Prüfungen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 01 Aug 2023 12:58:22 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Prüfungen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Würden Sie die chinesische Gymiprüfung bestehen? https://condorcet.ch/2023/07/wuerden-sie-die-chinesische-gymipruefung-bestehen/ https://condorcet.ch/2023/07/wuerden-sie-die-chinesische-gymipruefung-bestehen/#comments Mon, 31 Jul 2023 06:25:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=14699

In unserem Blog berichten wir immer wieder über die asiatischen Schulsysteme. Hier veröffentlichen wir einen Artikel von Katrin Büchenbacher, der in der NZZ erschienen ist. Katrin Büchenbacher ist Auslandskorrespondentin der NZZ. Ihre Erkenntnisse sind zwar nicht ganz neu, was den Druck und den Stress betrifft, dem die chinesischen Schüler ausgesetzt sind: Knallharte Quoten, grosse Konkurrenz und die Hälfte fällt durch. Spannend sind allerdings die Aussagen über die unterschiedliche Qualität der Berufsschulen und der Gymnasien.

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Die Zukunft von Qi Lians Sohn entscheidet sich an drei Tagen im Juni, in einem Prüfungssaal mitten in Peking. Die letzten zwei Monate ist Qi Lian, die in der Bauplanung arbeitet, vor 6 Uhr aufgestanden. Sie hat für ihren Sohn gekocht, hat ihn zur Schule gefahren und ist abends mit ihm zwei Stunden den Lernstoff durchgegangen. “Manchmal wollte er nicht, dass ich ihn fahre, manchmal brachte er nichts runter, wenn ich für ihn gekocht hatte”, erzählt Qi Lian per Videotelefon. “Ich habe mir solche Sorgen gemacht.”

Gastautorin Katrin Büchenbacher

In China haben im Juni und Juli 15 Millionen 15-Jährige die Gymiprüfung geschrieben. Sie wurden während zweieinhalb Tagen in zehn Fächern wie Chinesisch, Mathematik oder Englisch geprüft. Das Examen ist für Mittelschüler die einzige Chance, es ins Gymnasium und danach an eine Universität zu schaffen. Die Prüfung darf nicht wiederholt werden, und die Kinder müssen dafür nicht nur gut, sondern besser als ihre Mitschüler sein. Denn das Bildungsministerium hat eine fixe Quote festgelegt: Ungefähr die Hälfte erhält einen Platz am Gymnasium, die übrigen besuchen eine Berufsschule oder gehen nicht mehr zur Schule.

Frau Yan ist eine junge Kunstlehrerin an einer renommierten Mittelschule im Westen von Peking. Sie spricht nur mit der NZZ, wenn sie anonym bleiben darf, denn sie fürchtet um ihre Stelle. Frau Yan erzählt, in der Zeit vor der Gymiprüfung habe sie einer ihrer Schüler vor versammelter Klasse beleidigt, als sie ihn zum wiederholten Male aufgefordert habe, still zu sein – das sei vorher noch nie vorgekommen. Frau Yan erklärt sich das Verhalten ihres Schülers mit dem hohen Stress, den die bevorstehende Prüfung für die Schüler bedeute. Dabei seien es vor allem die Eltern, die ihre Kinder stark unter Druck setzten. Sie fürchteten sich davor, dass ihr Kind scheitere.

Die Berufsschulen fallen hinsichtlich Qualität massiv ab.

Scheitern würde bedeuten, dass das Kind auf eine Berufsschule müsste. Das Problem: Diese Berufsschulen fallen hinsichtlich der Qualität massiv ab. “In vielen der Berufsschulen lernen die Schüler quasi gar nichts. Viele brechen die Schule ab. Im besten Fall erwerben sie eng definierte berufliche Fertigkeiten, die sie jedoch nicht auf die Zukunft vorbereiten”, schreibt der Entwicklungsökonom Scott Rozelle in seinem Buch “Invisible China”. Eine Zukunft, in der vor allem die Fähigkeit, zu lernen und sich Veränderungen anzupassen, gefragt sei. Rozelle hat jahrzehntelang in China geforscht und etliche Berufsschulen besucht.

Die Zustände, die er dort antraf, waren teilweise schockierend: Schüler, die im Unterricht rauchten, auf dem Handy spielten oder gar nicht erst erschienen. In China haben die Berufsschulen deshalb auch oft den Ruf des “schlechten Umgangs”.

