NPM - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 31 Aug 2021 09:51:06 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png NPM - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wann gilt ein Bildungssystem als demokratisch? https://condorcet.ch/2021/08/wann-gilt-ein-bildungssystem-als-demokratisch/ https://condorcet.ch/2021/08/wann-gilt-ein-bildungssystem-als-demokratisch/#comments Tue, 31 Aug 2021 09:51:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=9241

Nach dem Beitrag von Condorcet-Autorin Yasmine Bourgeois über die Entmündigung des Stimmbürgers in Bildungsfragen beschäftigt sich nun unser "Haushistoriker" Peter Aebersold grundsätzlich mit der staatsrechtlichen Problematik der Bildungsausfsicht. Der Befund von Peter Aebersold ist klar!

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Aus der Perspektive einer demokratischen Organisation des Bildungssystems müssen drei Grundanforderungen erfüllt sein, damit es als demokratisch bezeichnet werden kann: Erstens eine Bildung für alle im Sinne der Rechtsgleichheit, zweitens eine Selektion aufgrund von schulischen Leistungen und drittens müssen die Instanzen, an die Kompetenzen delegiert werden, demokratisch legitimiert und kontrolliert werden. Letzteres gilt auch für Handlungsinstanzen wie Schulleitungen oder autonome Schulen.

Heinrich Grunhozer (1819 – 1873): Die Schule unserem Volke und der Jugen bekanntmachen.

Heinrich Grunholzer, einer der bekanntesten Vertreter der demokratischen Volksbildung in der Schweiz im 19. Jahrhundert sah deren Aufgabe folgendermassen: «Es ist die Aufgabe eines jeden Freundes der Volksbildung, unsere republikanischen Institutionen, unsere Verfassung und staatlichen Einrichtungen unserer Jugend und unserem Volke bekannt zu machen.» Die Schule wurde im 19. Jahrhundert von den liberalen Staatsgründern als «republikanische Institution» konzipiert. Das Wissen um die demokratische Konzeption und Legitimation der Schule kann trotz politischem Unterricht in der Schule bei den heutigen Diskussionen um Privatisierung, Autonomisierung und Ökonomisierung der Schule (New Public Management) offenbar nicht mehr vorausgesetzt werden.

Wie also steht es um die institutionelle Verfasstheit der Schule, wenn man staats- und verwaltungsrechtliche Überlegungen in den Vordergrund stellt?

In den 1830er Jahren wurden in vielen Kantonen liberale Verfassungen eingesetzt, welche das Volk als Souverän bezeichneten, ein Parlament als dessen Stellvertreter vorsah, Rechtsgleichheit einführten und die Vorrechte von Stand und Geburt abschafften. Diese Entwicklung wurde 1848 im neu gegründeten Bundesstaat schweizweit nachvollzogen. Die Rechtsgleichheit aller Bürger versuchte man mit einem modernen Bildungssystem umzusetzen.

Ludwig Snell (1785-1854): Republikanische Verfassungen brauchen ein gebildetes Volk.

Es war allgemein anerkannt, dass republikanische Verfassungen notwendig «ein Volk verlangen, welches einen Grad von Ausbildung zur Vernunft besitzt, der Freiheit und Humanität des Staates gewährleistet. Das in geistiger Hinsicht ein freies und selbständiges Urteil fällen kann und das in sittlicher Hinsicht so viel Selbstverleugnung erbringt, dass es im Stande ist, das Privatinteresse dem allgemeinen Wohl unterzuordnen» (Ludwig Snell 1834). Der Grundsatz der Rechtsgleichheit hat zu einer Totalreform der Volksbildung geführt, die auf der Grundlage von Vernunft und Freiheit beruht. «Der oberste Zweck aller öffentlichen Erziehung ist demnach: alle werdenden Bürger der allgemeinen gleichen Menschenbestimmung entgegen zu führen – oder mit anderen Worten: sie alle zur Würde freier Vernunftwesen auszubilden» (Ludwig Snell 1840).

Die Schulpflicht war bereits in den Landschulordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts verankert. Nun wurden die Instrumente zur Durchsetzung etabliert und das Schulsystem ausgebaut. Um die Bildung aller, mit den Zugängen zu mittleren und höheren Schulen, zu gewährleisten, mussten diese Schulen flächendeckend erst gegründet werden, wobei das Gymnasium vorerst ein Vorrecht der Städte blieb. Um die Landbevölkerung nicht zu benachteiligen, konnte etwa die Universität Bern um 1850 auch schon nach Abschluss einer Sekundarschule besucht werden.

Der Bildungsausbau und die Idee der Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit gehörten zum Kernprogramm der liberalen und radikalen Staatsträger des 19. Jahrhunderts.

