Ökologie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 27 Sep 2023 06:43:49 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Ökologie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 «Der Lebhag» von Meinrad Inglin: Ökologische Didaktik in Form einer literarischen Biodiversitäts-Fabel https://condorcet.ch/2023/09/der-lebhag-von-meinrad-inglin-oekologische-didaktik-in-form-einer-literarischen-biodiversitaets-fabel/ https://condorcet.ch/2023/09/der-lebhag-von-meinrad-inglin-oekologische-didaktik-in-form-einer-literarischen-biodiversitaets-fabel/#respond Mon, 04 Sep 2023 20:46:36 +0000 https://condorcet.ch/?p=14902

Vor 76 Jahren, ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, verfasste der bekannte Schweizer Schriftsteller Meinrad Inglin (1893-1971) mit der kurzen Erzählung «Der Lebhag» eine Art Biodiversitäts-Fabel, die auf knappen 8 Seiten in Form einer Familiensaga auf eindrückliche Weise anschaulich macht, wie das Artensterben letztlich den Menschen trifft. Condorcet-Autor Georg Geiger stellt sie uns vor.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Inglin zeigt den Kreislauf des Unglücks in der Natur
Meinrad Inglin, Schriftsteller, 1893 -1971: Ökologische Kreisläufe in Form einer Geschichte erfahren und begreifen.

Eine Million Tiere und Pflanzen sind heute weltweit vom Artensterben bedroht und die Folgen für das Leben auf unserem Planeten könnten ähnlich drastisch sein wie die Klimaerwärmung. Die Wichtigkeit einer einzelnen Art ist dabei schwer nachzuweisen.  Klar aber ist, dass jede einzelne Spezies eine Funktion im grossen Ganzen hat und klar ist ebenfalls, «dass man nicht beliebig viele Tiere und Pflanzen aus dem System entfernen kann, ohne dass das Konsequenzen hätte», wie Tina Baier in der Süddeutschen Zeitung vom 15.10.2021 anschaulich darlegt, indem sie den Biodiversitätsexperten Josef Settele zitiert: «Es ist, als ob man bei einem Flugzeug anfangen würde, Nieten zu entfernen. Eine fehlende Niete wäre nicht weiter schlimm, aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem zu viele Nieten fehlen und das Flugzeug abstürzt.» Und Absturz bedeutet, dass die grossen Kreisläufe in der Natur nicht mehr funktionieren, von denen auch der Mensch abhängt. Und genau diese Dialektik von Artensterben und sozialem Verfall steht im Zentrum der didaktisch daherkommenden Oekoparabel von Meinrad Inglin, deren Lektüre im Schulunterricht bestens geeignet ist, ökologische Kreisläufe in Form einer Geschichte zu erfahren und zu begreifen.

«Auf einer waldarmen offenen Hochebene hatten die Bauern alle Hecken bis auf eine ausgereutet und ihre Aecker und Wiesen mit leblosen Zäunen umgeben, die aus eisernen Pfosten und Drähten bestanden. Sie behaupteten, diese Zäune seien viel bequemer und sauberer, sie nähmen dem Boden kein Licht weg und gäben keine Arbeit mehr. Es schien ihnen gleichgültig, dass das Land nun öde aussah, sie kümmerten sich um den Nutzen und nicht um  Schönheit des Landes, dafür waren sie Bauern.»

 So pragmatisch wie die Schweizer Bauern 1946 argumentierte, so spricht auch heute noch der Schweizer Bauernverband, wenn er sich gegen die minimale Erweiterung der ökologischen Ausgleichsflächen ausspricht. Dass damit ein Kreislauf des Unglücks in der Natur und beim Menschen in Gang kommt, zeigt einem Inglin, indem er die Geschichte des alten Bonifaz, seines Sohnes Blasius, dessen Frau und ihrer drei Kinder auf nüchterne und zugleich eindringliche Weise erzählt.

