Nachhilfeunterricht - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 25 Nov 2022 02:17:51 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Nachhilfeunterricht - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 «Immer mehr Eltern betrachten die Schule als niedere Serviceleistung», sagt der ehemalige Gymilehrer Carl Bossard https://condorcet.ch/2022/11/immer-mehr-eltern-betrachten-die-schule-als-niedere-serviceleistung-sagt-der-ehemalige-gymilehrer-carl-bossard/ https://condorcet.ch/2022/11/immer-mehr-eltern-betrachten-die-schule-als-niedere-serviceleistung-sagt-der-ehemalige-gymilehrer-carl-bossard/#respond Fri, 25 Nov 2022 02:17:51 +0000 https://condorcet.ch/?p=12409

Condorcet-Autor Carl Bossard hat der NZZ ein langes Interview gegeben, das wir hier gerne aufschalten. Er fordert, dass Reformen der vergangenen Jahre wie der integrative Unterricht und die Fremdsprachen in der Primarschule teilweise rückgängig gemacht werden.

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Daniel Gerny, NZZ Korrespondent in der Nordwestschweiz.
Eric Aschwanden

Herr Bossard, Sie haben Ihr Berufsleben an Schulen verbracht. Würden Sie heute wieder Lehrer werden?

Ich war leidenschaftlich gerne Lehrer. Mich fasziniert es, mit Schülerinnen und Schülern unterwegs zu sein, ihren Gedankenkreis zu erweitern und sie so zu verstehenden Menschen auszubilden. Aber ich bin nicht sicher, ob ich diesen wunderbaren Beruf noch einmal ergreifen würde.

Weshalb?

Ebenso prägend wie die Leidenschaft für die Pädagogik war für mich stets die Freiheit, die ich als Lehrer hatte. Mit Freiheit ist Verantwortung verbunden – in diesem Fall die Verantwortung für die Kinder und ihre Lernfortschritte. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Die Leidenschaft für das Pädagogische und damit die humane Energie kommen aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und engen operativen Vorgaben. Heute gibt es so viele Vorschriften zu den Lehrmethoden, dass viel dieser Freiheit verlorengeht. Die Freiheit wird eingeengt.

Wenn wir die Schule von heute mit jener von früher vergleichen, ist die Vielfalt in Inhalt und Form des Unterrichts jetzt doch viel grösser. Ist der Beruf nicht sogar freier geworden?

Auf den ersten Blick vielleicht. Die Themenvielfalt hat tatsächlich zugenommen. Stil und Form des Unterrichts haben radikal geändert. Doch genau darin liegt auch eines der Probleme: Die Fächerzahl und die Fülle der Aufgaben an den Schulen haben derart stark zugenommen, dass viele Kernaufgaben wie beispielsweise das Einüben eines grundlegenden Zahlenverständnisses zu kurz kommen.

Das heisst, auch die Stoffmenge ist zu gross?

Ja. Zunahme von Inhalten bedeutet Abnahme des Festigens. Und nicht nur das. Hinzu kommt die heterogenere Zusammensetzung der Schulklassen als Folge der integrativen Schule und der altersdurchmischten Klassen. Wenn der Stoff umfangreicher und der Unterricht komplexer wird, muss zwingend an einem anderen Ort kompensiert werden. Genau das passiert auch: Zu kurz kommen das Üben und das Automatisieren. Verbindlichkeit und Effizienz der Lernprozesse nehmen ab.

Man wollte die Schule mit Vorgaben von oben und von aussen sowie mit mehr Investitionen in eine gewisse Richtung lenken und effizienter machen. Man hoffte, so bessere Resultate zu erreichen. Das hat nicht funktioniert.

Auch die Herausforderungen haben sich geändert. Ist es nicht notwendig, dass die Schule mit der Zeit geht?

Das bestreite ich nicht. Die Schule muss sich anpassen, die Lehrerinnen und Lehrer müssen es ebenfalls. Mit den Reformen hat man versucht, die Logik der Betriebswirtschaft auf die Schule zu übertragen. Aber eine Klasse ist nun einmal keine Firma. Man wollte die Schule mit Vorgaben von oben und von aussen sowie mit mehr Investitionen in eine gewisse Richtung lenken und effizienter machen. Man hoffte, so bessere Resultate zu erreichen. Das hat nicht funktioniert.

Weshalb nicht?

Lehrplan 21: Veränderung der Denkweise.

Mit der Einführung des Lehrplans 21 erfolgte auch eine Änderung in der Denkweise. Statt auf fachliche und inhaltliche Lernziele fokussiert die Schule seither vor allem auf den Output. Das zeigt sich in der Kompetenzsprache. Alles muss messbar und kontrollierbar sein. Das Lernen hat an Bedeutung verloren, und an dessen Stelle ist einseitig das Können getreten. Das hat äusserst dichte und dicke Lehrplanvorgaben zur Folge. Das geht bis zu absurden Formulierungen wie: «Die Schülerinnen und Schüler können nach einer langen Laufbelastung die Geschwindigkeit anpassen.»