Chancengleichheit: Zugang zur Bildung für alle

Der Bildungsausbau und die Idee der Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit gehörten zum Kernprogramm der liberalen und radikalen Staatsträger des 19. Jahrhunderts. Es war jedoch nie deren Meinung, dass jedermann die Universität besuchen solle. Zum politischen Programm gehörte auch, dass Stellung und Position in der Gesellschaft nicht mehr durch Stand und Geburt, sondern durch Leistung zugeteilt werden solle. Weil dies auch für die Bildungs- und Lebenschancen gelten soll und gleichzeitig allen, aus naturrechtlichen und staatspolitischen Gründen, zukommen soll, ergibt sich dadurch ein doppeltes Regelungsproblem, das auch heute noch für bildungspolitische Diskussionen sorgt: Um Bildung für alle zu ermöglichen, muss erstens ein «Bildungssockelniveau» für alle festgelegt werden, zweitens müssen die Zugänge zu höheren Bildungsinstitutionen etabliert werden, die nicht von allen, sondern nach erbrachten Leistungen besucht werden können. Damit ersetzt das moderne Bildungssystem die Vorrechte von Geburt und Stand durch die Leistung.

Die Verfassungen garantieren zwar Rechtsgleichheit, jedoch nicht Gleichheit der Individuen.

Die Verfassungen garantieren zwar Rechtsgleichheit, jedoch nicht Gleichheit der Individuen. Da sich Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen individuell unterscheiden, ergeben sich daraus die Fragen, wieviel Bildung allen zu kommen soll und wie der Zugang zur höheren Bildungsinstitutionen geregelt werden soll.

Wieviel Bildung kommt allen zu, unabhängig von ihren Leistungsmöglichkeiten und -grenzen?

Die neunjährige Volksschulzeit als Bildungssockelniveau (Sekundarstufe I) konnte in der Schweiz nach 150jährigem Kampf während der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit durchgesetzt werden. Für eine reale Chance auf dem heutigen Arbeitsmarkt ist jedoch eine Ausbildung auf der Sekundarstufe II (Berufs- und Mittelschulen) quasi obligatorisch. 90% der Jugendlichen haben einen Abschluss auf Sekundarstufe II. Für die übrigen 10% wurden niederschwellige Ausbildungsangebote geschaffen.

Wie wird der Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen demokratisch geregelt?

Das moderne Bildungswesen hat die Mechanismen Selektion und Berechtigung eingeführt, um unter den Bedingungen der Rechtsgleichheit auf unterschiedliche Berufe und soziale Positionen vorzubereiten. Damit soll mit derselben Ausbildung auf unterschiedliche Berufe vorbereitet und allen dieselbe Ausbildung (bis zum Universitätsabschluss) ermöglicht werden.

Das Selektionsproblem, das beim alten ständischen System der Schule vorgelagert war, wurde nun in die Schule hineinverlagert und dort seit 1830 mit einer Selektion von Schulstufe zu Schulstufe.

Das demokratische Schweizer Schulsystem wurde von Condorcet übernommen

Im Zuge der Demokratisierung wurde das traditionelle ständische Modell mit der vertikalen Gliederung, das für unterschiedliche Berufe unterschiedliche Schultypen von der Einschulung an vorsah, allmählich in ein horizontal gegliedertes Schulsystem umgewandelt. Dieses moderne, demokratische System, das der Schweizer Schulrefomer Grégoire Girard von Condorcet übernommen hatte, brachte das Problem von Selektion und Berechtigung zwischen den Schulstufen. Das Selektionsproblem, das beim alten ständischen System der Schule vorgelagert war, wurde nun in die Schule hineinverlagert und dort seit 1830 mit einer Selektion von Schulstufe zu Schulstufe. Wer die Selektion nicht schaffte, verliess die Schule und wechselte in die Arbeitswelt. Mit der allmählichen Verlängerung der Schulpflicht wurden unterschiedliche Schultypen geschaffen, die wiederum die Notwendigkeit auf Selektion erhöhten.

Reduktion der Selektivität

In neuerer Zeit wurden im Selektionsbereich tiefgreifende Veränderungen vorgenommen: Selektionshürden wurden abgebaut, Selektionsinstanzen werden anders gewichtet, die Selektion wurde von der Gesamtnote auf die Hauptfächer eingegrenzt und zusätzlich weiche Kriterien wie die Sozial- und Selbstkompetenz einbezogen. Diese Entwicklungen sind für ein demokratisches Bildungssystem an und für sich schon problematisch.

Mit dem Übergang zur Kompetenzorientierung werden der Selektion die Grundlagen völlig entzogen: Erstens können die Leistungen nach Fächern nicht mehr gemessen werden, weil die Fächer abgeschafft werden und zweitens bleibt die Ableitung der Zeugnisnoten von den Kompetenzen ein Ermessensentscheid und kann weder mathematisch noch sonst wie nachvollzogen und kontrolliert werden, womit die Rechtsgleichheit nicht mehr gegeben ist.

Mit der Reduktion der Selektivität schleicht sich die Schule und die Lehrprofession aus der Verantwortung für die Zuweisung von gesellschaftlichen Chancen durch Bildung davon. Damit entsteht nicht eine klassenlose Gesellschaft ohne Hierarchie, wie man Ende der 1960er Jahr noch glaubte, sondern die Selektion wird von den kompetenzorientierten Bildungseinrichtungen zu den nachfolgenden Institutionen (Gymnasium, Hochschule, Lehrbetrieb usw.) verschoben. Diese müssen sich, weil Kompetenzbenotungen wenig aussagefähig sind, mit Zugangsprüfungen Klarheit verschaffen, womit die Chancengleichheit nicht mehr gewährleistet ist. Die Frage ist nicht, ob durch Selektion gesellschaftlichen Positionen zugewiesen werden oder nicht, dies geschieht so oder so.