«Die letzte grüne Hecke verdankte ihr Leben dem alten Bonifaz, der sie erhalten wollte und ihren kräftigen Wuchs alljährlich selber mit der Hagschere zurückschnitt.» Die Hecke war von Weissdorn, Feldahorn, Hasel, Hartriegel, von Ackerwinden und Hopfen durchwachsen. In ihm wohnten Vögel  und Hasen. Nicht nur der alte Bauer erfreute sich daran, auch für seine Enkel*innen war er ein Paradies. Hier fanden sie die ersten Schlüsselblumen, Buschwindröschen und Veilchen, und der Grossvater zeigte ihnen das Nest eines Zaunkönigs. Im Mai sammelte er die Spitzentriebe der dünnen rauen Hopfenstengel «und machte daraus in einem Pfännchen mit Anken ein zartes Gemüse.» Es blühten Liguster,Heckenkirsche, Geissblatt, späte hohe Spyräen, Akelei und andere Blumen, die sonst nirgends auf der Wiese vorkamen.

 

Als im «nasskalten Herbst» der Grossvater für lange Zeit krank war, beschloss sein Sohn Blasius, den Lebhag auszureissen. Als der alte Mann im nächsten Sommer sich wieder vom Krankenlager erhob, sah er statt seines Lebhages nur noch eiserne Zäune. «Er sagte kein Wort  dazu, aber er schaute lange hin, als ob er es nicht begreifen könnte, und in seinem Blick erlosch die erwachende Lebensfreude seines heiteren Alters wieder. Er war der gute Geist des Hauses gewesen, jetzt wurde er grämlich und hinfällig.» Auch die Kinder vermissten den Lebhag. Die gewaltsame Zerstörung dieses kleinen Paradieses hatte auch ihnen ein wenig von ihrer Lebensfreude genommen.

Meisen, Rotkelchen, Zaunkönige und Weidenlaubvögel waren plötzlich fort und vertilgten keine Ungeziefer mehr. Umso mehr gediehen der Blütenstecher, der Kartoffelkäfer, Blattschabe, Schnacke, Raupe und Larven aller Art. Es gab immer mehr angestochene Blüten, kahlgefressene Zweige, zernagte Kartoffelstauden und wurmstichiges Obst. Es fehlten die Igel, die die Engerlinge und Werren frassen, es verschwand die Wieselfamilie, die die Feldmäuse vertilgte. Die austrocknenden Winde wurden durch keine Hecke mehr vermindert, die bodenwarme Feuchtigkeit verschwand, der Tau trocknete rasch und zurück blieben ausgedörrte Aecker.

Bläsi machte es nicht wie die andern Bauern, die anfingen, Maschinen, Kunstdünger und Pestizide einzusetzen. Er fing an  Most und Schnaps zu saufen, um alles zu vergessen.

«Bläsi fand das alles unbegreiflich. Er dachte selber nicht viel nach, er machte nur ungefähr, was auch seine Nachbarn machten.» Dieser «harmlose, gutmütige Mann» verlor seine gute Laune und auch seine Frau litt darunter. Bläsi machte es nicht wie die andern Bauern, die anfingen, Maschinen, Kunstdünger und Pestizide einzusetzen. Er fing an  Most und Schnaps zu saufen, um alles zu vergessen. Die ältere Tochter heiratete so bald als möglich, auch die jüngere zog bald fort, und der Sohn ging in die Fabrik arbeiten. Es sei «kein Segen mehr» über dem Hof. Seine «herbe, schaffige Frau» empfahl, häufiger zu beten und in die Kirche zu gehen. Das half ihnen etwas über ihre tiefe Entmutigung hinweg, aber der Ertrag stieg trotzdem nicht an. « Wenn der Mensch den Sinn für das Wunderbare und Schöne der Natur verliert und weniger nach ihrer Weisheit als nach seinem eigenen Kopf verfährt, die Mittel also verachtet oder missbraucht, die Gott ihm in die Hand gibt, so wird er in allen Kirchen der Welt vergeblich um Hilfe beten.»