Schülerinnen und Schüler wissen heute also weniger als früher?

20 Prozent der Schülerinnen und Schüler können nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit einen Zeitungsartikel zwar lesen, verstehen ihn aber nicht – und das im teuersten Bildungssystem der Welt! Zwei bis drei von zwanzig Kindern einer Klasse lesen und schreiben beim Schulabschluss nur unzureichend. Ich selbst habe in meiner Zeit an der Pädagogischen Hochschule Texte von Studierenden erhalten, die Symptome sprachlicher Verwahrlosung aufwiesen. Hier liegt ein Systemversagen vor.

Die Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert.

Liegt das an der Schule? Das geschriebene Wort hat unter dem Einfluss von Fernsehen, Internet und vor allem dem Smartphone ganz generell an Bedeutung verloren.

Das Kernproblem liegt beim Verstehen. Text lesen und Sinn verstehen wird für manche zur Schwerstarbeit. Umso mehr müsste die Schule Gegensteuer geben, nicht zuletzt im Interesse von Kindern aus Kreisen, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Und hier liegt meines Erachtens eines der grössten Probleme: Die Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert.

Weshalb trifft es vor allem eher schwächere Schülerinnen und Schüler?

Sie leiden am stärksten darunter, wenn den Lehrpersonen Zeit und die Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der Lehrplan stark auf selbständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die ohnehin schon lernstarken Kinder.

Plädoyer für eine strukturierten Unterricht.

Ist das ein Plädoyer für den Frontalunterricht nach alter Schule?

Nein! Es ist ein Plädoyer für einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, aber lehrergesteuert. Gerade sozial benachteiligte Kinder sind darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formulierte: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»

Schon immer klagten Eltern, Hochschulen und Lehrmeister darüber, dass die Schule früher besser gewesen sei. Ist das heute nicht einfach auch so?

Sicher kommt es in der Bildungsdebatte auch zur Verklärung der Vergangenheit. Das wissen wir aus der Forschung. Aber es wäre falsch, die Probleme mit diesem Argument kleinzureden. Die internationalen Vergleichsstudien zeigen, dass die Schweiz vor allem bei der Lese- und Rechenkompetenz zurückgefallen ist. Im Übrigen benötigen 35 Prozent der Schülerinnen und Schüler heute Nachhilfeunterricht. Und dies, obwohl wir heute zweieinhalb Mal so viel ins Bildungssystem investieren wie 1996, nämlich über 40 Milliarden Franken.

Sehen Sie auch Dinge, die sich verbessert haben?

Die Schule ist vielfältiger, bunter und fröhlicher geworden. Die Zeiten, als die Schule nur autoritär auftrat und deshalb stark mit Angst verbunden war, sind vorbei. Die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler stehen heute stärker im Vordergrund. Das ist ein grosser Fortschritt.

Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen das nicht so positiv. Sie sagen, das integrative Modell überfordere die Schule.

Auch ich frage mich, ob die Integration von Schülern mit völlig unterschiedlichen Fähigkeiten und Leistungen tatsächlich der richtige Weg ist. Wir haben zwar zusätzliches, qualifiziertes Personal wie etwa Lehrerinnen für integrative Förderung im Klassenzimmer. Das hat aber Folgen. Einerseits unterrichten bereits bei den Erstklässlern mehrere Lehrerinnen. Andererseits verkompliziert das die Organisation und absorbiert bei den Klassenverantwortlichen viel Energie und Zeit. Sie fehlen im Kernbereich Unterricht.

Aber ist es aus der Sicht der Betroffenen nicht besser, wenn sie möglichst lange in der Regelklasse integriert bleiben?

Es gibt Kreise, die Integration zum Menschenrecht stilisieren.

Ist es das nicht?

Es ist ein Menschenrecht, dass ich entsprechend meinen Fähigkeiten möglichst gut ausgebildet werde für ein Leben in Freiheit. Die Integration als solche ist kein Menschenrecht. Wer dieses Prinzip kritisiert, gilt schnell als inhuman und Misanthrop.

Aber Integration ist doch im Interesse der Betroffenen.

Sie ist nicht im Interesse aller Schülerinnen und Schüler. Das sagen viele erfahrene Lehrerinnen und Lehrer. Wer schulische Defizite hat, bekommt dies Tag für Tag vor den Augen seiner Mitschüler vorgeführt, die diese Schwächen nicht haben. Das ist kontraproduktiv und deprimierend. Wir wissen längst, dass sich ein Teil der betroffenen Schüler in Klassen mit besonderer Förderung, also in Kleinklassen, wohler fühlt. Auf diese Weise können sie besser und gezielter unterstützt werden.