Geringere Selektivität macht das Bildungssystem nicht gerechter.

Wer selektioniert mit welcher Legitimation?

Die Lehrerschaft ist durch ihre Ausbildung für die Durchführung der Selektion am besten qualifiziert und kennt die Schüler und ihr persönliches Umfeld. Diese Funktion ist mit viel Sozialprestige verbunden und machte einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Einflusses der Lehrerschaft aus. Wird diese Funktion nicht wahrgenommen, schadet es dem Beruf und der Schule als Institution. Die Öffnung des Bildungssystems durch die Reduktion der Selektivität erhöht die Chancen der unteren Sozialschichten nicht, sondern der Zugang zur höheren Bildung wird für alle erleichtert bzw. das notwendige Leistungsniveau wird herabgesetzt. Geringere Selektivität macht das Bildungssystem nicht gerechter.

Mechanismus der Berechtigungen

Neben der Selektion gibt es die Berechtigungen, die die Selektion ersetzen können. Die Selektion erfolgt bei den Berechtigungen nicht durch die aufnehmende sondern durch die abgebende Institution. In der Schweiz ist das klassische Beispiel die Matur, weil sie zu einem allgemeinen Hochschulzugang (ohne Zugangsprüfung) berechtigt. Das Problem in Sinne einer demokratischen Regelung bei den Berechtigungen ist, dass sie bei den verschiedenen Ausbildungstypen auf der Sekundarstufe II nicht einheitlich geregelt sind. Das Gymnasium hat aufgrund der von ihm definierten Eingangsselektion und abgebenden Berechtigung eine starke Position im Schweizer Bildungswesen und weil es ihm bisher gelungen ist, die Selektivität hoch zu halten.

Condorcets Ideen zielten in die Richtung einer unabhängigen Gewalt (Edukative), die die öffentliche Kontrolle der Bildungsinstitutionen gegenüber den drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) gewährleisten sollte.

Selektion und Berechtigung aufgrund von Leistung ist die notwendige Ergänzung des Bildungssystems zur Forderung nach Bildung für alle. Nur beide Prinzipien zusammen ermöglichen die Chancengleichheit im Sinne der Rechtsgleichheit sowie die Berücksichtigung der individuellen Unterschiede im System ohne falsche Nivellierung. Nur zusammen ermöglichen sie ein Bildungssockelniveau für alle flächendeckend zu realisieren und gleichzeitig die Lernstarken zu fördern sowie eine faire Zuweisung von Bildungschancen auf objektivierbaren Kriterien.

Weiche Kriterien für Selektionsabbau

Demokratische Bildungspolitik und öffentliche Kontrolle

In einer Demokratie gibt es drei zentrale Grundprinzipien zur Machtausübung: Erstens muss die Macht demokratisch legitimiert sein, zweitens muss sie durch Teilung beschränkt werden und drittens muss sie mit verschiedenen Mechanismen kontrolliert werden können. Die Kontrolle der Kompetenzen durch demokratische Mechanismen waren eine der Stärken der traditionellen Bildungsorganisation. Die theoretische Begründung dieses Modells geht auf Condorcet zurück und wurde in der Helvetik im Projekt für die öffentlichen Schulen übernommen und in den 1830er Jahren in den liberalen Kantonen eingeführt. Condorcets Ideen zielten in die Richtung einer unabhängigen Gewalt (Edukative), die die öffentliche Kontrolle der Bildungsinstitutionen gegenüber den drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) gewährleisten sollte.

Zentraler Aspekt ist die Legitimation der einzelnen Instanzen und deren Kompetenzen (Entscheidungsbefugnisse) im System. Der Grad der Öffentlichkeit hängt vom Verhältnis zwischen der direkten Legitimation durch Volkswahl und der abgeleiteten Legitimation ab und welche Kompetenzbereiche direkt und welche nur indirekt demokratisch legitimiert sind. Instanzen mit wichtiger bildungspolitischer Steuerungs- und Kontrollfunktion werden normalerweise durch Volkswahl legitimiert. Neben Parlament und Regierung sind in den kantonalen Schulsystemen auch die Schulpflegen/-kommissionen (auf kommunaler Ebene) direkt-demokratisch legitimiert. Letztere bilden zusammen mit den von den kantonalen Verwaltungen eingesetzten Schulinspektoraten die Schulaufsicht.

Die Legimitation

Die Bildungsverwaltung und die Lehrerschaft haben nur eine abgeleitete Legitimation. Die Verantwortung für die Steuerung des Systems liegt bei den demokratisch legitimierten Instanzen, denen diejenigen mit abgeleiteter Legitimation hierarchisch untergeordnet sind. Für die abgeleitete Legitimation (Verwaltung, Lehrerschaft, Schulleitung) besteht normalerweise eine Rechenschaftspflicht. Macht- und Steuerungsmittel der Lehrerschaft sind der Unterricht nach Lehrplan, die Möglichkeit von Schwerpunktsetzungen, die freie Methodenwahl sowie die Selektion und Berechtigung, wobei ihr im Umfang der Reduktion der Selektivität Steuerungsmöglichkeiten entzogen werden.

