etre et Avoir” (2002) empfohlen. Er zeigt einen Lehrer, der in den Ardennen Bauernkinder im Alter zwischen ca. 6 und 14/15 Jahren gemeinsam unterrichtet. Der Regisseur, der lange nach einem beispielhaften Unterricht gesucht hatte, begleitete diese Schulklasse mit seinem Filmteam während eines halben Jahres. So hat man als Zuschauer das Privileg, einem authentischen Geschehen im spontanen Alltag einer Schulklasse Schritt für Schritt folgen zu können. Für jeden Beobachter, jede Beobachterin sind die wesentlichen Elemente, worauf der Erfolg des Lehrers beruht, intuitiv ersichtlich:

  • die väterlich-herzliche und zugleich Sicherheit und Orientierung vermittelnde Haltung
    den einzelnen Schülerinnen und Schüler sowie der Klasse gegenüber;
  • das unermüdliche Engagement und die individuelle, fördernde sowie fordernde
    Fürsorge um jedes Kind gemäss seinen Bedürfnissen; dabei die besondere Fähigkeit,
    nie ein Kind aus den Augen zu verlieren und eine echte Verbindlichkeit für alle
    herzustellen;
  • die Geduld und zugleich das beharrliche Einfordern der angemessenen
    Lernerwartungen;
  • die Fähigkeit, in der Klasse eine ernsthafte, zugleich aber freundschaftlich-kooperative Stimmung zu schaffen;
  • das angewendete Modell für die zwischenmenschliche Beziehung, welches auf
    Respekt, Wertschätzung, Verständnis und Interesse füreinander beruht;
  • die Gleichwertigkeit, die den Schützlingen entgegengebracht wird, ohne die Rolle als
    verantwortlicher Pädagoge aufzugeben;
  • die Glaubwürdigkeit und Authentizität.

Konklusion mit einer Bemerkung zur Inklusion

Das Beispiel aus dem Film “Etre et Avoir” sowie die früheren Erfahrungen mit erfolgreicher Integration auf dem Land zeigen, dass der ethische Anspruch dieser Unterrichtsweise durchaus funktionieren kann – sogar ohne spezielle heilpädagogische Unterstützung. Dies setzt allerdings zwingend voraus, dass sich alle Kinder in einer solchen Klasse wohlfühlen und unbeschwert lernen können, sodass sie gerne in die Schule gehen und für ihre gesamte Persönlichkeitsentwicklung (kognitiv, sozial und emotional) gut profitieren können. Damit diese Bedingungen erfüllt sind, ist wiederum erforderlich, dass jedes Kind dem Unterricht – mit der individuell notwendigen Unterstützung – folgen und auch aktiv mittun kann. Dies setzt im spontanen gemeinsamen Lernen Verständnis, Wohlwollen, gegenseitige Hilfe, Toleranz und Kooperationsfreudigkeit als soziale Grundwerte in der Klasse voraus.

Mit der Integration in eine Regelklasse wird für viele kognitiv beeinträchtigte Kinder eine künstliche, pädagogisch äusserst unglückliche Situation geschaffen.

Für kognitiv beeinträchtigte Kinder und Jugendliche besteht diese Grundvoraussetzung des gleichwertigen Mitwirken-Könnens im Unterricht nicht. Sie sind überfordert. Deshalb kann die echte Integration solcher Kinder und Jugendlicher nicht gelingen. Vielmehr wird bei ihrer Integration in eine Regelklasse eine künstliche, pädagogisch äusserst unglückliche Situation geschaffen. Diese Kinder bleiben notgedrungen in einer Regelklasse letztendlich immer isoliert, in jeder Hinsicht unterlegen, zumeist hilflos und unfähig, im spontanen Schulleben und -lernen mitzuwirken. Erfahrene Heilpädagogen sprechen hier vom “Exoten” in einer Schulklasse. Für alle Beteiligten führt eine solche Situation nur zu einer äusserst unbefriedigenden Überforderungssituation und dient zuallerletzt den geistig behinderten Schülern bzw. Schülerinnen. Sie können keine stärkenden Erfahrungen machen. Auch das Beispiel, das Roger von Wartburg in seinem Beitrag angeführt hat, zeigt dies klar auf.

Jeder Schüler, jede Schülerin wird vielmehr in die eigene Lernblase entlassen, nur phasenweise von zahlreichen, professionellen und weniger professionellen Erwachsenen begleitet.

In diesem Zusammenhang noch einige wenige Worte zur Inklusion, die sich in der Schweiz bisher glücklicherweise (noch) nicht durchgesetzt hat. Denn Inklusion hat noch viel weitreichendere Konsequenzen als die Integration. Die Promotoren der Inklusion sprechen von einer notwendigen grundsätzlichen Revolutionierung der Schule überhaupt. Als Institution soll diese völlig umgestaltet werden – ohne jegliche Gliederung der Schulklassen nach Leistung. Sämtliche möglichen Niveaus sollen nach dieser Vorstellung miteinander im selben Setting lernen. Heterogenität bzw. Diversität und Vielfalt an Unterschiedlichkeit der beschulten Schülerinnen und Schüler kann laut Theorie der Inklusion nicht gross genug sein. Sie ist hocherwünscht. Gemeinsamer Klassenunterricht kann entsprechend natürlich nicht stattfinden. Jeder Schüler, jede Schülerin wird vielmehr in die eigene Lernblase entlassen, nur phasenweise von zahlreichen, professionellen und weniger professionellen Erwachsenen begleitet.

Laut Inklusionsideal lernen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten neben geistig behinderten Kolleginnen und Kollegen teils gar neben Kindern und Jugendlichen, die körperlicher Pflege bedürfen (z. B. Windeln wechseln usw.). Evidenterweise entspricht dieses Ideal genau den Vorstellungen einer vollkommen individualisierten Schule und man fragt sich, wie auf diese Weise so etwas wie Gemeinsinn entwickelt werden könnte. Hört man deutschen Sonderpädagoginnen und -pädagogen von solchen Inklusionsschulen, die dort längst eingeführt sind, zu, fällt es schwer und macht betroffen, sich die geschilderten Zustände in den eigenen Schulen auszumalen. Gerade jene Lehrpersonen in Deutschland, die sich professionell den besonders schwachen und bedürftigen Kindern und Jugendlichen annehmen sollten, haben inzwischen lediglich die undankbare Aufgabe, in völlig chaotischen Schulklassen, vollkommen entgleiste Dynamiken aufzufangen und zu beruhigen. Im Namen unserer Kinder ist sehr zu hoffen, dass uns solche verheerenden schulischen Bedingungen erspart bleiben.

Beat Kissling, 20.11.2022

 

(6) Fachbegriff “Geteilte Intentionalität”

(7) vgl. Paul L. Harris (2015): “Trusting What You’re Told. How Children learn from Others”. The Belknap Press of
Harvard University, Cambridge, Massachusetts, London, England

(8) Reichenbach, R. (2015, 26. Juni). Kein Mensch ist bildungsfern (Interview). SRF. Verfügbar unter
https://www.srf.ch/wissen/lernen-gewusst-wie/kein-mensch-ist-bildungsfern

(9) Reichenbach, R. (2013). Für die Schule lernen wir. Plädoyer für eine gewöhnliche Institution. Klett Kallmayer,
Seelze, S. 17

(10) dito S.31

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