Ihnen fehlte der rechte Sinn für die Erkenntnis des Grossvaters

 Dem streitenden Ehepaar riet der altersschwache Grossvater Bonifaz: «Müsst die Drahtzäune ausreissen und grüne Lebhäge pflanzen, dann wird es  schon allmählich wieder besser gehen.» Diesen Rat verstanden sie nicht und nach dem Tod des Grossvaters verkauften sie den Hof und zogen fort. «Ihnen fehlte der rechte Sinn für die Erkenntnis, die der Grossvater mit der einfachen Weisheit seines erfahrenen Alters gefunden und ausgesprochen hatte, wie er auch den übrigen Bauern dieser Gegend fehlte. Die Zeit dafür war hier noch nicht gekommen.»

 Und es wirkt angesichts der Klimaerwärmung und des Artensterbens visionär und zeugt von einem beeindruckenden Verständnis für ökologisches Denken, wenn der Erzähler seine Fabel mit folgenden Worten ausklingen lässt: «Es schien auf den ersten oberflächlichen Blick seltsam, dass etwas so Geringfügiges, längst Vergessenes wie das Ausreissen eines Lebhages am Unglück dieser beiden Leute schuld sein sollte. Aber es ist anderseits nicht seltsam, dass etwas so Schwebendes, Gefährdetes wie das menschliche Wohlergehen durch scheinbare Kleinigkeiten endgültig zerstört werden kann. Der Frost braucht am Berghang nur ein paar Steine zu lockern, und der Felsblock darüber beginnt zu rutschen. Eine Träne genügt, um die Goldwaage aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es kann im Landleben auch etwas anderes sein, an dem dies sichtbar wird, ein verkaufter Talboden etwa, der für ein Kraftwerk unter Wasser gesetzt wird, ein kahlgeschlagener Wald, dessen Unentbehrlichkeit niemand erkennen wollte, oder auch nur eine schöne Baumgruppe, die man ahnungslos nach ihrem blossen Geldwert eingeschätzt hat. Hier war es ein Lebhag.»

 

 

 

 

 

 

 

 

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Der neue Klassenkampf https://condorcet.ch/2021/07/der-neue-%c2%acklassenkampf/ https://condorcet.ch/2021/07/der-neue-%c2%acklassenkampf/#comments Wed, 28 Jul 2021 13:27:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=9058

Liberale Meinungen werden an den Schulen nicht unterdrückt; ihr Austausch findet gar nicht erst statt. Um für ein junges Publikum attraktiv zu werden, müssten die Liberalen den Gang ins Schulzimmer wagen. Robert Benkens, Gymnasiallehrer in Oldenburg, ist der Shootingstar einer austerbenden Gattung: der liberalen und optimistischen Lehrer. Dieser Beitrag erschien zuerst im Schweizer Monat und hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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Robert Benkens, Lehrer für Deutsch und Politik am Liebfrauengymnasium in Oldenburg: Liberale können kein Agendasetting.

Ob «Burn Capitalism, Not Coal» oder «System Change, Not ­Climate Change» – das sind nur zwei der Slogans auf Protestbannern von Klimaaktivisten. Eine Umfrage zeigt: In Deutschland haben 45 Prozent der jungen Menschen ein positives Bild vom Sozialismus und noch mehr, 47 Prozent, sind gegenüber dem Kapitalismus negativ eingestellt. Woran liegt es, dass ein Wirtschaftssystem, das bei allen Schwächen, die zweifellos staatliche Korrekturen und Rahmengesetze notwendig machen, so viel für die Armutsbekämpfung in der Welt getan hat wie kein anderes zuvor – dass ein solcher Kapitalismus einen schlechteren Ruf hat als der Sozialismus, der für die grössten menschengemachten Hunger- und Umweltkatastrophen verantwortlich ist?

Liberale haben offensichtlich zu lange an die normative Kraft des Faktischen, an «das Ende der Geschichte» geglaubt. Sie haben sich damit zufriedengegeben, dass die Systemalternativen scheiterten. Typisch dafür ist eine Floskel, die ich nicht nur von Schülern, sondern auch von Erwachsenen immer wieder höre: «Der Sozialismus ist ja eigentlich eine gute Idee, wurde nur falsch umgesetzt.» Die Konstruktionsfehler, die dem Sozialismus «ab Werk» eingeschrieben sind, können wenige benennen. Gleichzeitig sind die Megatrends bei der weltweiten Armutsbekämpfung weit­gehend unbekannt.