Die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist von der öffentlichen Kontrolle und der demokratischen Legitimation abhängig.

Die Instanzen mit abgeleiteter Legitimation werden in der Regel durch ihre übergeordneten Instanzen mit direkter demokratischer Legitimation kontrolliert. Kompetenzdelegation ist immer mit Kontrolle verbunden, die damit die Kompetenzdelegation demokratisch legitimiert. Die öffentliche Finanzierung des Bildungswesens, im Sinne eines sozialen Ausgleichs, ist von der öffentlichen Kontrolle und der demokratischen Legitimation abhängig.

Konsequenzen für eine demokratische Organisation des Bildungssystems

Das traditionelle Verständnis über Demokratie und Bildung begann mit der Forderung nach Schulen für alle. Als diese Forderung mit der Schulpflicht erfüllt war, ging es um die Dauer der Schulbesuchspflicht, die mit einem «genügenden Primarunterricht» in der Bundesverfassung von 1874 festgeschrieben wurde. Neben dem Ausbau des Bildungssystems wurde die Funktion der Bildung im Hinblick auf den demokratischen Staat diskutiert. Weil sich alle Bürger an den politischen Entscheiden beteiligen konnten, sollte die nationale Erziehung tugendhafte und demokratisch gesinnte Staatsbürger erziehen. Die Schüler sollten im Sinne einer kleinen politischen Gemeinschaft unterrichtet werden. Seit den 1960er Jahren soll ein demokratisches Bildungswesen die Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss für alle Sozialschichten gewährleisten.

Die neueren Diskussionen um die Steuerungsmechanismen im Bildungswesen (Schulleitungen, Schulautonomie usw.) zielen auf die Organisation des Bildungswesens und nicht mehr auf eine demokratische Erziehung der Individuen im System.

Die neueren Diskussionen um die Steuerungsmechanismen im Bildungswesen (Schulleitungen, Schulautonomie usw.) zielen auf die Organisation des Bildungswesens und nicht mehr auf eine demokratische Erziehung der Individuen im System. Das Ziel wurde eine Bildung für alle auf der Sekundarstufe II. Dem wirkt die Verringerung der Selektivität der Schule entgegen, weil ein sozialer Ausgleich nur möglich ist, wenn die Schule weiterhin und aufgrund von schulischen Leistungen selektioniert. Zugang für alle, Selektion und Berechtigung müssen dem Anspruch auf ausgewogene Freiheit und Gleichheit genügen, nur dann ist ein demokratisches Bildungssystem realisierbar. Freiheit bedeutet, dass nicht alle, die im Rennen gestartet sind, auch gleichzeitig am Ziel ankommen. Solchen Differenzen dürfen in einem demokratischen Bildungssystem nur aufgrund von Schulleistungsunterschieden entstehen, weshalb dieses der Selektion aufgrund von Leistung einen hohen Stellenwert einräumt.

Machtkonzentrationen bei den Behörden sind eine Gefahr für die Demokratie

Demokratische Legitimation, Kompetenzdelegation, Steuerungsmöglichkeiten und demokratische Kontrolle stehen in der bisherigen Organisation des Bildungswesens in einem ausgewogenen, labilen Gleichgewicht zueinander. Hohe Entscheidungsbefugnisse erfordern nach der modernen, demokratischen Staatstheorie eine direktdemokratische Legitimation, damit die Macht demokratisch legitimiert ist. Machtkonzentrationen bei den Behörden sind eine Gefahr für die Demokratie, deshalb hat man die Grundsätze der Gewaltentrennung, die Rechenschaftspflicht der Behörden und die Öffentlichkeit des Staatshaushaltes eingeführt.

Seit den 1990er Jahren werden immer mehr direktdemokratische Instanzen abgeschafft oder entmachtet (Abschaffung der Lehrerwahl, der Bezirksschulpflege und der Schulgemeinden, Entmachtung der Schulpflegen usw.) und durch solche mit abgeleiteter Legitimation ersetzt (Schulleiter, «professionelle» Schulaufsicht usw.).

Pseudodemokratische Instanzen, die nicht delegiert und nicht kontrolliert werden, sich selber «legitimieren» (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz SBBK usw.)

Mangelnde Legitimation

Gleichzeitig werden neue, pseudodemokratische Instanzen geschaffen, die nicht delegiert und nicht kontrolliert werden, sich selber «legitimieren» (Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, Schweizerische Berufsbildungsämterkonferenz SBBK usw.) und Kompetenzen geben (Einheitslehrplan 21, Berufsbildung 2030, Kompetenzorientierung usw.). Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass für die flächendeckende Durchsetzung des Lehrplans 21 extra die D-EDK geschaffen wurden, die sich dazu mit einer «Verwaltungsvereinbarung» selber eine gesetzliche Grundlage «im weiteren Sinne» schuf, die als «interkantonales Soft Law» mit Demokratiedefizit gilt, weil weder Parlamente noch das Volk darüber abstimmen konnten.

Wenn man sich über die staatsrechtliche Dimension des Problems hinwegsetzt, darf man sich nicht darüber beklagen, wenn die Lehrer nicht mehr als öffentliche Personen wahrgenommen werden.

