Methodik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 26 Dec 2023 12:42:49 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Methodik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Messer, Gabel, Löffel • Von Gewissheiten gelingenden Unterrichts – und ihrem Gegenteil https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/ https://condorcet.ch/2023/12/messer-gabel-loeffel-von-gewissheiten-gelingenden-unterrichts-und-ihrem-gegenteil/#comments Tue, 26 Dec 2023 12:42:49 +0000 https://condorcet.ch/?p=15549

Condorcet-Autor und Präsident des Basellandschaftlichen Lehrer- und Lehrerinnenvereins ruft uns in seinem Editorial seiner Verbandszeitung noch einmal die wesentlichen Erfolgsgarantien für guten Unterricht in Erinnerung.

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April 2007: Auf die Frage, was Ex-Microsoft-Chef Steve Ballmer vom eben auf den Markt gebrachten iPhone halte, antwortete er belustigt, nie im Leben werde das iPhone einen nennenswerten Marktanteil erlangen. Keine Tastatur, ergo schlechte Mail-Maschine, horrender Preis. Tatsächlich hat Apple seit der Lancierung 2007 über 2.5 Milliarden iPhones verkauft. In der Schweiz beträgt der Marktanteil mittlerweile stolze 46 %. Steve Ballmer unterlag einer kolossalen Fehleinschätzung.

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer,  Präsident lvb, Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland
Bild: fabü

2011 kündigten die Verantwortlichen von Passepartout die Revolutionierung des Fremdsprachenerwerbs an. Doch der Zaubertrank in Gestalt der sogenannten Didaktik der Mehrsprachigkeit und der Lehrmittel «Mille feuilles» resp. «Clin d’oeil» fiel gleich in vier wissenschaftlichen Studien durch. Bei der Überprüfung der Grundkompetenzen ÜGK verfehlten 89 % der Passepartout-Kinder das erklärte Ziel im Bereich Sprechen. Nach Einführung der Lehrmittelfreiheit im Kanton Baselland 2019 sank der Marktanteil von «Clin d’oeil» auf einen Schlag in die Bedeutungslosigkeit. Die Projektleitung, die Bildungsdirektoren und die Bildungs-«Experten» aus dem Dunstkreis der Pädagogischen Hochschulen ereilte das gleiche Schicksal wie Steve Ballmer: Sie waren einem monumentalen Irrtum aufgesessen.

1884 gründete Karl Elsener die Gemeinschaft für Messerschmiede. Ob er den universellen Einsatz von Messer und Gabel als unverzichtbare Tischutensilien vorausgesagt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls existiert die Firma «Elsener Messerschmied AG» heute noch und stellt bereits in der achten Generation u.a. Messer und Gabeln her. Der «Marktanteil» der beiden «Esswerkzeuge» dürfte in der westlichen Welt den Traumwert von nahezu 100 % erreicht haben. Karl Elsener hatte also auf das richtige Pferd gesetzt.

Ich bin überzeugt, dass der Mensch auch in 100 Jahren seine Nahrung mit dem Messer zerkleinern und mit der Gabel zum Mund führen wird. Frei nach Bestseller-Autor Rolf Dobelli: «Was sich über Jahrhunderte gegen den Innovationssturm behauptet hat, wird sich wohl auch in Zukunft behaupten.»

Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben.

Verlässliche Konstanten sind auch in dem von Neomanie geprägten Bildungswesen von grosser Bedeutung. Lernen auf Beziehungsebene erfordert physische Präsenz. Die Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf verlässliche und fähige Lehrpersonen, die sich auch in Zukunft durch die folgenden drei Hauptmerkmale auszeichnen:

Sie verfügen über pädagogisches Geschick, haben ein offenes Ohr für die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen und pflegen deshalb einen altersgerechten Unterrichtsstil. Als Meister ihrer Fächer verstehen sie es, Unterrichtsinhalte lebendig zu vermitteln. Dank eines reich gefüllten Methodik-Didaktik-Koffers sind sie in der Lage, auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verständlich zu erläutern und lassen ihren Schülerinnen und Schülern ausreichend Zeit, das Gelernte zu vertiefen und ausgiebig zu üben. Oberflächlich-aktionistische Sightseeing-Pädagogik dagegen ist ihnen ein Graus.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk.

Bekanntlich fallen gute Lehrpersonen nicht vom Himmel. Pädagogische Hochschulen, welche sich ihrer grossen Verantwortung für den Bildungserfolg in unserem Land bewusst sind, sorgen mit seriösen Assessments dafür, dass geeignete junge Menschen den Weg in den Lehrberuf finden. Die fachwissenschaftliche Ausbildung stellt sicher, dass die angehenden Lehrpersonen über ein solides und stufengerechtes Fachwissen verfügen. Dabei gilt es, Augenmass zu halten. Literatur in allen Ehren, aber Englischlehrer an der Volksschule müssen in erster Linie die englische Sprache beherrschen. Und von Sek I-Physiklehrpersonen wird nicht erwartet, dass sie Astronauten ausbilden können.

Auch wenn forschungsverliebte Dozierende die Nase rümpfen: Unterrichten ist zu einem beträchtlichen Teil Handwerk. Eine praxisorientierte Ausbildung in Methodik und Didaktik gehört deshalb zum Pflichtprogramm. Der von manchen PH-Vertretern gebetsmühlenartig wiederholte Vorwurf der Rezepthaftigkeit greift definitiv nicht.

Erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Realitätssinn

Zugegeben: Unterrichtserfahrung ist noch keine Garantie für eine erfolgreiche Lehrtätigkeit als Fachdidaktikdozent. Mangelnde oder fehlende Unterrichtserfahrung hingegen ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Garant für praxisferne Konzepte wie bspw. die eingangs erwähnte Mehrsprachigkeitsdidaktik oder pseudowissenschaftliche pädagogische Konzepte, die Primarschulkinder wie Erwachsene behandeln. Überzogene Selbstorganisation, inflationäre individuelle Lernarrangements oder psychometrische Kompetenzraster lassen grüssen. Nein, wir brauchen in der Lehrerbildung keine realitätsfernen Technokraten, sondern erfolgreiche Pädagoginnen und Pädagogen mit Herzblut und Realitätssinn.

Wie angehende Lehrpersonen zu einem tragfähigen Praxiswissen und solidem Berufskönnen befähigt werden, zeigt das neue Studienmodell der Hochschule für agile Bildung HfaB in Zürich, das Carl Bossard in seinem Artikel «Das Gleiche anders machen» [1] erfrischend beleuchtet. Prädikat: Strengstens lesenswert!