Die logische Konsequenz wäre, mindestens eine der frühen Fremdsprachen wegzulassen, um mehr Zeit für die Basics zu erhalten.

Neben dem integrativen Unterricht geraten auch die Fremdsprachen auf der Primarstufe zunehmend in die Kritik.

Momentan werden die Schülerinnen und Schüler mit der ersten Fremdsprache konfrontiert, bevor sie richtig lesen und schreiben können. Vor allem für schwächere und fremdsprachige Schüler ist diese Situation enorm belastend. Zudem sind die Lernresultate ernüchternd. Die logische Konsequenz wäre, mindestens eine der frühen Fremdsprachen wegzulassen, um mehr Zeit für die Basics zu erhalten. In der Primarschule muss man sich wieder stärker auf die Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen konzentrieren.

Denken Sie, dass es noch möglich ist, diese und andere Reformen rückgängig zu machen?

Ich bin von Natur aus ein Optimist. Aber wenn ich die vergangenen Jahre betrachte, glaube ich nicht, dass Bildungspolitiker zugeben können, dass sie sich verrannt haben. Auf ein Wort der Selbstkritik wartet man wohl vergeblich. Es wird immer wieder behauptet, die Schweiz habe ein ausgezeichnetes Bildungswesen mit einem ausgeklügelten Fördersystem. Doch wenn ich die Resultate sehe, dann kommen mir Zweifel, ob dem tatsächlich so ist.

Viele Schülerinnen und Schüler haben am Ende der Primarstufe Defizite.

Woran machen Sie das fest?

Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymivorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und vom Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein, sonst gäbe es diesen Markt nicht. Viele Kinder weisen also am Ende der Primarschule Defizite auf. Eltern wollen das kompensieren. Gleichzeitig steigt die Zahl von Homeschoolern, von Kindern, die zu Hause unterrichtet werden. Sie hat sich in allen Kantonen vervielfacht, allerdings noch auf niedrigem Niveau. Das sind fatale Alarmzeichen für die Volksschule.

Doch die Maturitätsquote nimmt zu, und immer mehr Jugendliche absolvieren eine Ausbildung an einer Universität oder an einer Fachhochschule. Ist das nicht ein Erfolgsausweis für die moderne Schule?

Höhere Quoten gehen oft mit sinkenden Ansprüchen einher. Der Zusammenhang von «upgrading access and downgrading skills» ist bildungsgeschichtlich nichts Neues: Qualität und Quote korrelieren umgekehrt. Aus deutschen Schulen ist bekannt, dass die Noten besser geworden sind. Allerdings nur deshalb, weil die Ansprüche nach unten nivelliert wurden.

Gerade beim Übertritt ins Gymnasium machen die Eltern oft Druck. Wie hat sich die Rolle der Eltern im Schulsystem in den vergangenen Jahren geändert?

Meine Eltern waren, so habe ich es zumindest in Erinnerung, an keinem Elternabend. Sie haben den Lehrern vertraut. Dies hat sich mit der Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft geändert. Nach wie vor unterstützen die meisten Mütter und Väter die Lehrpersonen. Doch es gibt leider immer mehr Eltern, die die Schule als niedere Serviceleistung des Staates betrachten. Diese Institution hat in ihren Augen die Aufgabe, ihr Kind fit zu trimmen für eine Gesellschaft im globalisierten Konkurrenzkampf. Wenn diese Eltern negative Rückmeldungen seitens der Lehrer nicht akzeptieren und gleich mit dem Anwalt drohen, erschwert das die pädagogische Arbeit.

Der schwierige Umgang mit Eltern ist nur ein Grund, warum der Lehrermangel immer gravierender wird. Wo liegen weitere Ursachen?

Ich weiss aus vielen Gesprächen, dass sich Lehrerinnen und Lehrer heute kaum mehr eine volle Stelle zutrauen. Der Beruf ist herausfordernder und aufreibender geworden. Es wird immer schwieriger, Klassenlehrer zu finden, die die ganze Verantwortung übernehmen und die komplizierte Koordination bewältigen wollen. Ich habe als Rektor meinen Klassenlehrern Sorge getragen. Sie waren für mich die wichtigsten Bausteine einer guten Schule.

Trotz all diesen Defiziten gehen viele Schülerinnen und Schüler immer noch gerne zur Schule und bringen gute Leistungen. Woran liegt das?

Es liegt an den engagierten Lehrerinnen und Lehrern, die sich mit Leib und Seele um einen guten Unterricht bemühen. Die sich jeden Tag fragen, was pädagogisch wichtig und richtig ist. Viele Lehrpersonen arbeiten in diesem immer komplexer gewordenen System mit einer kreativen Dissidenz der Unterlassung. Sie akzeptieren nicht einfach alle Vorgaben von oben. In den Schulen passiert täglich viel Gutes, und das stimmt mich trotz allem optimistisch.