Wenn Reformen (Einheitslehrplan 21, KV-Reform 2022, Berufsbildung 2030 usw.) und Diskussionen über Schulautonomie, New Public Management, «neue Steuerung» (Soft Governance) auf Bundesebene, «Professionalisierung» der Schulaufsicht, Abschaffung von Schulpflegen und Noten usw. die Schule ausserhalb des demokratischen Legitimationssystems versetzt, wird sie als öffentlich-demokratische Institution aufs Spiel gesetzt, ohne dass man sich der Tragweite dieser Entwicklung bewusst ist. Wenn man sich über die staatsrechtliche Dimension des Problems hinwegsetzt, darf man sich nicht darüber beklagen, wenn die Lehrer nicht mehr als öffentliche Personen wahrgenommen werden, wenn die Bürger bei der Finanzierung der öffentlichen Schule zurückhaltend werden sowie die Schule mit privatwirtschaftlichen Institutionen (Profit Center) verwechselt wird, die beliebig nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisiert werden kann und bei der die Chancengleichheit auf der Strecke bleibt: Heute besucht im Schulkreis Zürichberg rund jedes sechste Kind eine Privatschule. In Schwamendingen nicht einmal jedes fünfunddreissigste.

 

Quellen:

Lucien Criblez: Anforderungen an eine demokratische Bildungsorganisation. In: Jürgen Oelkers und Fritz Osterwalder [Hrsg.]: Bildung, Öffentlichkeit und Demokratie. Beltz, Weinheim 1998,

Ursula Hofer: «Instruction publique» im französischen Modernisierungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. «La leçon de Condorcet».

Tonia Bieber: “Soft Governance in Education”. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland. „Staatlichkeit im Wandel“ − „Transformations of the State“ Bremen, 2010

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Was wurde eigentlich aus Ernst Buschor oder der Ökonomisierungsversuch des schweizerischen Bildungswesens https://condorcet.ch/2021/04/was-wurde-eigentlich-aus-ernst-buschor-oder-der-oekonomisierungsversuch-des-schweizerishen-bildungswesens/ https://condorcet.ch/2021/04/was-wurde-eigentlich-aus-ernst-buschor-oder-der-oekonomisierungsversuch-des-schweizerishen-bildungswesens/#comments Fri, 02 Apr 2021 14:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=8154

Wie kam es, dass der amerikanische NPM-Kapitalismus die Hand an unsere Volksschule legen konnte? Wie konnten die demokratischen Institutionen mit «Soft Governance» ausgehebelt werden und warum gab es wenig Widerstand, obwohl das «New Public Management» als Werkzeug der Globalisierung mit dem Ziel, aus dem gemeinwohlorientierten «Service Public» gewinnorientierte Unternehmen zu machen, bekannt war? Der ehemalige Erziehungsdirektor des Kantons Zürich ist eng mit dieser Entwicklung verbunden. Seine Wirkung war trotz seines letztendlichen Scheiterns immens. Unser "Haushistoriker" Peter Aebersold blickt in die jüngste Vergangenheit und zeichnet ein kritisches Bild des Wirkens von Ernst Buschor.

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Die Ökonomisierung des «Service Public»

Die Ökonomisierung des Bildungswesens in der Schweiz erfolgte im Rahmen des neoliberalen New Public Managements (NPM). Das Bildungswesen sollte aus dem demokratischen Rahmen herausgelöst und marktwirtschaftlich organisiert werden. Aus neoliberaler Sicht stört die Demokratie den Markt, weil sie umverteilt. Ihre Geringschätzung demokratischer Prinzipien kleiden Neoliberale vornehmlich in das Konzept der «Soft Governance» («neue Steuerung»).

Ernst Buschor, ehem. Bildungsdirektor im Kanton Zürich: Grosser Befürworter von NPM

Bei der Einführung von NPM in der Schweiz hat sich der ehemalige Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, Ernst Buschor, besonders hervorgetan. Der 1943 geborene Buschor erhielt nach Studium und Promotion an der Hochschule St. Gallen (HSG) 1971 ein Expertenmandat für Finanzfragen im Europarat.

Erste Weichenstellung

Die erste Weichenstellung für das NPM erfolgte mit der Umwandlung der gemeinwohlorientierten Staatsbuchhaltung (Kameralistik) in eine profitorientierte Betriebsbuchhaltung, wie sie damals bei der Industrie üblich war. Das ermöglichte u.a. die Errichtung von «Profit Centern» und die Einführung von «Fallpauschalen». Die Kameralistik hatte als Schuldenbremse gewirkt, weil man nur das ausgeben konnte, was man zuvor eingenommen hatte. Mit dem neuen Buchhaltungsmodell verliess man das Vorsichtsprinzip und konnte auch unveräusserliches Gemeineigentum wie Schulhäuser, Sportplätze, Strassen, Wälder und Friedhöfe als Vermögen ausweisen und damit stolze Bilanzen präsentieren.

1975 führte Buschor, als Chef der Finanzverwaltung des Kantons Zürich, die Betriebsbuchhaltung als «neues Rechnungsmodell» ein. Das «Zürcher Modell» machte bald Schule in anderen Kantonen. Für ausgabenfreudige Politiker war die wundersame Vermehrung von Vermögen und Eigenkapital wie Manna vom Himmel.