P.S.: Fast hätte ich es vergessen: Neben Messer und Gabel ist natürlich auch der Löffel fester Bestandteil des Bestecks, damit wir die Kürbissuppe auch in ferner Zukunft geniessen können. Das Auslöffeln der Suppe, die uns (notorisch rechthaberische) Bildungspropheten eingebrockt haben, überlasse ich allerdings lieber dem «Bullshit-Filter der Geschichte» (Nassim Nicholas Taleb).

[1] https://condorcet.ch/2023/11/das-gleiche-anders-machen/

Dieser Artikel ist zuerst in der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB erschienen: https://lvb.ch/lvbinform/ausgabe/2023-24-02/

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Das Lernen als Aspekt menschlicher Selbstbestimmung. Eine Antwort an Felix Schmutz https://condorcet.ch/2020/04/das-lernen-als-aspekt-menschlicher-selbstbestimmung-eine-antwort-an-felix-schmutz/ https://condorcet.ch/2020/04/das-lernen-als-aspekt-menschlicher-selbstbestimmung-eine-antwort-an-felix-schmutz/#comments Thu, 09 Apr 2020 13:23:33 +0000 https://condorcet.ch/?p=4648

Professor Dr. Walter Herzog reagiert in seinem Beitrag auf die scharfe Kritik von Felix Schmutz (Pädagogik und Bodenhaftung, 4.4.2020). Die Redaktion ist der Meinung, dass die zugegebenermassen anspruchsvolle Lektüre dieses Diskurses für interessierte Leserinnen und Leser nicht nur spannend und genüsslich, sondern auch lehrreich ist. Damit wird der Blog auch seinem eigenen Anspruch gerecht, das perspektivische Sehen zu fördern.

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Felix Schmutz, BL:
kritisierte die Aussagen von Professor Herzog scharf.

Felix Schmutz ist kein Freund des selbstorganisierten Lernens. Ja, er scheint es regelrecht zu hassen. Anders kann ich seine Kritik («Pädagogik und Bodenhaftung») an meinem jüngsten Blog-Beitrag («Eine Chance für das selbstorganisierte Lernen») nicht verstehen. Mit seinem verbalen Rundumschlag schiesst er jedoch dermassen übers Ziel hinaus, dass er seinem Anliegen einen Bärendienst erweist.

Ich sehe davon ab, dass mir Schmutz Dinge unterschiebt, die  weder von mir vertreten werden noch  aus meinem Beitrag herausgelesen werden können.

Ich sehe davon ab, dass mir Schmutz Dinge unterschiebt, die weder von mir  vertreten werden noch  aus meinem Beitrag herausgelesen werden können. Ebenso sehe ich davon ab, dass Schmutz mehrfach Gedanken entwickelt, die ihn zu Schlüssen führen, die sich in meinem Text in fast gleicher Form finden, ohne dass er darauf verweisen würde. Ich sehe schliesslich auch davon ab, dass Schmutz dreimal aus meinem Text zitiert (jeweils kursiv gesetzt), aber nur an der dritten Stelle klar macht, dass das Zitat von mir stammt, während er an den beiden anderen Stellen den Eindruck erweckt, es handle sich um Zitate aus dem Lehrplan 21. Die panische Reaktion auf meinen Text scheint nicht nur seine Lese-, sondern auch seine Schreibkompetenz beeinträchtigt zu haben.

Wovon ich nicht absehen kann, ist hingegen, dass Schmutz auf die Kernthese meines Beitrags, wonach zwischen selbstorganisiertem Lernen als Lernziel und selbstorganisiertem Lernen als Unterrichtsmethode unterschieden werden sollte, praktisch nicht eingeht. Stattdessen hält er den üblichen Reduktionismus aufrecht und attackiert das selbstorganisierte Lernen als Methode. Dies mit Argumenten, die ich teilweise als fragwürdig, teilweise schlicht als falsch beurteile.

Vier Klarstellungen

Wenn ich alles zurechtrücken wollte, was Schmutz durcheinander gebracht hat, müsste ich noch mehr Raum in Anspruch nehmen, als ich es im Folgenden sowieso schon tun werde. Ich beschränke mich daher auf vier Punkte, die mir persönlich wichtig erscheinen, die aber auch aus sachlichen Gründen einer Entgegnung bedürfen. Es geht erstens um die falsche Gleichsetzung des selbstorganisierten Lernens mit dem «Lernen des Lernens», zweitens um die abwegige Herleitung des selbstorganisierten Lernens aus dem kybernetischen Modell des Regelkreises, drittens um die falsche Behauptung, das selbstorganisierte Lernen sei empirisch widerlegt worden, und viertens um die verquere Demontage der Metapher des Bulimie-Lernens.

1. Es geht nicht um das «Lernen des Lernens»

Schmutz unterstellt mir, ich sei der Auffassung, Selbstdisziplin und Motivation liessen sich explizit lehren. Richtig sei dagegen, dass Einstellungen und Bereitschaften implizit gelernt würden. Gleiches gelte für das Lernen. Das Lernen als solches könne nicht gelernt werden, was allein schon zeige, wie absurd es sei, das selbstregulierte Lernen zu einem Lernziel zu machen.

Wir müssen zwischen materialen (inhaltlichen) und formalen Lernzielen unterscheiden

So plausibel das Argument scheint, so kurzatmig ist es. Schmutz missachtet die gängige Unterscheidung zwischen formalen und materialen Lernzielen. Materiale (inhaltliche) Lernziele, die sich vor allem in Lehrplänen finden, geben vor, welcher Stoff in welchem Fach zu unterrichten ist. Formale Lernziele, die sich eher in übergeordneten Texten wie Schulgesetzen oder Präambeln von Lehrplänen finden, umschreiben, was schulische Bildung darüber hinaus leisten soll, wie insbesondere die Förderung und Stärkung von intellektuellen Kompetenzen (Denkfähigkeit, Problemlösen, geistige Offenheit, gesunder Menschenverstand etc.) oder von Persönlichkeitsmerkmalen (Willenskraft, Charakterstärke, Gewissenhaftigkeit, Zivilcourage etc.). Natürlich lässt sich keines dieser Ziele direkt unterrichten, was ihre Bedeutung für den Bildungsauftrag von Schule und Unterricht aber in keiner Weise schmälert.

Selber saufen und selber lernen

Das Pferd wird zur Tränke geführt, muss aber selber saufen.

Insofern ist fraglich, ob es überhaupt angebracht ist, gegen das «Lernen des Lernens» zu polemisieren, denn die Fähigkeit, über sein Lernen autonom zu verfügen, gehört durchaus auch zu den formalen Zielen schulischer Bildung. Wörtlich genommen, macht der Slogan allerdings tatsächlich keinen Sinn. Denn lernen können die Schülerinnen und Schüler immer schon. Das Lernen ist ein biologisch bestimmter Vorgang, der mit unserer Existenz gegeben ist und nicht erst erworben werden muss. Es verhält sich hier wie mit dem Pferd und der Tränke. Nachdem es zur Tränke geführt wurde, muss das Pferd selber saufen; auf dem Weg zur Tränke kann es jedoch begleitet werden. Auch lernen muss jeder Schüler und jede Schülerin für sich allein. Aber auf dem Lernweg, bevor das Lernen vollzogen wird, kann auch den Schülerinnen und Schülern Beistand geleistet werden.