Pädagoge mit Leib und Seele

Carl Bossard ist diplomierter Sekundar- und Gymnasiallehrer. Während seiner beruflichen Laufbahn war er unter anderem Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden sowie Direktor der Kantonsschule Alpenquai in Luzern. Als Gründungsrektor zeichnete er verantwortlich für den Aufbau der Pädagogischen Hochschule Zug. Auch nach seiner Pensionierung beschäftigt er sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen. Heute begleitet der 73-Jährige Schulen in pädagogischen und Schulentwicklungsfragen. Ausserdem leitet er Weiterbildungskurse.

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Bildungswunder Südkorea – Was können wir lernen? 1. Teil https://condorcet.ch/2021/03/bildungswunder-suedkorea-was-koennen-wir-lernen-1-teil/ https://condorcet.ch/2021/03/bildungswunder-suedkorea-was-koennen-wir-lernen-1-teil/#comments Mon, 08 Mar 2021 16:37:29 +0000 https://condorcet.ch/?p=7975

PISA-Spitzenreiter Südkorea verbindet man mit einer grossen Uniformiertheit und jeder Menge Klischees. In einem erfrischenden Interview zeichnet Roland Reichenbach, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, im Gespräch mit Alain Pichard ein nuanciertes Bild dieser bemerkenswerten Nation und seiner Bildungsleistung. Lesen Sie den 1. Teil des vollständigen Interviews, das in gekürzter Form bereits in der NZZ (6.3.21) erschienen ist.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE)
Prof. Dr. Roland Reichenbach: Viele Klischees stimmen nicht.

Condorcet:
Herr Reichenbach, mit Ausnahme des letzten Jahres, haben Sie dieses ostasiatische Land fast jedes Jahr bereist, Schulen und Universitäten besucht. Woher kam dieses Interesse?

Roland Reichenbach:

Das entstand mehr oder weniger zufällig; ich wurde 2010 zu einer internationalen Tagung nach Seoul eingeladen. Um ehrlich zu sein, hat mich Ostasien zu der Zeit kaum interessiert. Hingegen hatte ich gegenüber Korea schon lange ein sozusagen „positives Vorurteil“, da ich als junger Mann recht intensiv Taekwondo betrieben habe, die bekannte koreanische Kampfsportart.

Kim Myung-Soo, Meister des Tae Kwan Do

Asiatische Kampfsportarten werden ja oft von Meistern geprägt.

So ist es. Meiner war der der leider früh verstorbene Kim Myung-Soo, der in der Welt des Taekwondo eine herausragende Bedeutung hatte, was mir nicht bewusst war. Er war damals für mich vielleicht die einzige Autoritätsfigur, die ich tatsächlich vorbehaltslos – regelrecht autoritätsgläubig – akzeptiert habe.

Mit anderen Worten, ihr erster Besuch in Korea war dem Meister eines koreanischen Kampfsports zu verdanken?

Natürlich nicht, aber ich habe in dieser einen Woche in Seoul vieles entdeckt, was mich an die Zeit mit Kim Myung-Soo erinnert hat.

Reichenbach mit Lee Jae Geun, Präsident der SERI: Mittlerweile sind es freundschaftliche Beziehungen.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den koreanischen Kollegen?

Mittlerweile sind es freundschaftliche Beziehungen, die sich auch als sehr produktiv erwiesen. Wir organisierten gemeinsam Symposien und Tagungen in Asien, den USA und Europa, es kam zu zahlreichen Publikationen und auch zu Buchveröffentlichungen.

Verstehe ich Sie richtig, Sie hielten auch Vorträge vor den Koreanerinnen und Koreanern?

Genau, meine Kolleginnen und Kollegen ermöglichten mir zahlreiche Auftritte an unterschiedlichen südkoreanischen und japanischen Universitäten und Schulen. Und während eines Forschungssemesters an der «Seoul National University» habe ich auch Grundschulen und Mittelschulen besuchen können. Das war sehr interessant und ich merkte, dass ich gängige Klischees im Kopf revidieren sollte.

Können Sie mir mal ein Beispiel einer solchen Tagung nennen? Welche Bildungsthemen werden in Korea diskutiert?

Da gab es zum Beispiel eine Tagung zum Thema «Autorität von Lehrpersonen», zu der ich vor wenigen Jahren eingeladen war. Ein hoher Vertreter der sehr grossen Schulbehörde von Metropolitan Seoul (rund 25 Millionen Einwohner) stellte dort einer internationalen Teilnehmerschaft eine einfache und ernstgemeinte Frage: „How can we make our students happier?“

Damit wäre schon einmal ein Klischee aus dem Weg geräumt. Offensichtlich interessiert die Befindlichkeit der Studentinnen und Studenten durchaus die Bildungsverantwortlichen! Wir hören hier immer wieder von diesem enormen Stress, dem die jungen Leute ausgesetzt sind.