Das Schweizer NPM-Modell

1985 wurde Buschor als Professor an die HSG berufen, wo er den Import von Theorien aus dem angelsächsischen Raum förderte, eine umfangreiche Beratertätigkeit ausübte und zur Bildung eines schweizerischen Modells des amerikanischen New Public Managements massgeblich beitrug. WiF!, «die wirkungsorientierte Führung und Verwaltung», ist die deutsche Umschreibung für jenes Spezialgebiet, in dem sich der ehemalige St. Galler Professor weltweit einen Ruf geschaffen hatte: New Public Management oder kurz NPM.

Erster Akt Buschors als Gesundheitdirektor: Einführung der Fallkostenpauschale

NPM beim Gesundheitswesen

1993 wurde Ernst Buschor in den Regierungrat des Kantons Zürich gewählt, wo er als Chef der Direktion Gesundheitswesen und Fürsorge seine Ideen in die Tat umzusetzen begann. Kernpunkt der von ihm initiierten Bewegung für mehr Markt und leistungsorientierte Führung im Zürcher Spitalwesen wurde die sogenannte «Fallkostenpauschale», die heute Ärzte und Spitalpersonal ans Limit treibt und sie über einen Berufswechsel nachdenken lässt.

Zur Umsetzung der Reformen liess Buschor die gesetzlichen Grundlagen entsprechend anpassen (Verwaltungsreformrahmengesetz, Universitätsgesetz, Fachhochschulgesetz, Mittelschulgesetz, Personalgesetz der Volksschule und Lehrerbildungsgesetz, neues Volksschulgesetz usw.)

Nach Pelizzari gelang es Buschor mit der Politik «der leeren Kassen» und dem Versprechen an die Politiker aller Parteien, dass man Geld sparen könne, ohne Leistungen zu kürzen und ohne Sozialabbau betreiben zu müssen, unter Ausschaltung weiter Teile des demokratischen Prozesses bei der Haushaltsplanung und einer rigorosen Kommunikationsstrategie, in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits- und im Schulwesen neoliberale Reformen in die Wege zu leiten. Zur Umsetzung der Reformen liess Buschor die gesetzlichen Grundlagen entsprechend anpassen (Verwaltungsreformrahmengesetz, Universitätsgesetz, Fachhochschulgesetz, Mittelschulgesetz, Personalgesetz der Volksschule und Lehrerbildungsgesetz, neues Volksschulgesetz usw.)

Das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umformen.

NPM beim Bildungswesen  

Kulturwandel auch an den Universitäten nach amerikanischem Vorbild

Nach seiner Wiederwahl 1995 wechselte Buschor unter dem Druck seiner Regierungskollegen in die Erziehungsdirektion, weshalb seine Spitalreform unfertig blieb. Buschor soll wenige Monate nach seinem Wechsel zur Bildungsdirektion versprochen haben, «das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterzuholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umzuformen». Als Erziehungsdirektor bis 2003 initiierte er ein Paket von NPM-Reformen, das «Projekt Schule 21». Gleichzeitig führte er die NPM-Reformen an der Universität durch, was zu einem Kulturwandel Richtung «Selbstorganisation» und – wie an den amerikanischen Universitäten – zur Einflussnahme von Sponsoren aus der Wirtschaft auf den bisher freien Wissenschaftsbetrieb führte. In der Folge hatten sich die Zuwendungen aus der Wirtschaft fast verdoppelt.

Für die rasche Globalisierung sind drei Dinge wesentlich: Kostengünstige Kommunikationsinstrumente stehen mit dem PC und den vielfältigsten Netzwerken zur Verfügung. Die Welt-Kommunikationssprache Englisch hat sich weltweit durchgesetzt. Weltweite Liberalisierungen wie der WTO Vertrag und die grossen Binnenmärkte Asiens, Europas und Amerikas erlauben den rascheren Transfer von Wissen und Produkten. Es bestehen erhebliche und kostengünstige Überkapazitäten für Kontakte im Personenverkehr und für die Abwicklung der Warentransporte. Zudem lebt die Menschheit vor allem in den Industriestaaten in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft.

– Ernst Buschor, Referat Schulsynode vom 22. Juni 1998 in Winterthur

Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder auf dem Bildungsmarkt dazu kaufen.

Projekt Schule 21

Das «Projekt Schule 21» begann am «World Economic Forum» in Davos.

Das «Projekt Schule 21» begann am «World Economic Forum» in Davos, wo der in mehreren Hochschul- und Fachhochschulgremien aktive Vizepräsident des Holderbank-Verwaltungsrates an einer Veranstaltung des globalen Wirtschaftsprüfungskonzerns Arthur Andersen über «Education of the Future» teilnahm und zu einem Symposium in Boston eingeladen wurde. Er reichte die Einladung an Ernst Buschor weiter, der in den USA endlich Beispiele von Schulen sah, die seinen Vorstellungen entsprachen. Noch im Flugzeug schrieb er das Grundkonzept für eine Reform, die wie keine andere Staub aufwirbeln sollte, die «Schule 21»: Der Umgang mit Computer, Internet und E-Mails könne nicht früh genug gelernt werden, am besten gleich zu Beginn der Primarschule. Das Gleiche gelte für die englische Sprache. Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder auf dem Bildungsmarkt dazu kaufen. Er war auch für Leistungslöhne für Lehrer und eine Erfolgskontrolle für einzelne Schulen mit allfälligen finanziellen Konsequenzen.