Sozialismus ist ja eigentlich eine gute Idee, wurde nur falsch umgesetzt.

Deshalb, dachte ich zu Beginn meiner Lehramtszeit vor ein paar Jahren, müsse man nur etwas ökonomische Aufklärung betreiben: Nicht nur über die Bilanzen von Bundesrepublik und DDR, USA und Sowjetunion, Süd- und Nordkorea, sondern auch über die vierzig Millionen Verhungerten im sozialistischen China unter Mao und die Befreiung von über 500 Millionen Chinesen aus der Armut durch die marktwirtschaftliche Öffnungspolitik Deng Xiaopings, über Liberalisierungsmodelle in Botswana und Chile oder Verarmungsregime wie Kuba und Venezuela. Bei der Suche nach Material stiess ich auf Bücher wie «Factfulness», «Why Liberalism Works», «Identität», «Aufklärung jetzt» und «More from Less», stöberte in «Our World in Data», entdeckte das «Breakthrough ­Institute» und erkannte, dass eine stabile Marktordnung in einem Land nicht nur die ökonomische Entwicklung begünstigt, sondern auch soziale sowie ökologische Indikatoren verbessert.

Konservative haben Religion, Familie,Dorf oder Heimatgefühle im Angebot. Linke haben Visionen internationaler Solidarität. Die Grünen sind auf Weltrettungsmission. Was haben die Liberalen jungen Leuten anzubieten?

Club of Rome: viele Fehlprognosen

Die Unterrichtsvorbereitung führte bei mir zu einem grundsätzlichen Nachdenken über das Bildungssystem: Während sich die Welt draussen rasant entwickelte, wurde weiterhin das schon zu meiner Schulzeit überholte Bild einer geteilten Welt der 1970er gezeichnet – einer Zeit, in der viele meiner Lehrer Studenten ­waren. Mit Verblüffung stellte ich fest, was aus den Untergangs­prognosen von damals geworden war, etwa denen des Club of Rome, und dass diese Fehlprognosen im Unterricht nicht auf­gearbeitet wurden. Eigentlich müsste es doch Aufgabe neuer Lehrergenerationen sein, für einen Perspektivwechsel, gewissermassen ein «Update» des Weltbildes in den Lehrerzimmern zu sorgen.

Wo bleiben die liberalen Antworten?

Stattdessen sah ich mit zunehmender Ratlosigkeit, wie ökopessimistisches, wachstumsfeindliches, antikapitalistisches und fortschrittsskeptisches bis technologiefeindliches Denken auf unterschiedlichen Kanälen auf Schüler und Lehrer einströmte. Noch ratloser liess es mich zurück, wie wenig Kontra aus der liberalen Ecke kam. Ich fragte mich, warum man liberale Antworten auf bestehende Probleme kaum vernahm. Wo war der liberale Kampf gegen sich zementierende Ungleichheit, sozialisierte Umweltschäden, ­armutsbedingte Naturzerstörung und identitätspolitische Spaltungen der Gesellschaft von rechts und links? All dies sind Phänomene, die massgeblich auf die Missachtung liberaler Grundprin­zipien in Markt, Staat und Gesellschaft zurückzuführen sind.

Dann erkannte ich, dass der Liberalismus nicht nur seine programmatische Profilierung hatte schleifen lassen, sondern auch die politische Bildung und das Agenda-Setting. Zwar bilden all die tollen Bücher, Analysen und Lösungskonzepte wichtige Argumentationsgrundlagen. Sie bleiben aber nutzlos, wenn sie nicht zur breiten Öffentlichkeit durchdringen.

Fernsehphilosoph Richard David Precht füllt mit seinen Pauschalbehauptungen die Säle in Deutschlandw
Johan Norberg, schwedischer Politikwissenschaftler: wird nirgends eingeladen.