Die chinesische Gymiprüfung: hart, aber fair?

Neun Schuljahre sind in China obligatorisch. Dennoch geht ein Grossteil der Jugendlichen nach der Mittelschule weiter zur Schule, denn die Regierung hat in den letzten zwei Jahrzehnten den Zugang zur Bildung für 16- bis 18-Jährige stark erleichtert – nach dem Vorbild des dualen Bildungssystems, wie es in Deutschland oder der Schweiz üblich ist. Die Berufsbildung in China dauert in der Regel drei Jahre, mit einem halben Jahr Praktikum. Arbeiten kann man danach bestenfalls in der Pflege, im Gastgewerbe oder in technischen Berufen.

In China werden die Weichen in der Schule für das Leben eines jungen Menschen schon sehr früh gestellt.

Doch anders als in Deutschland oder der Schweiz hat China wenig in den beruflichen Bildungsweg investiert. Zudem findet an den Berufsschulen keine ausreichende Qualitätskontrolle statt. Zwar ist die Jobsicherheit mit einer beruflichen Ausbildung höher, doch die Löhne sind gering, Karriere- und Aufstiegschancen gibt es kaum. Durchlässigkeit ist nicht gegeben. An einer Universität studieren darf nur, wer ein Gymnasium besucht und die Universitätseintrittsprüfung bestanden hat – erst seit letztem Jahr gibt es erste Experimente, die auch Berufsschülern erlauben, die Universitätseintrittsprüfung zu absolvieren.

Die Schüler jagen jedem einzelnen Punkt nach.

An der Gymiprüfung entscheidet sich also, ob jemand sozial aufsteigen kann oder nicht. So werden die Weichen für das Leben eines jungen Menschen schon sehr früh gestellt. Damit nicht genug: je höher die Punktzahl, desto höher die Chance auf einen Platz in einem Top-Gymnasium, das wiederum die Chance auf einen Platz an einer von Chinas Eliteuniversitäten erhöht. Die Schüler jagen jedem einzelnen Punkt nach. Das zeigt das Beispiel des Fachs Sport, das nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtpunktzahl ausmacht. Trotzdem kann man in Chinas Sportstadien vor der Gymiprüfung immer wieder junge Schüler beobachten, die einen privaten Trainer angeheuert haben, damit sie im 100o-Meter-Lauf noch ein wenig schneller sind.

Lange Tage für einen 15-Jährigen

In China gibt es immer wieder Stimmen, die fordern, die gymnasiale Bildung allen zugänglich zu machen. So wurden die Quoten für die Gymiprüfung im vergangenen Jahr auch etwas gelockert, und seit 2019 bemüht sich das Bildungsministerium, die Qualität der Berufsschulen zu verbessern. Für den Entwicklungsökonomen Rozelle geht das noch zu wenig weit. Der Fokus müsse nicht auf spezifischen technischen oder handwerklichen Fähigkeiten liegen, die Jahre später schon wieder überholt sein könnten, sondern auf der Allgemeinbildung.

“Es besteht wenig Hoffnung, dass er an das Gymnasium kommt, das wir angepeilt hatten.”

Qi Lians Sohn ist vor der Prüfung jeweils um 6 Uhr aufgestanden, um 7 Uhr startete der Unterricht, Schulschluss war um 18 Uhr. Am Abend setzte er sich nochmals zwei Stunden hin, um zu lernen. Am Wochenende belegte er Zusatzkurse. Qi Lian hat das alles organisiert für ihn. Hat sich der ganze Stress gelohnt? 14 Tage nach der Prüfung erfährt sie das Resultat.

Ihr Sohn hat es ans Gymnasium geschafft. “Nicht ideal” findet Qi Lian seine Punktzahl. “Es besteht wenig Hoffnung, dass er an das Gymnasium kommt, das wir angepeilt hatten.”