Die «Soft Governance» Methode

Claus Jacobs Unternehmer (1936 – 2008): Mehrere Millionen

Der «Turboreformer» Buschor, wie er genannt wurde, wollte sein Projekt schnell vorwärtsbringen, ohne den demokratischen Weg bemühen zu müssen. Die «Schule 21» sollte in drei bis vier Jahren flächendeckend umgesetzt sein, da hatten Bedenken gegen das Frühenglisch usw. keinen Platz. Er ging den Weg des «Soft Governance» und sammelte Gelder bei interessierten Wirtschaftskreisen. Der Unternehmer Klaus Jacobs unterstützte das Reformvorhaben spontan mit einer Million Franken aus der Johann-Jacobs-Stiftung.  Die Sammlung brachte 2,5 Millionen Franken für das Reformprojekt, um die wissenschaftliche Evaluation des Projekts und die Ausbildung der Lehrer finanzieren zu können. Computerhersteller waren gerne bereit, die Schulzimmer zu Sonderkonditionen mit ihren Produkten zu versorgen. Der damalige Leiter des kantonalen «Entwicklungsprojektes Informatik für die Oberstufe der Zürcher Volksschule» warnte davor, die Volksschule für die Konzerne zu öffnen: «Sponsoring hat viele Gesichter, aber nur eine Seele: die längerfristige Wirtschaftlichkeit für den Geber. Langfristig rechnet es sich für ihn, wenn er in die Digitalisierung der Schule investiert.»

Widerstand gegen Turbo-Reformen von oben

Heftiger Widerstand der Lehrkräfte in Zürich

Mit seinen Turboreformen schaffte sich Buschor nicht nur Freunde. Dass die Reformen von oben kamen, im Wesentlichen Buschors Ideen waren und nicht immer den dringendsten Anliegen von Schülern, Lehrern und Schulbehörden der Gemeinden entsprachen, schuf in vielen Kreisen geradezu einen Widerwillen gegen den Erziehungsdirektor. Erst hatte er die Universitätsreform durchgesetzt, die Oberstufenreform auf Trab gebracht, die «Teilautonomen Volksschulen» (TaV) eingeführt, und schon setzte er zum Frontalangriff mittels Computer und Englisch auf die Kinderseele an, und das erst noch mit Hilfe der Wirtschaft.

Der Widerstand wuchs, als sich Schulpfleger und Lehrer 1999 zum Anti-Buschor-Komitee verbündeten. Ein ehemaliger Kantonsrat und vollamtlicher Schulpflegepräsident der Stadt Zürich hielt im Vorwort der Broschüre «Der Anfang vom Ende der Volksschule» fest, wie unter der Ägide des damaligen Bildungsdirektors Buschor eine Bildungsreform eingeleitet wurde, die gekennzeichnet sei von einer straffen und eingleisigen Hierarchisierung des Bildungswesens (Schulleiter usw.), wie es zum Fahrplan der wirtschaftlichen Globalisierung gehöre. Buschor als ehemaliger Dozent für Finanzwirtschaft an der Hochschule St. Gallen sei offensichtlich vom Erfolg der Globalisierung vollkommen überzeugt und habe diese Tendenz mit grosser Energie auch im Bildungswesen verfolgt. Der «Sonderfall Schweiz» jedoch zeichne sich aus durch seine demokratischen Strukturen und die Möglichkeiten der Mitsprache des Volkes. Das würde schleichend abgebaut.

Erfolge des Widerstands

An der Urne mit 52% NEIN-Stimmen abgelehnt
Widerstand auch in der Romandie und Frankreich.

Anfangs scheiterte Buschor mit seinem ambitiösen «Schulprojekt 21», mit Englisch und Computereinsatz ab der ersten Primarschulklasse, dessen Vorbild ihn in Kalifornien begeistert hatte. Später setzte er das Frühenglisch und das umstrittene Lehrerbeurteilungssystem MAB durch und führte geleitete Schulen als «Profit Center mit CEO» ein. Als Ernst Buschor seine NPM-Reformen Ende 2002 im Volksschulgesetz mit zwölf Teilprojekten absichern wollte, gab es Widerstand durch die Lehrer und das Zürcher Volk lehnte es mit einer Nein-Mehrheit von 52 Prozent ab. Als drei Jahre später das praktisch gleiche Volksschulgesetz mit viel Staatspropanda und mangels Lehrerwiderstand vom Volk angenommen wurde, war Buschor schon nicht mehr im Amt.