In Talkshows sitzen Leute wie Richard David Precht, die in ­ihren Bestsellern Untergangsszenarien ausbuchstabieren, in ­anschaulichen Formaten legt Harald Lesch die Sichtweise «der» Wissenschaft zur Energiepolitik dar, auf Netflix kann man dystopische Weltuntergangsfilme streamen. Abgerundet wird der Abend von Auftritten des grünen Kabarettisten Eckart von Hirschhausen oder der Satire Jan Böhmermanns. Für die Jüngeren gibt es coole Vorbilder wie Youtuber Rezo oder freche Formate wie «Jung und naiv». Es wäre doch mal interessant, rationale Optimisten wie Johan Norberg, grüne Renegaten wie Michael Shellenberger oder Ökomodernisten wie Jesse Ausubel zur besten Sendezeit im Austausch mit Precht, Lesch oder Luisa Neubauer zu er­leben. Allein: Solche öffentlichkeitswirksamen Vordenker gibt es im deutschsprachigen Raum kaum. Der Gegenpol zum linksökologischen Mainstream wird von pöbelhaften Populisten, Klima­ignoranten und Verschwörungsdenkern gebildet, wodurch sich der gebildete Stand erst recht in der Richtigkeit der eigenen ­Annahmen bestätigt fühlt. Liberale haben kein stabiles medial-kulturelles oder gar schulisches Rückgrat. Wer die politische ­Kultur eines Landes verstehen will, sollte in die Schulen gucken: Liberale mögen überall sein, aber nicht hier.

Viele schrieben ausdrücklich, dass sie solche Perspektiven gar nicht gekannt, geschweige denn davon in der Schule gehört hätten und mehr davon wünschten.

Nicht Zensur, sondern Opportunismus

Auf einen in der «Welt» zur Klimadebatte und Kapitalismuskritik in Schulen veröffentlichten Essay erhielt ich viel Zuspruch. Die Kommentare und E-Mails zeigten mir, dass ich offensichtlich einen Nerv getroffen hatte. Viele schrieben ausdrücklich, dass sie solche Perspektiven gar nicht gekannt, geschweige denn davon in der Schule gehört hätten und mehr davon wünschten. Andere stimmten zu, warnten aber sogleich, dass meine nicht «systemkonforme» Meinung bald unterdrückt würde. Das Gegenteil war der Fall: Es gab durchaus Verwunderung, bisweilen Kritik, aber im grossen und ganzen zeigte sich Neugier und Offenheit. Meine Standpunkte wurden explizit eingefordert und in Schulprojekte wie «Fairtrade» oder «School for Future» eingebunden. Hinter einer gewissen Färbung vieler Themen in der Schule stecken also weder Verschwörungen noch Indoktrinationsabsichten. Die Lehrkräfte unterdrücken keine anderen Meinungen, weil es gar nichts zu unterdrücken gibt. Es ist viel simpler: Für das groteske Missverhältnis aus tatsächlicher ­Bilanz des Liberalismus und seiner öffentlichen Rezeption sind nicht «die anderen» oder ein «linksgrünversiffter Zensur-Mainstream» verantwortlich, sondern der Opportunismus der Lehrkräfte und die Vernachlässigung der politischen Bildung durch die Liberalen selbst. It’s the Education, Stupid!

Während Kollegen, die etwas zum Thema «Bildung für nachhaltige Entwicklung» machen wollen, mit Material zugeschmissen werden, sich an NGO und Staats­beauftragte wenden können, musste ich das Unterrichtsmaterial aus oft englischsprachigen Fachjournalen, Büchern und Internetquellen zusammensuchen, übersetzen und medial aufbereiten.

Steven Pinker: die liberale Stimme. Mit liberalem Denken fährt die Welt besser.

Es gibt keine liberalen NGO, die Material für den Unterricht oder Schulprojekte zur Verfügung stellen. Besonders aufgefallen ist mir das, als ich einen Kurs zum Ökomodernismus unter dem Titel «Wirtschaftswachstum und Umweltschutz – (wie) passt das zusammen?!» plante. «Öko… was?», lautete die Reaktion darauf. Während Lehrer und Schüler mit den Ideen der Postwachstumsökonomie etwas anfangen können – sind diese doch in jedem zweiten Schulbuch vertreten –, kannte niemand überhaupt den Begriff «Ökomodernismus». Während Kollegen, die etwas zum Thema «Bildung für nachhaltige Entwicklung» machen wollen, mit Material zugeschmissen werden, sich an NGO und Staats­beauftragte wenden können, musste ich das Unterrichtsmaterial aus oft englischsprachigen Fachjournalen, Büchern und Internetquellen zusammensuchen, übersetzen und medial aufbereiten.