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Lehrpersonen: Spielball von Eltern und Behörden? https://condorcet.ch/2020/09/lehrpersonen-spielball-von-eltern-und-behoerden/ https://condorcet.ch/2020/09/lehrpersonen-spielball-von-eltern-und-behoerden/#comments Mon, 07 Sep 2020 04:11:05 +0000 https://condorcet.ch/?p=6297

Hans Joss, ehemaliger Leiter der bernischen Lehrerfortbildung, Sozialdemokrat und Kämpfer gegen Illetrismus und die immer noch praktizierte Selektion in zwei Schubladen (Sek und Real), kritisiert in seinem Beitrag die neu eingeführten Kontrollprüfungen. Anlass war eine von der bernischen Erziehungsdirektion in Auftrag gegebene Untersuchung über den Effekt der Kontrollprüfungen. Diese zeichnete ein positives Bild dieser behördlichen Massnahme.

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Hans Joss, Kämpfer gegen Selektion und Illetrismus
Bild: Der Bund

In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden im Kanton Bern die Prüfungen vom 6. ins 7. Schuljahr ersatzlos gestrichen. Als Grund galt: Wissenschaftliche Studien hätten immer wieder die Unmöglichkeit zuverlässiger Leistungsprognosen für die nächsten drei Jahre gezeigt: In dieser sensiblen, dynamischen Übergangsphase vom Jugendlichen zum jungen Erwachsenen stünden bei Jugendlichen unterschiedliche Interessen im Vordergrund und seien verbunden mit stürmischen Auseinandersetzungen mit der eigenen Person und der Umwelt, was Energien binde, welche in der Schule fehlten.

Beobachtungsphase statt Prüfung

Die punktuellen schriftlichen Prüfungen ersetzte man durch eine zweijährige Beobachtungsphase, während der das Verhalten von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich ihrer Zuteilung als Real- oder Sekundarschüler beobachtet wurde. Die Ergebnisse wurden von den beteiligten Lehrpersonen sorgfältig besprochen, Eltern und Lernende dabei einbezogen. Von den Daten aus dem Schulalltag, erhoben während rund eineinhalb Jahren, erhoffte man sich zuverlässigere, ganzheitlichere Angaben als aus Prüfungen, die nur zwei Tage dauerten.

Die Zuverlässigkeit schulischer Leistungen wird verfälscht durch Variablen, die ausserhalb der Schule liegen und die sie gar nicht beeinflussen kann.

Erwartungen nicht erfüllt

Heute wissen wir, dass diese Annahme nur zum Teil zutrifft, weil das Elternhaus – je nach sozialem Status – einen enormen Einfluss auf das kindliche Lernen hat. Die Zuverlässigkeit schulischer Leistungen wird verfälscht durch Variablen, die ausserhalb der Schule liegen und die sie gar nicht beeinflussen kann.

Beobachtungsphase mit Elterngesprächen ersetzten die Übertrittsprüfungen.

Da es auch bei diesem Prüfungsverfahren immer wieder zu schwierigen, belastenden Gesprächen mit Eltern gekommen ist, die nicht einverstanden waren mit der Zuteilung ihres Kindes, wurde eine sogenannte Kontrollprüfung eingeführt, welche die „Einigungsgespräche“ ersetzten. Sie besteht aus einer schriftlichen Prüfung, an der die Fächer Deutsch, Mathematik und Französisch während je 90 Minuten geprüft werden. Allerdings bleibt unklar, was genau dabei „kontrolliert“ wird: die prognostische Kompetenz von Lehrpersonen, das Erreichen von Lernzielen oder die Übereinstimmung der schulischen Empfehlung mit der Einschätzung der Eltern?

Anspruchsvolle, zeitintensive Aktivitäten, die neben dem ordentlichen Unterricht geleistet werden.

Kontrollprüfungen mit Einwlligung der Lehrerschaft
Foto: Bernerzeitung

Lehrpersonen und Schulleitungen stimmten jedenfalls der zusätzlichen Variante „Kontrollprüfung“ zu, denn mühsame Gespräche mit Eltern fielen dadurch weg. Involviert in dieses Übertrittsverfahren sind Schulleitung, Klassenlehrpersonen, Fachlehrer/innen, Eltern und Schüler/innen. Es beinhaltet Standortbestimmungen, Informationsveranstaltungen, Gespräche sowie mündliche oder schriftliche Berichte – und das für jeden einzelnen Schüler: alles anspruchsvolle, zeitintensive Aktivitäten, die neben dem ordentlichen Unterricht geleistet werden. Dazu kommt das bisweilen belastende Wissen darüber, dass Prognosen in diesem Alter eine sehr hoher Irrtumswahrscheinlichkeit aufweisen.