Man muss hier differenzieren. Alle kennen das sogenannte „educational fever“, diese ausgeprägte Bildungsaspiration in Ostasien. Doch dieses „Fieber“ kommt nicht aus den Behörden, sondern stammt aus der Zivilgesellschaft. Der grosse „Bildungsstress“, den Sie angesprochen haben, betrifft vor allem den Übergang von der Mittelschule zur Universität. Nahezu 80 % der jungen Koreanerinnen und Koreaner besuchen die Universität (80 % sind Privatuniversitäten). Bei dieser mass higher education werden die 247 Universitäten einem mehr oder weniger gnadenlosen Ranking unterzogen.

Alle kennen das sogenannte „educational fever“, diese ausgeprägte Bildungsaspiration in Ostasien. Doch dieses „Fieber“ kommt nicht aus den Behörden, sondern stammt aus der Zivilgesellschaft.

Jedes Bildungssystem ist „stratifiziert“, wenn sehr viele junge Menschen Zugang zum Universitätsstudium haben, dann werden eben die Universitäten „gerankt“, und die „annehmenden“ Institutionen (also Hochschulen) und nicht die „abgebenden“ Institutionen (Mittelschulen) berechtigen dazu, an einem bestimmten Ort ein bestimmtes Fach zu studieren (wie etwa auch in Frankreich oder den USA). Viele vermögende Familien schicken ihre Kinder, wenn es geht, an eine renommierte US-amerikanische Universität. „Lernt mit Feuer im Herzen!“ – diese Haltung zum Lernen und zur Bildung ist sicher ein wichtiger Faktor des (wirtschaftlich) so erfolgreichen „Tigerstaates“, der nach dem äusserst verheerenden Koreakrieg (1950-1953) noch zu den allerärmsten Ländern gehört hatte.

An den jeweiligen grossangelegten internationalen Tests wie TIMSS oder PISA schneiden die südkoreanischen SchülerInnen immer wieder hervorragend ab. Vor allem bei den TIMSS-Studien bringen Länder wie Südkorea (wie auch Vietnam, Hongkong oder Singapur) über 400 Schülerinnen und Schüler in die oberste Kategorie der Leistungsstufen, während Deutschland hier gerade mal auf 50 kommt. Wie werten Sie diese Entwicklung?

PISA: Interessant und problematisch

Diese international-vergleichenden Leistungsstudien sind so interessant wie auch problematisch. Was wissen wir eigentlich, wenn wir lesen, dass die getestete Schülerschaft im Bundesland Bremen etwa „gleich leistungsstark“ ist wie jene in Mexiko oder Brasilien, jene aus Baden-Württemberg aber so „stark“ wie die Schweden?

PISA betreibt keine Ursachenforschung!

So ist es. Es liegt nicht in den Möglichkeiten dieser Tests, die Ursachen für die gemessenen Unterschiede zu erklären, auch wenn die Erhebungen methodisch einwandfrei sind. Die dann immer folgenden „Wie-es-möglich-war-dass“-Erklärungen sind vor allem Spekulation.

Bei uns galt Finnland plötzlich als das Mekka der Bildung.

In der Tat schauten viele Bildungsforscher und Bildungspolitikerinnen nach Finnland: die Finnen machen es richtig! Es gab viele spontane „Erklärungen“. Und natürlich schaute man aus Mitteleuropa lieber nach Finnland als nach Südkorea. Daran zeigt sich, dass internationale Leistungstests für kulturelle Zuschreibungen nichts taugen. In Ostasien wird man vor allem Drill und Autorität erkennen wollen, was für die liebenswürdigen Finnen mit ihrer scheinbar so grossartigen Lehrerbildung ja auf gar keinen Fall zutreffen kann (darf). Aber beide Länder erzielten vergleichbar hohe und beachtliche Resultate.

Dennoch, die Resultate von Südkorea sind extrem gut. Viele sprechen da auch von einem konfuzianischen Bildungsethos. Hat es damit eine Bewandtnis?

Die Erklärung „Confucian culture“ überzeugt nicht.

Wieder so ein Erklärungsversuch! Dass Südkorea gut abschneidet, erstaunt natürlich nicht, das Lernethos ist gegeben. Konfuzius lebte aber 551 bis 479 vor unserer Zeitrechnung, er war (quasi) Philosoph und es gab damals keine obligatorische Schule. Die Erklärung „Confucian culture“ überzeugt nicht. Das ist etwa so, wie wenn man das vergleichsweise dürftige Abschneiden der „Bildungsnation“ Deutschland mit Wilhelm von Humboldt erklären wollte, und der lebte doch deutlich zeitnaher (1767-1835). Ich möchte eine Banalität äussern: Wenn die Südkoreaner viel bessere Leistungen etwa in Mathematik erbringen als sagen wir Armenien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, so haben sie offenbar sehr viel besser das Wissen erworben, das dann auch getestet worden ist. Mehr nicht.