Das Gleichnis zeigt, dass es beim selbstorganisierten Lernen nicht darum geht, das Lernen zu lernen. Vielmehr sollen die Lernenden befähigt werden, die Umstände des Lernens so weit selber zu gestalten, dass sie die Begleitung auf ihrem Lernweg Schritt um Schritt selber übernehmen können. Wie das Pferd die Tränke irgendwann selber finden wird, nachdem ihm der Weg dorthin häufig genug gezeigt wurde, werden die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen sukzessive selber organisieren können, nachdem ihnen ausreichend gezeigt wurde, wie sie dies tun können. Es geht beim selbstorganisierten Lernen weder um das Lernen des Lernens noch um eine besondere Art von Lernen, sondern um die Bedingungen des Lernens, die so weit selber beherrscht werden sollen, dass ein Stück Autonomie erreicht wird.

2. Eine kuriose Herleitung des selbstorganisierten Lernens

Schmutz meint, es sei «leicht zu sehen», wo die Konzepte der Selbststeuerung und Selbstregulierung herkämen, nämlich aus der Kybernetik. Dem ist nicht so. Schmutz ist der semantischen Mehrdeutigkeit der Begriffe zum Opfer gefallen. Nur weil ein Wort gleich lautet, muss es noch nicht dieselbe Bedeutung haben. Bekanntlich ist die Bank, auf der man sitzen kann, nicht auch die Bank, bei der man einen Kredit aufnehmen kann. Gleiches gilt für die Begriffe Selbststeuerung und Selbstregelung.

Anhalten der historischen Zeit

Es trifft zu, dass von Selbstregulierung auch in der Kybernetik die Rede ist, wenn auch die Begriffe der Rückkopplung (Feedback) und des Regelkreises (zirkuläre Kausalität) häufiger verwendet werden. Ein technisches System wie ein Kühlschrank oder eine Zentralheizung reguliert sich selber, wenn es Informationen über seinen aktuellen Zustand mit einem Normwert vergleicht und allfällige Abweichungen autonom korrigiert. Dies ist ein Vorgang, der keinen Eingriff von aussen voraussetzt, wie Schmutz korrekt darstellt. Entscheidend im Hinblick auf das selbstregulierte Lernen ist jedoch, dass das System bei dieser Selbstkorrektur absolut nichts lernt. Ashby (1957) hat dies in seiner Einführung in die Kybernetik prägnant herausgearbeitet. Schmutz stimmt dem zu, wenn er wenig später schreibt: «Selbstregulatorische Prozesse beruhen auf voreingestellten Sollwerten. … Es handelt sich um die Reproduktion des ewig Gleichen.» Ganz genau. In einem sich selbst regulierenden System steht die Zeit still. Genauer gesagt, verstreicht zwar auch in einem Regelkreis Zeit, doch ist es die metrische Zeit der Uhren, die im Unterschied zur historischen Zeit keine Richtung aufweist. Indem der Pfeil der Zeit gebrochen wird, kann sich nichts ereignen. Wo sich nichts ereignet, muss nicht gelernt werden, kann aber auch nicht gelernt werden. Anders ausgedrückt: In einer sich selbst regulierenden kybernetischen Maschine passiert nichts, was Anlass zum Lernen gäbe. Dies allein schon müsste eigentlich genügen, um zu zeigen, dass das selbstregulierte Lernen mit dem kybernetischen Konzept der Selbstregulation nichts zu tun hat.

Steuerung oder Regelung?

Eine fundamentale Differenz zwischen Steuerung und Regelung.

Schmutz unterläuft ein weiterer Fehler: Er unterscheidet nicht zwischen Steuerung und Regelung. Selbst wenn sich ein System selber reguliert, muss ihm, falls es sich um ein technisches System handelt, ein Sollwert vorgegeben werden, und zwar von einem Menschen, der bestimmt, welche Leistung das System erbringen soll. Dafür steht der Begriff der Steuerung. In seiner Einführung in die Systemtheorie umschreibt Norbert Bischof (1995) den Unterschied mit den Begriffen der Konditionalität und der Manipulation. Was in einem Thermostaten abläuft, ist Konditionalität, was ein Mensch, der den Thermostaten kalibriert, tut, ist Manipulation. Die Regelung ist ein interner (automatischer), die Steuerung ein externer (entscheidungsbasierter) Vorgang. Das heisst auch, dass es zwischen einem technischen und einem biologischen System eine fundamentale Differenz gibt. Während bei einem technischen System Steuerung und Regelung von verschiedenen Instanzen realisiert werden, sind sie in einem biologischen System in ein und demselben System (Organismus) integriert. In der neueren Systemtheorie steht dafür der Begriff der Autopoiese (vgl. Maturana, 1998).

Es geht eben nicht um die automatische Regelung des Lernens, sondern um dessen vernunftgeleitete und handlungsorientierte Steuerung.

Franz E. Weinert formulierte den Begriff des selbstgesteuerten Lernens.

Die Unterscheidung von Steuerung und Regelung erklärt, weshalb bisweilen nicht nur gegenüber dem Begriff des selbstorganisierten Lernens, sondern auch gegenüber demjenigen des selbstregulierten Lernens Vorbehalte artikuliert werden und stattdessen dem Begriff des selbstgesteuerten Lernens der Vorzug gegeben wird, wie beispielsweise bei Franz E. Weinert (1982). Es geht eben nicht um die automatische Regelung des Lernens, sondern um dessen vernunftgeleitete und handlungsorientierte Steuerung. Schmutz hält allerdings auch den Begriff der Selbststeuerung für fehl am Platz.

Kybernetik zweiter Ordnung

Die Kybernetik eignet sich aus einem weiteren Grund schlecht zur Diffamierung des selbstorganisierten Lernens. Schmutz erwähnt die Macy-Konferenzen, an denen von 1946 bis 1953 eine «interdisziplinäre Arbeitsgruppe von amerikanischen Forschern» die Grundlagen der Kybernetik gelegt hatte. Pikanterweise waren es aber nicht nur «amerikanische Forscher», sondern auch europäische und in die USA emigrierte Europäer, die an den insgesamt zehn Konferenzen teilnahmen, wie Kurt Lewin, Paul Lazarsfeld, Heinz von Foerster, William Grey Walter, John von Neumann, W. Ross Ashby oder Roman Jakobson. Es ist nicht zuletzt diesen Nicht-Amerikanern, von denen die meisten allerdings später die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen haben, zu verdanken, dass sich die Kybernetik in den 1970er Jahren zu einer Kybernetik zweiter Ordnung weiterentwickelt hat. Die Kybernetik zweiter Ordnung stellt den Versuch dar, den Kybernetiker in die Theorie der Kybernetik einzubeziehen und damit vom Subjekt-Objekt-Schema der klassischen Kybernetik wegzukommen.