Hier die Übersicht über das Übertrittsverfahren von der Primarstufe zur Sekundarstufe 1:

https://www.erz.be.ch/erz/de/index/kindergarten_volksschule/kindergarten_volksschule/beurteilung-lehrplan-21/kontrollpruefung.assetref/dam/documents/ERZ/AKVB/de/02_Beurteilung_Uebertritte/beurteilung_uebertritte_Kontrollpruefung_Uebersicht_Uebertritt.pdf

In diesem Verfahren zeigt sich zudem noch ein arbeitsrechtliches Problem: Denn Lehrpersonen werden gezwungen, einen Teil ihrer Arbeitszeit in ein fragwürdiges Projekt zu investieren auf Kosten ihres Kernauftrags, nämlich Lernende optimal individuell zu fördern.

Ein kaum übertreffbares Beispiel an Geringschätzung der Arbeit von Lehrpersonen

Nun können trotz dieses ausserordentlichen Aufwands der Lehrpersonen Eltern also beantragen, dass ihr Kind die Kontrollprüfung absolviert, wenn sie mit der Empfehlung der Lehrpersonen nicht einverstanden sind. Drei 90-minütige Prüfungen werden im Ergebnis stärker gewichtet als die ganzheitliche Erfassung des Kindes: ein kaum übertreffbares Beispiel an Geringschätzung der Arbeit von Lehrpersonen.

Willkürlich festgelegte Werte
Foto: Bernerzeitung

Auch das leuchtet nicht ein: Die Kontrollprüfung besteht aus Aufgaben, die von Experten zusammengestellt wurden, und enthält damit genauso willkürlich festgelegte Werte wie die Lehrerempfehlung, aber ohne Kenntnis der Prüflinge. Diese Problematik zeigt sich u.a. darin, dass bei der Kontrollprüfung 2020 rund ein Drittel der geprüften Schüler/innen im Fach Deutsch eine bessere Note erhalten hat als in den Empfehlungen der Lehrpersonen. Sie stellen sich als ein selektives, öffentliches Verfahren heraus, das auf Zufälligkeiten, Willkür und Diskriminierung von Jugendlichen beruht. Und dies im Auftrag der Erziehungsdirektion, als Kompromisslösung gegenüber den Eltern gedacht, doch mit nachhaltigen Langzeitfolgen für Schülerinnen und Schüler.

Drei Fächer entscheiden

Die Prüfung muss in allen drei Fächern abgelegt werden. Wenn ein Schüler in zwei der drei Fächer die Note fünf erhält, gilt er als Sekundarschüler. Wenn er nur in einem Fach die Note fünf erhält, ist er Realschüler. Darüber entscheiden lediglich die Noten der Kontrollprüfung. Ein Schüler kann auch zurückgestuft werden. Ein Beispiel: Die Lehrerempfehlung lautet: Note 5 in Deutsch, in Mathematik und Französisch je Note 4, also folgt die Zuteilung in die Realschule. An der Prüfung schreibt der Schüler/die Schülerin in Deutsch eine 4, in Mathematik eine 5 und in Französisch auch eine 4, dann bleibt er ein Realschüler.

Monitoring Kontrollprüfung 2020:

https://www.erz.be.ch/erz/de/index/kindergarten_volksschule/kindergarten_volksschule/beurteilung-lehrplan-21/kontrollpruefung.assetref/dam/documents/ERZ/AKVB/de/02_Beurteilung_Uebertritte/beurteilung_uebertritte_Kontrollpruefung_ergebnisse_2020_d.pdf

Die Prüfungsergebnisse in Deutsch und Mathematik belegen, dass die Schule nach sechs Jahren die sozial bedingten Unterschiede nicht ausgleichen konnte, sondern verschärft hat, was dem Auftrag der Volksschule widerspricht und – noch schlimmer – gegen das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verstösst.

Die Prüfungsergebnisse in Deutsch und Mathematik belegen, dass die Schule nach sechs Jahren die sozial bedingten Unterschiede nicht ausgleichen kann, sondern verschärft, was dem Auftrag der Volksschule widerspricht und – noch schlimmer – gegen das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verstösst. Die Aufteilung in leistungsstärkere und leistungsschwächere Schüler stellt deshalb eine Diskriminierung dar, weil sie abhängig ist von der sozialen Herkunft der Lernenden und nicht von den effektiven Leistungen, unabhängig von der Herkunft. Lehrpersonen werden also vom Arbeitgeber verpflichtet, Schülerinnen und Schüler zu diskriminieren.