Massenweise NGO-Unterrichtsmaterial, keine liberale Antwort.

Es gibt keine liberalen Pendants zu «Nachhaltigkeitswochen» oder «Eine-Welt-Läden», zu Greenpeace, Germanwatch, BUND oder Attac, von denen Schüler Antworten auf die grossen öko­nomischen, sozialen und ökologischen Fragen ihrer Zeit aus genuin liberaler Perspektive bekommen könnten. Aber wie sähen diese überhaupt aus? Es folgt ein Beispiel aus meiner Erfahrung als ­Lehrer einer «Fairtrade-Schule».

Engagierter Liberalismus

Gerade Liberale sollten den Grundgedanken von fairem Handel unterstützen. Schliesslich wird ein marktwirtschaftliches Instrument gegen ausbeuterische Verhältnisse in Stellung gebracht: die Macht der Konsumenten. Diese können Konzerne für schlechte Produkte oder nachweislich unethische Handlungen strafen, zur Konkurrenz abwandern und so einen enormen Druck ausüben. Wenn im Sozialismus Betriebe miserabel wirtschafteten, Natur oder Menschen ausbeuteten, konnten weder Konsumenten noch Arbeiter das Unternehmen wechseln. Schüler merken also, dass sie mit ihrer Konsummacht und durch das Schaffen eines öffent­lichen Bewusstseins etwas bewirken können.

Für das groteske Missverhältnis aus tatsächlicher Bilanz des Liberalismus und seiner öffentlichen Rezeption sind nicht ‹die anderen› oder ein ‹linksgrünversiffter Zensur-Mainstream› verantwortlich, sondern der Opportunismus der Lehrkräfte und die Vernachlässigung der politischen Bildung durch die ­Liberalen selbst.

Beispielloser Rückgan der Armut.
Graphik FAZ

Die Schule neigt jedoch oft dazu, komplexe Probleme primär auf die individuelle Ebene der Lebensstile herunterzubrechen. Das ersetzt aber nicht die Analyse ökonomischer Trends, struktureller Probleme und von Fehlanreizen vieler gut gemeinter Initiativen. Problematisch wäre es, wenn Lernende vermittelt bekämen, dass Fairtrade das bessere Gegenstück zu Freetrade sei, dass Konsum respektive Wachstum und Kapitalismus stets zur Ausbeutung von Menschen und Umwelt führten, also eine Art Nullsummenspiel seien, von dem nur reiche Länder auf Kosten der ­armen profitierten. Wahr ist dagegen: Freihandel hat für eine beispiellose Reduktion der Armut gesorgt, und Fairtrade kann diesen Trend noch verbessern, denn mit steigendem Wohlstand sind ­Arbeits- und Umweltstandards möglich.

Der Weg aus Armut und Unterentwicklung verläuft über Investitionen in industrielle Wertschöpfung und Verarbeitung vor Ort sowie freie Zugänge zu Europas Märkten – vieles davon beisst sich aber mit der Wachstumsskepsis und Industriefeindlichkeit von Globalisierungskritikern. Kontraproduktiv wird es, wenn ­fairer Handel aus einer Idealisierung «naturnaher», kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft Landwirten hochproduktive (und umweltschonende) Biotechnologien verbietet und ineffizienten «Öko»-Landbau subventioniert. Statt Modernisierung und Strukturwandel sozial abzufedern und ökologisch zu umrahmen, konservieren solche Fairtrade-Ansätze die Armut, machen sie lediglich erträglicher, wie Entwicklungsökonom Paul Collier meint. All diese grundsätzlichen Bedenken waren in der Schule unbekannt. Die Kritikpunkte gingen eher in die technische Richtung, ob man denn allen Fair-Trade-Siegeln vertrauen könne. Einerseits erkannte ich durch diese Projekte also, wie viel Liberale vom Idealismus der «Weltverbesserung» lernen könnten. Andererseits kann Schule auch von der Perspektivenerweiterung durch einen engagierten Liberalismus profitieren. Das ist aber schwierig, wenn sich der Mobilisierungswille der Liberalen auf die Verhinderung der nächsten Steuererhöhung via Lobbying beschränkt, statt im intellektuellen Wettbewerb für die eigenen Positionen zu kämpfen, Mehrheiten für sich zu gewinnen und gewisse Deutungshoheiten auch mal in Frage zu stellen.