Was das heisst, lässt sich am Werk von Gotthard Günther – auch er ein emigrierter Europäer, der jedoch später nach Deutschland zurückkehrte – beispielhaft illustrieren. Von der Bewusstseinsphilosophie herkommend, versteht Günther (2002) unter Subjektivität ein immanentes (weltliches) Phänomen, das er als System umschreibt, das sich von seiner Umgebung abgrenzt und über Selbstreferenz verfügt. Subjektivität ist damit nicht mehr wie im Deutschen Idealismus eine reflexive transzendentale Position und kann auch nicht mehr im Singular begriffen werden, sondern stellt einen Plural dar. Dabei postuliert Günther eine konstitutive Asymmetrie zwischen subjektiver Subjektivität (Ich) und objektiver Subjektivität (Du). Während sich die Subjektivität des Du bis zu einem gewissen Grade objektivieren und technisch realisieren lässt, gilt dies für die Subjektivität des Ich nicht, da uns eine Metasprache fehlt, die uns ermöglichen würde, unser Selbstsein während seines Vollzugs reflexiv einzuholen. Notabene gilt dies auch für das Lernen. Auch auf unser Lernen können wir uns nur vor oder nach dessen Vollzug beziehen, aber nicht während wir lernen. Wenn wir es trotzdem versuchen, verfangen wir uns in eine Paradoxie. Paradoxien verhindern aber die Konstruktion eines technischen Systems.

Denken und Wollen

Menschen sind soziale Wesen, auch und gerade, wenn sie sich als Lehrende und Lernende begegnen.

Aber auch die Du-Subjektivität ist technisch nicht voll substituierbar, da das andere Subjekt nicht nur ein Zentrum des Denkens, sondern auch des Wollens ist. Denken und Wollen sind komplementäre Aspekte menschlicher Subjektivität. Daher können wir bestenfalls eine kognitive Maschine bauen (künstliche Intelligenz), aber nicht auch eine volitive Maschine. Sobald wir unser Gegenüber nicht (nur) als Denk-, sondern (auch) als Willensereignis erfahren, wird es für uns undurchschaubar und unberechenbar. Das aber heißt, dass eine automatische Regulierung von Lernprozessen nur möglich wäre, wenn wir das lernende Individuum als rein kognitives Wesen betrachten und aus seinen sozialen Bezügen herauslösen würden. Wie jede Lehrperson weiss, wäre dies das Ende des schulischen Unterrichts. Denn unter der Voraussetzung eines passiven und willenlosen Gegenübers kann pädagogisch nicht gehandelt werden. Menschen sind soziale Wesen, auch und gerade, wenn sie sich als Lehrende und Lernende begegnen. Sie anerkennen sich in ihrer Subjektivität, und zwar in reziproker Spiegelung von Ich- und Du-Subjektivität.

Eignet sich schon die Kybernetik erster Ordnung nicht, das selbstorganisierte Lernen als technologisches Hirngespinst abzutun, trifft dies auf die Kybernetik zweiter Ordnung erst recht zu. Eventuell liesse sie sich sogar nutzen, um dem selbstorganisierten Lernen eine bessere theoretische Grundlage zu verschaffen.

3. Widerlegt die Forschung das selbstorganisierte Lernen?

Schmutz bedauert, dass wichtige Ergebnisse der psychologischen Forschung «von Erziehungsfachleuten ignoriert werden, so dass immer wieder Ziele aufgestellt und Methoden propagiert werden, deren Wirkungslosigkeit schon lange nachgewiesen ist». Dabei hat er ausdrücklich auch das selbstorganisierte Lernen im Visier. Dieses wurde seiner Meinung nach längst als unwirksam nachgewiesen. Aber auch diese Behauptung hält einer genauen Prüfung nicht stand.

Was Lehrpersonen tun, ist wichtig, aber nicht alles, was Lehrpersonen tun, ist wirksam.

Dabei genügt schon ein Blick in die umfangreiche Aufarbeitung von Meta-Analysen zu den Bedingungen schulischen Lernens, die John Hattie (2009) vorgelegt hat. Seine Botschaft lautet: Was Lehrpersonen tun, ist wichtig, aber nicht alles, was Lehrpersonen tun, ist wirksam. Wirksam ist gemäss Hattie ein Unterricht, für den im Englischen der Begriff der direct instruction verwendet wird, was sich mit «direkte Unterweisung» oder «direkte Instruktion» übersetzen lässt. Charakteristisch für die direkte Unterweisung, die nicht mit dem Frontalunterricht verwechselt werden darf, ist, dass die Lehrperson die Lernziele und Erfolgskriterien des Unterrichts festlegt, diese den Lernenden transparent und verständlich darlegt, durch eigenes Verhalten vormacht, was und wie gelernt werden soll, überprüft, ob die Lernenden verstanden und auch tatsächlich gelernt haben sowie zum Abschluss einer Lehreinheit die Beiträge der Lernenden zusammenführt.

Wenn die Schüler zu ihren eigenen Lehrern werden

Steht Hattie damit auf der Seite von Schmutz? Lehnt er das selbstorganisierte Lernen ab? Mitnichten. Was er ablehnt, sind Unterrichtsformen, bei denen die Schülerinnen und Schüler allein gelassen werden. Insofern könnte man sagen, dass er das selbstorganisierte Lernen als Unterrichtsmethode ablehnt, was aber nicht heisst, dass er es auch als Lernziel ablehnt.

Was Hattie ablehnt, sind Unterrichtsformen, bei denen die Schülerinnen und Schüler allein gelassen werden.

Hattie unterstützt das selbstorganisierte Lernen als Lernziel.