Kumulation gesellschaftlicher Machtfelder

Die Kumulation von Positionen in verschiedenen gesellschaftlichen Machtfeldern beförderte Buschor in die Stellung eines wirkmächtigen Reformers: Er war Mitglied zahlreicher Kommissionen und Gremien, darunter war der Vorsitz bei der  «Schweizerischen Harmonisierung der öffentlichen Haushalte», Präsident des Nationalen Forschungsprogramms «Wirksamkeit staatlicher Massnahmen», Präsident der Schweizerischen Hochschulplanungskommission, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften, die in den 1990er Jahren zu einem wichtigen Forum der Verbreitung des «New Public Management» wurde. Buschor war von 1998 bis 2003 Mitglied im Schweizer Fachhochschulrat und 2001/02 Vizepräsident der Schweizerischen Universitätskonferenz. Von 2004 bis 2007 war er Vizepräsident des Rates der Eidgenössischen Hochschulen (ETH-Rat). Seit 2003 sass er im Stiftungsrat der Jacobs Stiftung und im Stiftungsrat der Stiftung Careum Zürich, seit 2004 im Beirat des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). 2005 wurde er Mitglied des Leitungsausschusses der Stiftung Avenir, Zürich. Von 2005 bis 2007 war er Vorsitzender des Kuratoriums der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh. Er war korrespondierendes Mitglied am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer.

Scheitern der Globalisierung

Fredmund Malik, Professor HG St. Gallen kritisierte bereits früh NPM.

Es gab schon früh Kritiker (z.B. Fred Malik, HSG) des von den Medien als erfolgreiches amerikanische Modell hochgelobten NPM. Dessen schuldenfördernde Bilanzierungspraxis führte bereits 2002 zu den weltweit grössten Firmenzusammenbrüchen; Firmen wie Arthur Andersen («Big five») wurden als «Sündenböcke» geopfert. Das Problem lag jedoch laut Nobelpreisträger Stiglitz im System der Globalisierung und deshalb kam bald die grosse Rezession, die 2008 in Amerika begann und sich innert kurzer Zeit auf die ganze Welt ausbreitete – allein in China gingen 20 Millionen Arbeitsplätze verloren – und viele Millionen Menschen verarmten. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihrem Glauben an freie Märkte und an die Globalisierung hatte Wohlstand für alle versprochen.

Mit Bildung liess sich schnell viel Geld verdienen

Rasantes Wachstum

Versagen eines NPM-Vorzeigemodells

In Neuseeland führte die Einführung von NPM zur Schliessung von psychiatrischen Kliniken, weil das ausgebildete Personal wegen NPM den Beruf wechselte. Die Patienten wurden in Gefängnisse überführt, wo sie vom Gefängnispersonal betreut werden mussten.

Neuseeland hatte 1989 eine Schulreform nach dem New Public Management-Modell durchgeführt und wurde auch für Buschor zum Vorzeigemodell. 10 Jahre später wurde es zum NPM-Versager-Modell, über das nicht mehr berichtet wird.

Neuseeland: Vom Vorzeigemodell zum Versagermodell.

Der durch die Möglichkeit der «freien Schulwahl» ausgelöste Wettbewerb zwischen Neuseelands Schulen hat zu Gewinner- und Verlierer-Schulen (mit ihren Oberschichts- bzw. Unterschichtskindern) und zu neuen Formen der Segregation geführt. NPM hat im Bildungsbereich eine Vergrösserung der Unterschiede in der Bildungsqualität zur Folge, weil das Hauptgewicht auf die Veränderung äusserer Strukturen gelegt und die differenzierte Ermittlung der effektiven pädagogischen Auswirkungen auf das eigentliche Lehren und Lernen vernachlässigt wird. Unterdessen müssen die Lehrpersonen Schulmarketingaufgaben übernehmen, die sie von der Hauptaufgabe der Bildung zeitaufwändig absorbieren. Konkret sieht das dann so aus: Neuseelands «Lehrer müssen auf jede Information achten, welche die Marktstellung der Schule in ihrer Umgebung verändern bzw. verschlechtern könnte. Sie sollten die Leistungen ihrer Schüler in den Medien propagieren; sie sollten neue Bereiche anfügen, welche die Diversität des School Programs hervorstreichen (auch um den Preis grösserer Klassen), und sie sollten das öffentliche und das private Verhalten ihrer Schüler so beeinflussen, dass das beste Bild der Schule daraus resultiert».

Quellen:

Buschor, Ernst: «Das neue Rechnungsmodell für Kantone und Gemeinden» 1978, in: Forum statisticum 10 (1978), S. 3–12

Buschor, Ernst: «New public management. Internationale Erfahrungen und Beiträge». Verlag Heidelberg Zündel & Partner Hrsg. 1996

Buschor, Ernst: «New Public Management als neuer Retter in der Not: Der Anspruchsvolle Weg zum New Public Management.» 1997, in: Reflegs – Informations- und Personalmagazin des GS EMD 1997, Nr. 7

Buschor, Ernst: «New Public Management: Reformbedarf auf Bundesstufe.» 2000, in: Vom Service Public zum Service au Public Zürich, 2000, S. 63–69, ISBN 3858238562

Pelizzari, Alessandro: «Die Ökonomisierung des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste», Konstanz 2001. ISBN 3-89669-998-9, Kapitel 3: Finanzpolitik und gesellschaftspolitische Gegenreformen im Kanton Zürich

Ernst Buschor: «Das Ausmass der Globalisierung wird nicht in Zürich entschieden.» «Wissensgesellschaft: Die Zukunft beginnt auf der Baustelle.» Zeitschrift Bilanz, 8.8.2003

Tonia Bieber: “Soft Governance in Education”. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland. „Staatlichkeit im Wandel“ − „Transformations of the State“ Bremen, 2010

http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Buschor_%28%C3%96konom%29

 

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