Gunnar Heinsohn: Südkorea ist punkto Anzahl Patentanmeldungen auf der Überholspur.

Aber offensichtlich korrelieren diese guten Schulleistungen mit der unglaublichen wirtschaftlichen Entwicklung. Der Soziologe Gunnar Heinsohn verweist immer wieder darauf, dass Südkorea in der Entwicklung von marktfähigen Patenten Frankreich überholt und Deutschland eingeholt hat und stellt einen Zusammenhang zu den Spitzenleistungen im Fach Mathematik her. Sehen Sie diesen auch?

Der Zusammenhang erscheint offensichtlich, nicht nur für die Mathematik, sondern im Grunde für alle MINT-Fächer. Daher sollen diese auch in der Schweiz so gefördert werden. Weil die Mädchen und Frauen die Jungen und Männer im Bildungserfolg überholt haben, ist es für die Wirtschaft von grosser Bedeutung, die MINT-Fächer für Mädchen und Frauen attraktiver zu machen. Das hat weniger mit Gender-Gerechtigkeit zu tun als mit soliden ökonomischen Interessen, die auch plausibel sind.

Betreibt Südkorea eine gezielte Elitenförderung? Weltweit soll es eine Jagd nach den Talenten geben.

Dazu kann ich nur Folgendes sagen, das System der Hochschulbildung ist – da es so stratifiziert ist und die Rankings eine so grosse Rolle spielen – im Grunde auf Eliteförderung angelegt, jede Universität kennt ihre Position innerhalb dieses Rankings, hat ihre Zahl, angeführt von den sogenannten SKY-Universitäten. Das Akronym bezeichnet die drei prestigeträchtigen Universitäten Seoul National University, Korea University und Yonsei University. Die SKY-Dreiergruppe ist also das Pendant zur Ivy League in den USA.

Solche seichten Diagnosen sind überall zu finden. Pädagogische Hochschulen und auch die Universitäten sind leider auch voll davon. Der Dualismus von „Auswendiglernen“ und „Kreativität“ ist Ausdruck einer reichlich uninformierten Haltung, die sich progressiv oder aufgeklärt, vielleicht auch kindgerecht und lebensnah wähnt.

Vor kurzem schrieb der Asien-Korrespondent der TAZ, Fabian Kretschmer, zu Südkorea Folgendes: «Die Obsession, akademische Titel zu erlangen, scheint dem Land jedoch zum Verhängnis zu werden, vor allem weil das Bildungssystem Auswendiglernen über kreatives Denken stellt.» Und in einem anderen Artikel bescheinigt er dem Lande: «Kreativität galt in Südkorea noch nie als erstrebenswert.»

Solche seichten Diagnosen sind überall zu finden. Pädagogische Hochschulen und auch die Universitäten sind leider auch voll davon. Der Dualismus von „Auswendiglernen“ und „Kreativität“ ist Ausdruck einer reichlich uninformierten Haltung, die sich progressiv oder aufgeklärt, vielleicht auch kindgerecht und lebensnah wähnt. Ohne „Auswendiglernen“ sind weder die Kulturtechniken zu erwerben noch auch diese kreativ zu nutzen. Im Englischen – „learning by heart“ – wie auch im Französischen – „apprendre par cœur“ – taucht in diesem scheinbar leidigen Auswendiglernen zumindest noch das Herz auf, welches ja ein sehr wichtiges Körperorgan ist. Im Lern- und Bildungsprozess geht Kultur in individuelles Fleisch und Blut über. Wir sind Infizierte von kulturellen Viren, die parasitäre Kultur braucht uns zum Wirt, ohne Bildung geht sie flöten. Informatio heisst, sich durch Belehrung bilden, sich innerlich bilden (formieren, in-formatio). Wer nicht auswendig lernen könnte, hätte eine Gedächtnisspanne eines Säuglings, so rund plus/minus zwei Sekunden.

Wer so sehr etwas gegen das Auswendiglernen hat, sollte lieber nicht als Lehrperson tätig sein, würde ich meinen.

Herr Reichenbach propagiert demnach das «Auswendiglernen»?

Ich bin in der Tat ein dezidierter Vertreter des Auswendiglernens. Damit will ich nicht sagen, dass Säuglinge nicht kreativ sein können, aber als ernstzunehmende Kulturschaffende haben sie noch einen langen Weg vor sich. Auf diesem Weg haben sie sich noch vieles an-zu-eignen, denn man kann erst nach aussen wenden und nach aussen gewandt sein, wenn man sich ein recht grosses Stück Kultur einverleibt hat. Wer so sehr etwas gegen das Auswendiglernen hat, sollte lieber nicht als Lehrperson tätig sein, würde ich meinen; eine solche Haltung kommt mir jedenfalls nicht sehr in-formiert vor… um es diplomatisch zu sagen.