In Hatties (2009) Buch finden sich leicht Stellen, die dem Begriff des selbstorganisierten Lernens praktisch eins zu eins entsprechen, auch wenn der Begriff selber nicht verwendet wird. Zum Beispiel (eigene Übersetzung): «Die Methoden, die gemäss der Synthese der Meta-Analysen am besten funktionieren, führen zu einer sehr aktiven, direkten Beteiligung und einem starken Gefühl der Handlungsfähigkeit im Prozess des Lernens und Lehrens» (S. 244). «Das Ziel ist es, den Lernenden die Fähigkeit zu vermitteln, sich selbst zu unterrichten – ihr Lernen selbst zu regulieren (to get students to learn the skills of teaching themselves – to self-regulate their learning)» (S. 245). «Die grössten Effekte auf das Schülerlernen treten auf, wenn Lehrpersonen in Bezug auf ihr Lehren selber zu Lernenden werden und wenn Lernende zu ihren eigenen Lehrpersonen werden (when students become their own teachers)» (S. 22). Am wirksamsten ist das schulische Lernen also dann, wenn die Schülerinnen und Schüler zu ihren eigenen Lehrern werden! So sehr Hattie das selbstorganisierte Lernen als Unterrichtsmethode ablehnen mag, so sehr stimmt er ihm als Lernziel zu. Zu ergänzen wäre lediglich, dass das Ziel im Kontext institutionalisierten Unterrichts immer nur annäherungsweise erreicht werden kann.

Konstruktivistisches Lernverständnis

Schmutz bezieht sich in seiner Kritik nicht auf Hattie, sondern auf einen Aufsatz von Kirschner, Sweller und Clark (2006), der allerdings auch von Hattie (2009) zitiert wird. Von «einer internationalen, empirisch abgestützten Studie» kann dabei aber nicht die Rede sein, denn die Autoren präsentieren keine noch unveröffentlichten Daten, sondern resümieren ausnahmslos bereits publizierte Forschungsergebnisse. Im Fokus des Aufsatzes steht auch nicht das selbstorganisierte Lernen, sondern die vergleichende Bewertung verschiedener Formen schülerzentrierten Unterrichts (die Autoren sprechen von «unguided or minimally guided instruction»). Wenn überhaupt, dann geht es den Autoren lediglich um das selbstorganisierte Lernen als Methode.

Eine genauere Lektüre seiner Quelle hätte Schmutz auch von den unnötigen Seitenhieben gegen den Konstruktivismus, der von ihm genauso wenig gelitten wird wie das selbstorganisierte Lernen, abhalten können. Ausdrücklich schreiben die Autoren nämlich: «The constructivist description of learning is accurate» (Kirschner, Sweller & Clark, 2006, S. 78)! Was sie kritisieren, ist also nicht das konstruktivistische Verständnis von Lernen (dieses bezeichnen sie ausdrücklich als korrekt), sondern die Konsequenzen, die in pädagogischen Kreisen daraus gezogen werden. Das aber deckt sich völlig mit meiner eigenen Auffassung. Aus einem psychologischen Verständnis von Lernen lässt sich nicht unmittelbar eine Methode zur Gestaltung des Unterrichts ableiten.

4. Können Metaphern falsch sein?

Den letzten Schliff gibt Schmutz seinem Verriss meines Beitrags zum selbstorganisierten Lernen, indem er mich des falschen Metapherngebrauchs bezichtigt. Wie er zu Recht feststellt, bilden Metaphern «die Sache, die sie meinen, jeweils nur unvollständig ab». Damit lässt sich aber keine Pauschalkritik an der Verwendung von Metaphern begründen, denn Metaphern nutzen wir oft dann, wenn uns ein begrifflicher Zugang zu einem Phänomen nicht möglich ist. Sei es, weil das Phänomen noch nicht hinreichend untersucht wurde, sei es, weil es notorisch schwierig sein kann, über gewisse Erfahrungen in klaren Worten zu reden. Metaphern sind deshalb auch in der Wissenschaft nicht nur schmückendes Beiwerk, auf das ohne weiteres verzichtet werden könnte, sondern von erkenntniserschliessender Bedeutung. Indem wir etwas sehen, als ob es etwas anderes wäre, erzeugen wir eine Analogie, die uns hilft, das begrifflich Unfassbare doch noch begreifbar zu machen. Insofern ist eine Metapher ein Medium der Sinnstiftung. Ob die Sinnstiftung selber sinnvoll ist, lässt sich rational nicht entscheiden. Deshalb ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn Schmutz meiner Metaphernwahl mit Skepsis begegnet.

Was aber nicht angeht, ist eine Metaphernkritik, die versucht, die Logik der metaphorischen Sinnstiftung ausser Kraft zu setzen, indem sie nach Entsprechungen sucht, die der Metapher widersprechen. Der Vergleich, der eine Metapher konstituiert, ist immer selektiv, was sich auch so ausdrücken lässt, dass jede Metapher sowohl auf positiven wie auf negativen Analogien beruht. Die positiven Analogien erzeugen den Sinn der Metapher; die negativen Analogien umfassen jene Aspekte des Vergleichs, die für das Verständnis der Metapher irrelevant sind. Wird zum Beispiel der Mensch ein Wolf genannt, so liegt die positive Analogie darin, dass dem Menschen Eigenschaften zugeschrieben werden, die (vermeintlich) auch auf den Wolf zutreffen, wie Bestialität, Feindseligkeit oder Hinterhältigkeit. Zu den negativen Analogien gehört dagegen, dass ein Wolf vier Beine, einen Schwanz und ein Fell hat, alles Merkmale, die auf den Menschen nicht zutreffen und für den Sinn der Metapher belanglos sind.

Ein grotesker Vorwurf

Die Bulimie-Metapher wird bewusst falsch interpretiert.

Während ich in meinem Beitrag darlege, wie ich die Bulimie-Metapher verstanden haben möchte, also die positiven Analogien zwischen Bulimie und Schülerlernen ausführe, verbeisst sich Schmutz in die negativen Analogien und reitet solange darauf herum, bis ich gleichsam mit heruntergelassenen Hosen dastehe. Das ist nicht nur beschämend, sondern auch absurd. Denn die Metapher des Bulimie-Lernens stammt nicht von mir. Selbst bei Wikipedia gibt es mittlerweile einen Eintrag zum Bulimie-Lernen, der zudem den Eindruck erweckt, dass die Metapher bereits zum Begriff geworden ist. Es heisst nämlich: «Unter dem Begriff (!) Bulimielernen … versteht man das kurzfristige Auswendiglernen von Fakten, Formeln, Sachverhalten, Wissen etc. für eine Prüfung, Klausur, Klausurarbeit oder einen Test, die man relativ kurze Zeit danach wieder vergisst und dadurch mangels Übung und tiefgreifenderem Verständnis meist nicht auf ähnliche Probleme anwenden kann» (abgerufen am 1.4.2020). Genau so wird die Bulimie-Metapher von mir verwendet, um genau das zu bezeichnen, was Schmutz nach seiner vernichtenden Kritik als eigene Einsicht ausgibt: «Was nicht genug verarbeitet, nicht oft genug wiederholt wird oder erst gar nicht interessiert, landet nicht im Langzeitgedächtnis.» Es ist in der Tat ein gut bestätigtes Ergebnis der lernpsychologischen Forschung, dass verteiltes Lernen zu besseren Gedächtnisleistungen führt als massiertes Lernen. Aber statt hervorzuheben, dass er in diesem Punkt mit mir übereinstimmt, polemisiert Schmutz gegen meine Verwendung der Bulimie-Metapher und wirft mir zum krönenden Abschluss noch vor, ich wolle «schulische Arbeit als krank machend und nutzlos … diffamieren». Grotesker geht es wahrlich nicht mehr!