Begründet wird die äussere Differenzierung in die zwei Gruppen Real-und Sekundarschüler mit dem Argument, so könne man während drei Jahren gezielter auf die Bedürfnisse der Lernenden eingehen und sie besser fördern – an sich glaubwürdig und gut nachvollziehbar.

An die 20% Illetristen

Die Realität sieht jedoch anders aus. Die Diskriminierung nach der 6. Klasse zeigt folgende Wirkung: Bei Schulaustritt haben mehr als 20% der Schüler/innen ungenügende Fähigkeiten in Lesen und Schreiben, und das beim zukunftsträchtigen Übergang von der Sek1 zur Sek2. Die signifikanten Unterschiede im Fach Deutsch beim Übertritt von der 6. in die 7. Klasse bleiben offenbar bestehen oder verschärfen sich, weil die Schule zu wenig Ressourcen hat zur individuellen Förderung schwächerer Schüler.

Der Wechsel von einer inneren Differenzierung nach sechs Jahren auf die äussere Differenzierung bedeutet daher einen klaren Rückschritt der Schulqualität. Die Kontrollprüfung ist ein enorm arbeitsintensives Prozedere, welches gerade den schwächeren Schülern zum Verhängnis wird, und das bei jährlich wiederkehrenden Ausgaben zwischen 250‘000 bis 300‘000 Franken, pro Schüler Fr. 700.00, bezahlt von der Öffentlichkeit.

Auch psychisch negative Folgen

Die schwächeren Schüler haben nicht nur sprachliche Defizite; was viel gravierender ist: Sie sind psychisch angeschlagen, haben ein schwaches Selbstwertgefühl, sind unsicher und ängstlich, weil sie nicht oder ungenügend gefördert wurden. Konkret bedeutet das: Das kleine 1 x 1 mit den 4 Grundoperationen ist für die Mehrheit von ihnen ein Problem.

Während meiner Arbeit während 15 Jahren an einem 10. Schuljahr (individuelle Lernhilfe, 90 Minuten alle 14 Tage mit einem Schüler oder einer Schülerin) wurde ich immer wieder konfrontiert mit den Schwachstellen der Volksschule. Umso eindrücklicher waren die Fortschritte und Motivationsschübe, welche die individuelle Begleitung und Ermutigung auslösten, mit dem Erfolg, dass jeweils die Mehrheit am Ende des Schuljahres einen Lehrvertrag abschliessen konnte.

Die Sprachprobleme begleiten betroffene Schülerinnen ins Berufsleben. Die meisten von ihnen wurden dermassen beschämt während der Schulzeit, dass sie lebenslang jegliche Lernangebote in Lesen und Schreiben ablehnen, blockieren. Auch grosszügige und kostenaufwendige Kampagnen vom Bund werden verschmäht, ebenso günstige Kursangebote der Erziehungsdirektion, welche leider zu spät erfolgen.

Lehrpersonen als Spielball von Eltern und Behörden? Leider ja – auf Kosten der Schüler/innen.

Es ist dringend notwendig, dass vor allem schwächere Lernende aus bildungsfernen Familien während der 11 Jahre dauernden Schulzeit wesentlich mehr gefördert werden. Die Selektion nach dem 6. Schuljahr mit neuen, diskriminierenden Klasseneinteilungen, zerstört mutwillig eine während sechs Jahren organisch gewachsene Gruppendynamik.

Die Kontrollprüfung stabilisiert, verstärkt und legitimiert die unzureichenden Ressourcen

Ein unqualifiziertes Übertrittsverfahren wie die Kontrollprüfung schadet dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Lehrpersonen, es verhindert vertrauensvolle Beziehungen zu den Eltern, es untergräbt die Autorität gegenüber Schülerinnen und Schülern. Lehrpersonen werden zu leicht manipulierbaren, willfährigen Handlangern von Eltern und Verwaltung. Die Kontrollprüfung stabilisiert, verstärkt und legitimiert die unzureichenden Ressourcen,
mit welchen die Volksschule ihrem Auftrag nicht gerecht werden kann.

Hans Joss

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