Die «Pöstlergeographie» ist allerdings hierzulande mega-out. Und auch das «Wörtchen lernen» ist in der neuen Mehrsprachendidaktik verpönt.

Wieso sollte man die Namen der wichtigsten Flüsse, Seen und Berge der Schweiz, der europäischen Hauptstädte, oder einiger Knochen des menschlichen Skeletts, nicht mehr auswendig lernen? Oder die vielen Ausnahmen in der französischen Sprache, wie die sieben Wörter, die im Singular zwar mit „ou“ enden, aber im Plural nicht mit „ous“, sondern eben mit „oux“, nämlich bijoux, cailljoux, choux, genoux, hiboux, joujoux, poux? Diese sieben Wörter musste ich einmal auswendig lernen, ich sage sie immer wieder gerne auf. Und das ist kein Witz! Wie kann man es gut finden, dass am Ende der Schulzeit kaum jemand – by heart – fehlerlos ein Gedicht aufsagen kann, einen Liedtext, eine mathematische Formel, geschweige denn das Periodensystem, ja nicht einmal die Daten des Anfangs und Endes des zweiten Weltkrieges?

Filmwunderland Südkorea: Das koreanische Kulturschaffen ist ausserordentlich kreativ.

Für Ihre These sprechen auch die Erfolge der koreanischen Künstlerinnen und Künstler in den westlichen Galerien oder im Filmschaffen.

Glaubt jemand wirklich, es sei erstaunlich, dass Korea so grosse Künstlerinnen und Künstler hervorbringt, obwohl die kleinen Koreanerinnen und Koreaner so viel auswendig lernen müssen? Ich würde hier „obwohl“ schon fast eher durch „weil“ ersetzen wollen…

Welche Rolle spielen die sogenannten Nachhilfeinstitutionen, in denen die Kinder abends nach der Schule bis zum Umfallen weiter lernen müssen, um ihre Bildungsziele zu erreichen? Das verschärft doch sicher die soziale Segregation.

Die sogenannte „shadow education“ ist ein echtes Problem – nicht nur in Korea und Ostasien, sondern ja auch zunehmend in unseren Breitengraden. Damit ist die ganze Nachhilfeindustrie gemeint, die in Korea ein bedrohliches Ausmass angenommen hat. „Erfolgreiche“ Nachhilfelehrerinnen und -lehrer verdienen mitunter wesentlich mehr als ihre Kolleginnen und Kollegen in der obligatorischen Schule. Viele der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen lernen bis zur Erschöpfung, um die Eintrittsprüfung zu einer renommierten Universität zu schaffen. Sie arbeiten sechs bis sieben Tage und Nächte pro Woche, aber natürlich nicht jahrelang, sondern um diese Übertrittsprüfung zu bestehen. Sie arbeiten überall, sie schlafen auch überall, sie schlafen auch in der Schule, weil sie übernächtigt sind, sie arbeiten und schlafen. Manche Lehrpersonen lassen sie auf den Pulten schlafen, weil sie wissen, dass dies nicht ein Ausdruck von Faulheit, sondern des Gegenteils von Faulheit ist, weil die Schlafende gestern bis um Mitternacht gebüffelt hat, wie praktisch jede Nacht.

Die sogenannte „shadow education“ ist ein echtes Problem – nicht nur in Korea und Ostasien, sondern ja auch zunehmend in unseren Breitengraden. Damit ist die ganze Nachhilfeindustrie gemeint, die in Korea ein bedrohliches Ausmass angenommen hat.

Gibt es keine Regulierungsbestrebungen für diese Nachhilfeinstitutionen?

Man kann die private Nachhilfe nicht verbieten (obwohl man dies teilweise möchte), und je mehr gesellschaftliche Bedeutung dieser zukommt, desto mehr nimmt sie dem Staat in der Bildung das Ruder aus der Hand. Es ist nicht fraglich, dass die soziale Schere damit weiter auseinandergeht. Dies ist auch bei uns der Fall, wenn auch in einem noch geringeren Ausmass. Wenn der Staat nicht leistet, was man von ihm erwartet, bzw. sich gewisse Milieus von ihm erwarten, dann entsteht eine Parallelbildungswirtschaft.

Und was hat es mit den immer wieder kolportierten Suizidraten auf sich?