Schlussbemerkung

Der Vorwurf fehlender Bodenhaftung und ideologischer Befangenheit erweist sich als hohles Gerede, wenn der Kritiker nicht in der Lage ist, seine vorgeblich auf «Erfahrung und Empirie» beruhende Kritik hinlänglich zu begründen. Aus allen Rohren zu schiessen, im Glauben, eines der Geschosse werde sein Ziel schon treffen, ist eine untaugliche Strategie, um gegen die Fehlinterpretationen des selbstorganisierten Lernens anzukämpfen. Dass es diese Fehlinterpretationen gibt, steht auch für mich ausser Zweifel. Sie bestehen vor allem darin, das selbstorganisierte Lernen um den Zielaspekt zu verkürzen und ohne die Schülerinnen und Schüler darauf vorzubereiten als Methode einzusetzen. Kritisieren lässt sich diese Schrumpfvariante des selbstorganisierten Lernens nur auf der Basis gut begründeter und nachvollziehbarer Argumente. Weshalb Schmutz davon nichts wissen will, ist mir ein Rätsel.

Umso mehr, als unsere Positionen, wie schon angedeutet, gar nicht so weit auseinanderliegen. So stimme ich ohne weiteres zu, wenn Schmutz das «Ziel jeder Erziehung und Bildung» dahingehend bestimmt, «ein selbstständiges Leben führen und informierte, autonome Entscheidungen treffen zu können. Dies schrittweise zu ermöglichen, ist die Aufgabe und die Kunst derjenigen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.» Im Unterschied zu Schmutz interpretiere ich dieses Ziel aber nicht so, dass das Lernen davon ausgeschlossen ist, sondern schliesse es ausdrücklich in den Bildungsauftrag der Schule ein. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört auch die Fähigkeit, sein Lernen selber gestalten zu können. Dies schrittweise zu ermöglichen, ist eine unverzichtbare, wenn auch anspruchsvolle Aufgabe des schulischen Unterrichts.

Literaturverzeichnis

Ashby, W.R. (21957). An Introduction to Cybernetics. London: Chapman & Hall.

Bischof, N. (1995). Struktur und Bedeutung. Eine Einführung in die Systemtheorie für Psychologen. Bern: Huber.

Günther, G. (32002). Das Bewusstsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik. Baden-Baden: AGIS.

Hattie, J.A.C. (2009). Visible Learning. A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London: Routledge.

Kirschner, P.A., J. Sweller & R.E. Clark (2006). Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching. Educational Psychologist, 41, 75-86.

Maturana, H.R. (1998). Biologie der Realität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Weinert, F.E. (1982). Selbstgesteuertes Lernen als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unterrichts. Unterrichtswissenschaft, 2, 99-110.

 

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SOL – wenn der eine von Elefanten und der andere von Würmern spricht https://condorcet.ch/2020/04/sol-wenn-der-eine-von-elefanten-und-der-andere-von-wuermern-spricht/ https://condorcet.ch/2020/04/sol-wenn-der-eine-von-elefanten-und-der-andere-von-wuermern-spricht/#respond Mon, 06 Apr 2020 08:45:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=4601 Alain Pichard hat den Artikel von Felix Schmutz gelesen und ist zum Schluss gekommen. So geht das nicht. Er wirft dem geschätzten Kollegen ein beabsichtigtes Missverständnis vor, um eigene längst bekannte Positionen zu wiederholen. Aus der Sicht des Autors ein reines Schattenboxen.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): SOL nicht grundsätzlich ablehnen

Beim Lesen des Artikels von Herrn Schmutz fiel mir ein alter Witz ein: Ein Student kam zu seiner mündlichen Biologieabschlussprüfung. Er war ein Spezialist in Sachen Würmer und hoffte zu diesem Thema befragt zu werden. Zu seinem Leidwesen sollte er sich aber zu den Elefanten äussern. So fing er denn an. Der Elefant ist ein grosses grauhäutiges Säugetier mit langen Stosszähnen und einem wurmartigen Vorsatz. Die Würmer teilen sich in zwei Klassen …

Der emer. Berner Professor, Walter Herzog, schrieb in seinem Beitrag (https://condorcet.ch/2020/03/eine-chance-fuer-das-selbstorganisierte-lernen/,25.3.20) deutlich:

«In keinem Fall kann einfach vorausgesetzt werden, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, die Umstände ihres Lernens eigenständig und eigenverantwortlich zu regeln. Genau deshalb ist das selbstorganisierte Lernen nicht in erster Linie eine Unterrichtsmethode, sondern ein Lernziel, das als solches zuerst gelehrt werden muss, bevor es als Methode eingesetzt werden kann.»

Und er betont weiter unten: «Solange das Lernen jedoch in einem institutionellen Kontext wie der Schule stattfindet, ist ein selbstorganisiertes Lernen im umfassenden Sinn weder möglich noch sinnvoll.»

emer. Professor Walter Herzog: SOL ist ein Lernziel.
Photo: Fabü

Er sprach vom «Elefanten». Felix Schmutz übergeht diese Aussagen und schreibt knapp: «Grundsätzlich ist die Idee, «Selbstregulation» müsse ein Lernziel sein, unglücklich.» Danach definiert er, was es seiner Meinung nach mit diesem Begriff auf sich habe. Von da an ist er in seiner Agenda, er ist bei den «Würmern» angekommen.  Es folgt die Aufzählung einer kritischen Chronik  zum Selbstorganisierten Lernen, gewiss mit vielen unbestrittenen Wahrheiten. Aber im Wesentlichen sind es die Argumente der Gegnerschaft des Lehrplans 21, zu denen fast mein ganzes Kollegium und ich mich ja auch zählen.

Das Problem: Er beschäftigt sich fortan nicht mit den Argumenten von Herzog, sondern mit der bekannten Hybris der PH-Wunschprosa-Produktion. Ein klassisches Schattenboxen also.

An unserer Schule fördern wir  SOL seit langem, und das vor Harmos, vor dem Lehrplan 21 und vor der Kompetenzorientierung!

Selbstverständlich gehört die Fähigkeit, Lernstrategien zu entwickeln, Prozesse zu reflektieren, Hilfe zu holen, Zeit richtig einzuteilen, eine eigene Planung zu erstellen und das Vermögen, selbständig ein Projekt durchzuziehen, zu den wesentlichen Lernzielen unseres Unterrichts.