Statt Leuchttürme liberalen Denkens zu errichten und jungen Menschen Orientierung zu bieten, bewegen sich viele Liberale in der Öffentlichkeit wie lose Bojen in tosender See.

Liberale können kein Agenda-Setting …

Dafür bräuchten liberale Ideen aber mehr Gewicht in der öffent­lichen Debatte. Die wenigen liberalen Nischenmagazine, Blogs und Thinktanks in Deutschland bündeln lediglich freiheitliches Inselwissen in einem Meer aus ökopessimistischen und staatsgläubigen Meinungswellen. Statt Leuchttürme liberalen Denkens zu errichten und jungen Menschen Orientierung zu bieten, bewegen sich viele Liberale in der Öffentlichkeit wie lose Bojen in tosender See.

Sie sind kaum sichtbar und kaum hörbar. Sie schaffen es bis heute nicht, die «kalten» Mechanismen, Prinzipien und Regelwerke hinter dem Erfolg liberaler Ordnungen erfolgreich zu vermitteln. Eigentlich müsste es angesichts der Coronakrise doch ein Leichtes sein, den Mitbürgern nicht nur theoretisch, sondern ganz alltagsnah die Segnungen internationaler Arbeits- und Wissensteilung zu vermitteln, die Bedeutung einer starken Wirtschaft zur Finanzierung all der Forschungs-, Entwicklungs-, Sozial- und Klimaschutzleistungen vor Augen zu führen. Die tatsächlichen Folgen von Wirtschaftskrisen oder das Staatsversagen bei der ­Bestellung, Planung und Verteilung lebensrettender Impfstoffe sind offenkundig.

Dennoch schafft es der Liberalismus nicht mal in einer solchen die Freiheitsrechte massiv beschneidenden Situation, eine Bewegung der Freiheit hinter sich zu scharen und ein Agenda-­Setting zu betreiben, das sich vom links-grünen Mainstream unterscheidet (ohne sich der rechtspopulistischen Fundamental­opposition anzubiedern). Er schafft es nicht, dass junge Menschen zu kognitiv und emotional überzeugten Anhängern der liberalen Idee werden, sich gar in einer Jugendbewegung unter gemein­samen Bannern, Slogans und Songs zusammenschliessen. Konservative haben Religion, Familie, Dorf oder Heimatgefühle im Angebot. Linke haben Visionen internationaler Solidarität. Die Grünen sind auf Weltrettungsmission. Was haben die Liberalen jungen Leuten anzubieten?

… und lassen Bildung links liegen

Nicht viel – bis jetzt. Zusammen mit der politischen Bildung haben sie das in jeder jungen Generation brennende Bedürfnis nach «Weltverbesserung» links liegen lassen und sich lieber auf ihre privaten Erfolgskarrieren konzentriert. Damit haben sie den vorpolitischen Raum jenen überlassen, deren Zerrbilder eines «neo­liberalen Wachstumsfetischismus», der die Menschheit kaum vor­angebracht, dafür aber an den Rand des Abgrunds getrieben habe, bis ins konservative Lager Zustimmung finden. Wer über einen Uni-Campus geht, wird wissen, was gemeint ist. Noch eindeutiger wird es, wenn man in öffentlich-rechtliche Redaktionsstuben, etablierte und bis in den Bildungsbetrieb vernetzte NGO oder angesagte Szenecafés und Theater schaut.