Die Anzahl der tragischen Fälle juvenilen Suizids sind vergleichsweise sehr hoch. Aber wie gesagt, dieser Druck entsteht im Kern der mittelständischen Gesellschaft. Manche der Studierenden, die ich dazu befragt habe, sahen aber auch Vorzüge dieser harten Prüfungsvorbereitungszeit. Etwa in kleinen („freiwilligen“) Gruppen, wo mit Freundinnen und Freunden gelernt wird und es dadurch zu einem grossen Zusammenhalten kommt. Denn, wenn man über Monate täglich zusammen lernt, schweisst dies die Leute zusammen, festigt die persönlichen Bindungen, was auch für die Zukunft wichtig sein kann.

Leistungsbereitschaft, Selbstdiszipliniertheit, Anerkennung von Autoritätspersonen (Ältere, Eltern, Lehrpersonen…), Anstand und Hilfsbereitschaft sind ganz sicher prägende und weitgehend realisierte Ideale und Tugenden der südkoreanischen Gesellschaft.

Lassen wir mal das Gerede vom konfuzianischen Bildungswesen. Sprechen wir von Pädagogik und dem koreanischen Bildungsethos. Was sind die wesentlichen Tugenden dieser Erziehungspädagogik?

Selbstdisziplin und Leistungsbereitschaft

Leistungsbereitschaft, Selbstdiszipliniertheit, Anerkennung von Autoritätspersonen (Ältere, Eltern, Lehrpersonen…), Anstand und Hilfsbereitschaft sind ganz sicher prägende und weitgehend realisierte Ideale und Tugenden der südkoreanischen Gesellschaft, die bis heute stark patriarchal geprägt ist. Nicht wenige junge Menschen scheinen darunter auch sehr zu leiden. Korea verändert sich aber gleichzeitig rasant, das bleibt nicht ohne Einfluss auf diese Mentalität, die „konfuzianisch“ genannt wird, aber mit der Lehre Konfuzius nur wenig zu tun hat. Der arme Meister Kong muss aber auch für alles herhalten. So spielt Konfuzius, insbesondere für China im Rahmen seiner dezidierten „Soft power“-Strategie, eine (neue) zentrale Rolle, mit welcher es seinen künftigen Einfluss auf allen Kontinenten sichern will. Die weltweite Etablierung der sogenannten Konfuzius-Institute ist also eine höchst ambivalente Angelegenheit.

Das Label „Confucian culture“ ist bloss das Feigenblatt einer ansonsten schamlos kapitalistischen Gesinnung.

Bis in die Schweiz!

Es ist sicher ein richtiger Schritt gewesen, dass die Universität Basel das Konfuzius-Institut wieder geschlossen hat. Der Erfolg des brachialen Kapitalismus in Korea zerstört vielmehr die wenigen humanistischen Reste des konfuzianischen Denkens! Kurz, die Bildungsrealität Südkoreas hat m.E. nichts mit Konfuzius, aber viel mit einer radikalen und ausschliesslichen Erfolgsorientierung zu tun. Das Label „Confucian culture“ ist bloss das Feigenblatt einer ansonsten schamlos kapitalistischen Gesinnung.

Wissen versus Verstehen ist eine pädagogisch sinnlose Dichotomie, ohne Wissen gibt es kein Verstehen.

Sie geben ein wichtiges Stichwort: Wie halten es die Koreaner mit dem, was wir hier unter humanistischer Bildung verstehen, die auf den Prinzipien der Aufklärung basiert? Wie steht es mit dem Verstehen lernen?

Aufklärung ist zwar ein Epochenbegriff, aber auch eine Haltung, die man an vielen Kulturräumen und auch früheren Epochen findet, Philosophie und Wissenschaft sind immer der Aufklärung, der Erhellung der Sachlage gewidmet. Konfuzius ist sicher als so aufklärerisch wie Platons Sokrates zu lesen. Der Begriff „humanistic“ wird auch von ostasiatischen KollegInnen zu recht verwendet, wenn sie auf Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West verweisen. Verstehen zu wollen und zu lernen, ist sicher keine europäische oder deutsche Exklusivität, sondern schon eher fast eine anthropologische Konstante. Der Prozess des Verstehens beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod, wie Hannah Arendt meinte. Wissen versus Verstehen ist eine pädagogisch sinnlose Dichotomie, ohne Wissen gibt es kein Verstehen. Zwar geht das Verstehen manchmal dem Wissen voraus, meist hinkt es ihm hintennach, deshalb heisst es auch Nach-denken. Jedenfalls, dies sei auch mit Arendt gesagt, verleiht das Verstehen dem Wissen Sinn. Es ist ein grosser Irrtum zu glauben, man könnte Verstehen pädagogisch geschickt herstellen, vieles von dem, was wir lernen und uns als Wissen zur Verfügung steht, verstehen wir erst sehr viel später. Das ist normal.

Roland Reichenbach, Jg. 1962, ist seit 2013 Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, Forschungsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Pädagogische Ethik, Politische Bildung und Verhandlungsprozesse.

Schluss des 1. Teils

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