Selbstverständlich gehört die Fähigkeit, Lernstrategien zu entwickeln, Prozesse zu reflektieren, Hilfe zu holen, Zeit richtig einzuteilen, eine eigene Planung zu erstellen und das Vermögen, selbständig ein Projekt durchzuziehen, zu den wesentlichen Lernzielen unseres Unterrichts. Wir haben wöchentlich 3 IVE-Lektionen (Individuelle Vertiefung und Erweiterung), in denen die Schüler frei Hausaufgaben machen, Projekte bearbeiten, Wörter büffeln, Kooperationsformen suchen und vieles mehr. Auch haben wir im 9. Schuljahr ein Gefäss geschaffen, in welchem die SchülerInnen ein selbst gewähltes Projekt selbständig bearbeiten. Wir haben Wahlpflichtbereiche eingeführt und lassen sie auch eigenständig Dossiers bearbeiten.

Felix Schmutz, BL:
Menschliches Lernen unterscheidet sich grundsätzlich von Selbstregulation.

So weit, so gut. Über die Phantasie, man könne so einen Unterricht unseren Schülerinnen ganztägig über längere Zeit überstülpen, wie es weltfremde PH-Propheten predigen und wie es einige übereifrige Schulleiter versuchten, können wir nur lachen. Die Lehrer als Coaches oder Lernberater? Viel Spass. Unser SOL? Vielleicht 10 %, manchmal mehr, manchmal weniger, immer im Auge, die Zusammensetzung der Klassen, ihr Können, ihre Reife und ihr Alter.

Wir brauchen das Können selbstorganisiert zu lernen, gerade auch bei den stärkeren Schülern. Sie besonders benötigen anspruchsvolle Aufgaben, sie müssen der Gefahr der Nivellierung entkommen, ansonsten Unterforderung und Langeweile drohen. Und wenn sie es einigermassen können, entlasten Sie uns Lehrkräfte, damit wir uns gezielt den Schwächeren zuwenden können. Wohlgemerkt: In dosierten Zeitspannen! Und wird dies eingeübt, erhalte ich von Schülerinnen Tagebucheinträge wie diesen:

Heute ist Montag, der Anfang einer neuen Woche. Eine neue Woche, in der ich alles besser machen will. Ich habe mir vorgenommen, das riesige Durcheinander der vorherigen Woche zu minimieren. Mir ist klar, dass diese Situation für alle, sogar für die Lehrer, neu ist, deshalb erwarte ich natürlich nicht die reine Perfektion, dennoch brauche ich mein Leben zumindest ein wenig geordnet. Ich stelle mir, um dieses Problem zu lösen, einen Zeitplan zusammen. Ich weiss jetzt genau, was ich wann machen muss. Heute habe ich vor, mich schon dem Fach zu widmen, welches mir immer am schwersten fällt, nämlich dem Englisch. Überraschenderweise funktioniert dies ohne grössere Schwierigkeiten. Nach diesem Erfolgserlebnis gönne ich mir den ganzen Nachmittag frei.

Schmutz ist ein grossartiger Autor

Felix Schmutz hat uns schon mit zahlreichen hervorragenden Analysen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik, zu Passepartout und Chancengerechtigkeit beglückt.  Vielleicht ist die Passage, in der sich Herzog über das prüfungsbezogene Bulimie-Lernen auslässt, wirklich diskutabel. Hier hätte ein interessanter Diskurs über den Nutzen intensiver Prüfungsvorbereitungen einsetzen können. Aber dies verpasst Felix Schmutz, weil er auf einer ganz anderen Ebene argumentiert. Sinnigerweise ist es die Ebene, auf der er Professor Herzog wähnt. Er wirft dem Pragmatiker Herzog ideologisches Denken vor. Dieser Vorwurf missachtet die grossen Verdienste, die dieser Mann im Kampf gegen Vermessungswahn, Kompetenzideologie und Demokratieabbau erbracht hat.

Alain Pichard

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Schreiben nach Gehöa: „Kinder werden systematisch in die Irre geführt“ https://condorcet.ch/2019/07/schreiben-nach-gehoea-kinder-werden-systematisch-in-die-irre-gefuehrt/ https://condorcet.ch/2019/07/schreiben-nach-gehoea-kinder-werden-systematisch-in-die-irre-gefuehrt/#respond Tue, 23 Jul 2019 13:09:53 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1657

Karlheinz Wagner und Michael Hesse, Journalisten des Kölner Stadtanzeigers, führten ein Gespräch mit Prof. Una Röhr-Sendlmeier (Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Psychologie). Frau Röhr-Sendlmeier untersuchte zusammen mit Tobias Kuhl die Auswirkungen der Lernmethodik "Schreiben durch Gehör". Die Studie zum Grundschulunterricht war auf vier Jahre angelegt. Die brisanten Ergebnisse sorgten für grosses Aufsehen. Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier das Gespräch, das zuerst im Kölner Stadtanzeiger erschienen ist.

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Es spricht für die Brisanz des Themas, wenn sich an einem lauen Frühsommerabend 150 oder mehr Menschen – Pädagogen, Gewerkschafter, Eltern – zu einem Vortrag in die Aula des Irmgardis- Gymnasiums von Köln-Bayenthal hocken. „Schraim nach Gehöa“ hatten Prof. Una Röhr- Sendlmeier von der Uni Bonn und ihr Doktorand Tobias Kuhl den Abend orthografisch angemessen keck benannt, denn um „Wege und Irrwege  im Rechtschreibunterricht“ sollte es ja gehen. Die Wissenschaftler stellten ihre Studie vor; sie hatten untersucht, nach welchen Methoden und mit welchem Erfolg Grundschüler in NRW Schreiben und Lesen lernen.

Prof. Una Röhr-Sendlmeier

Im Auditorium herrschte eine Form von zorniger Ratlosigkeit

Die Ergebnisse– die Mehrzahl der Kinder lernt Orthografie nicht oder nicht hinreichend gut – hatten die Zuhörer geahnt; dennoch herrschte am Ende im Auditorium eine Form von zorniger Ratlosigkeit: Warum werden Schüler nach Methoden unterrichtet, die im Ergebnis nicht funktionieren? Wir haben mit Frau Professor Una Röhr-Sendlmeier gesprochen.

Frau Röhr-Sendlmeier, eine Frage zum Beginn der Ferien: Was wird sich im nächsten Schuljahr ändern – immerhin hat die NRW-Landesregirung eine Neuausrichtung zum Thema Rechtschreib-Unterricht angeordnet?