Letztes Jahr erregte eine Umfrage unter Volontären der ARD Aufmerksamkeit, in der die erdrückende Mehrheit des linksliberalen Spektrums deutlich wurde: Über 90 Prozent wählten links-grün, Union und FDP kamen nicht mal auf 5! Wer glaubt, dass diese auch in der Schule erworbenen Vorprägungen keinen Einfluss auf die Berichterstattung hätten, möge sich die Frage stellen, ob er oder sie das auch denken würde, wenn 95 Prozent wirtschaftsliberal oder konservativ wählen würden.

Klare Linkstendenz unter Journalisten.

Eine Studie von Christian Hoffmann hat Voreinstellungen unter Journalisten untersucht und kommt zum Schluss: Im deutschen und amerikanischen Journalismus herrscht eine Linkstendenz vor. In seiner Analyse legt er einen Zusammenhang offen, den ich als Gymnasiallehrer bestätigen kann: Linke zieht es eher in Medien, an Unis und in den Bildungssektor, Liberale hingegen in die Wirtschaft. Zwar gibt es unter den Schülern auch solche, die man marktliberal nennen könnte, sie bekommen in der Schule ­jedoch kaum «Gedankenfutter», wohingegen für links oder grün tickende Altersgenossen eine Menge an idealistischen Projekten und Netzwerken zur Verfügung stehen.

Damit reproduziert sich ein intellektuelles Milieu durch Schule ständig selbst: Wer mit Anfang 20 nach erfolgreichem Abi auf die Uni geht, bleibt weitgehend in seiner Meinungsblase. Der in Harvard lehrende Steven Pinker bestätigt anhand einer Studie von 2014

, dass es an US-Unis eine überwältigende Mehrheit von Anhängern linker bis sehr linker Ideen gebe, sie überwögen Konservative im Verhältnis fünf zu eins – und das war noch vor Trump! An deutschen Unis wird es ähnlich aussehen, und satte 42 Prozent der Erstwähler würden laut einer Umfrage aus dem letzten Jahr grün wählen

– vielleicht ist an der Bundestagswahl vom 26. September gar die absolute Mehrheit drin. Die Grünen sind hier das Mass aller Dinge.

Selten gab es mehr zu tun

In jedem Land besitzt zu jeder Zeit eine Gruppe prägende Deutungshoheit. In den 1950ern lag sie in vielen westlichen Ländern bei den Konservativen. Seither haben die 68er die öffentliche Meinung durch den oft zitierten «Marsch durch die Institutionen» nach links verschoben. Bei vielen Themen kann man nur sagen: zum Glück! Niemand will in die Zeit zurück, in der Minderheiten von einem übermächtigen Staatsapparat systematisch unterdrückt, Arbeiter- und Umweltschutzgesetze durch einflussreiche Lobbys verhindert wurden, in der man das Potenzial der Hälfte der Bevölkerung durch ein reaktionäres Rollenverständnis brachliegen liess und Homosexualität für eine abscheuliche Straftat hielt.

Sklaverei gab es vor dem “weissen Mann” und wurde durch den “weissen Mann” abgeschafft.

Heute wirft es aber auch ein Schlaglicht auf die historische und ökonomische Bildung, wenn Schüler im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nach all den gescheiterten sozialistischen Experimenten immer noch angeben, dass sie Sozialismus für eine gute Idee halten, wenn Aktivisten für die Postwachstumsökonomie eintreten, ohne je die Entbehrungen einer solchen erlebt zu haben, oder wenn Demonstranten in ritueller Selbstgeisselung «den weissen Mann» und die westlich-industrielle Moderne als Wurzel allen Übels ansehen, obwohl westliche Nationen bei weitem nicht die ersten waren, die andere Völker versklavten, wohl aber die ersten, die Sklaverei abschafften, die Aufarbeitung ihres Rassismus ebenso auf den Weg brachten wie Emanzipation und Umweltschutz. Das alles zeigt, wie sehr liberale Stimmen nicht nur in Zeitung, Funk und Fernsehen, im Netz oder an den Unis, sondern vor allem in den Bildungsinstitutionen als Korrektiv gebraucht werden. Selten gab es mehr zu tun, liebe Freiheitsfreunde. Drum – auch wenn es in vielen karrierefixierten Kreisen nicht so sexy klingen mag: Auf ins Lehramt, hinein in die Schulen!

Robert Benkens

 

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