Wenn – wie die Ministerin sagt – Fehler von Anfang an korrigiert werden sollen, wenn die Kinder einen verbindlichen Mindestwortschatz erwerben und wenn die Regeln der Schriftsprache vermittelt werden sollen – dann sind das drei wichtige Säulen, die man nur begrüßen kann. Wenn aber gesagt wird, dass der Ansatz „Lesen durch Schreiben“ weiterhin im Anfangsunterricht möglich sein soll, dann ist Vorsicht geboten. Bei systematischem Unterricht kann man Anlauttabellen als Zusatzmaterial anbieten. Man darf die Kinder aber nicht in dem Glauben lassen, sie könnten sich die Rechtschreibung über die Anlauttabelle selbst erschließen. Und es muss freundlich korrigiert werden von Personen, die die Orthografie beherrschen, damit sich die Kinder nichts Falsches einprägen.

Wollen Sie die unterschiedlichen Methoden noch einmal skizzieren?

Wir haben drei didaktische Ansätze untersucht.

  1. Fibel-Unterricht: Dabei spielen die Lehrer als Wissensvermittler eine zentrale Rolle, es wird geübt und das Geschriebene Der Unterricht ist strukturiert nach den Prinzipien der Schriftsprache – es geht vom Einfachen zum Schwierigen; vom Häufigen zum Seltenen.
  2. Rechtschreib-Werkstatt: Es gibt Arbeitsblätter und Kärtchen für Abschreibübungen, die die Kinder selbst auswählen. Der Lehrer hat eine beratende Rolle, er korrigiert nicht; die Kinder sollen sich selbst korrigieren und mit dem Material selber das Schreiben beibringen. Gelernt wird unter anderem mit der Anlaut-Tabelle.
  3. Lesen durch Schreiben (oder: Schreiben nach Gehör): Der Lehrer gibt Anregungen zum Schreiben mit Hilfe der Anlauttabelle. Es soll motiviert, nicht korrigiert werden; die Kinder legen Stoff und Lerntempo selbst fest – sie managen ihren Orthografie-Unterricht selbst.
Bild: Von Wartburg

Zu diesem Themenbereich haben Sie eine Studie veranlasst. Was war der Grund?

Die Rektorin einer Grundschule aus NRW ist auf mich zugekommen mit der Beobachtung, dass ihre Schüler am Ende des 4. Schuljahres nicht korrekt schreiben können. Und sie fragte, welche Didaktik sie an ihrer Schule einsetzen solle. Ohne eine breitangelegte und methodisch sauber durchgeführte Studie konnte ich keine Antwort geben.

Wie sind Sie vorgegangen?

Begonnen haben wir in der Schule, deren Rektorin mich damals angesprochen hatte. Es sind dann elf weitere Schulen hinzugekommen – insgesamt haben wir über drei Jahre hinweg bei denselben 284 Schülern von Schulbeginn an die Entwicklung der Rechtschreibung nach einem gesicherten Verfahren gemessen: nach der Einschulung und dann jedes schulische Halbjahr – insgesamt also fünfmal. Das ist eine sogenannte Längsschnittstudie. Zusätzlich haben wir von 2800 Kindern der Klassen eins bis vier jeweils zum Ende der Schulhalbjahre die Rechtschreibkenntnisse erfasst.

Wie waren die Ergebnisse?

In beiden Teilstudien waren die Ergebnisse der Kinder mit Fibel-Unterricht signifikant besser als bei den Kindern, die nach Lesen durch Schreiben oder Rechtschreibwerkstatt gelernt hatten. In der Längsschnittstudie konnten wir auch die Vorkenntnisse der Schüler erfassen– denn es ist wichtig, ob Kinder zum Beispiel schon Buchstaben kennen. Diese Vorkenntnisse wurden in der Auswertung berücksichtigt und nur die Lernzuwächse der Schüler verglichen. Das Ergebnis:

  1. Kinder, die  strukturiert nach einer Fibel lernen, erreichen in ihren Rechtschreibleistungen mindestens ein durchschnittliches bis überdurchschnittliches Niveau; nur wenige Kinder lernen nicht gut schreiben, aber auch das auf einem relativ moderaten Niveau.
  2. Kinder, die nach einer der frei- en Methoden lernen, erreichen vielfach nicht ein mittleres Niveau, sondern schreiben unterdurchschnittlich. Es gibt allerdings auch bei den freien Methoden Kinder, die gute und sehr gute Leistungen zeigen.

Man kann fragen, ob das auch an der Unterstützung liegt, die diese Schüler vom Elternhaus erfahren. Die Kinder, die Schulen mit der „Lesen durch Schreiben“-Methode besuchten, hatten signifikant höhere Vorkenntnisse. Dies ist ein Hinweis auf bildungsnähere Familien. Recht neu ist zudem das Phänomen, dass Schüler in großer Zahl in Nachhilfe-Institute gehen, um die Orthografie zu lernen, damit Rechtschreibdefizite, die durch die freien Methoden entstehen, ausgeglichen werden.

Die Kinder werden systematisch in die Irre geführt. Man soll dadurch, dass man viel schreibt, lesen lernen. Das ist Unsinn, denn die Prozesse sind lernpsychologisch sehr verschieden.

Hat Sie das Ergebnis überrascht?

Nun, das Lernen mit Anlaut-Tabellen suggeriert, man könne sich mit einer solchen Abbildung sämtliche Realisierungen von Wörtern erschließen. Dabei enthalten die Tabellen viel zu starke Vereinfachungen. Der Buchstabe E ist etwa illustriert mit einem Esel – da entspricht der Laut tatsächlich dem Namen des Buchstabens. Aber es ist auch eine Ente abgebildet, und das E von Ente ist ein anderer Laut als das E des Esels. Oder: Für das I wird ein Igel gezeigt. Das lange I wird aber in 72 Prozent der Fälle mit „ie“ geschrieben. Die Kinder werden systematisch in die Irre geführt. Man soll da- durch, dass man viel schreibt, lesen lernen. Das ist Unsinn, denn die Prozesse sind lernpsychologisch sehr verschieden. Es wird den Kindern gesagt: Schreib, wie du sprichst. Und weil kein Kind genau weiß, wie es spricht, wurde das abgewandelt: Schreib auf, was du hörst. Die Kinder sollen die Laute, die sie beim Vorsprechen hören, in der Anlauttabelle suchen und die entsprechenden Buchstaben aufschreiben.

Aber Deutsch wird eigentlich nicht geschrieben, wie man es spricht…

Es gibt nur relativ wenige Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen Lauten und Buchstaben. Wir haben Buchstaben, die unterschiedlichen Lauten zugeordnet werden– wie bei Ente und Esel – und wir haben Laute, die verschiedenen Buchstaben zugeordnet sind. Ein gutes Beispiel ist der Laut K, den wir in folgenden Schreibweisen finden: Krokodil, Computer, Qualle, Stück, Fuchs, Weg, Akku, Macchiato … Es ist einfach falsch, wenn man den Kindern suggeriert: Ihr könnt euch die Schriftsprache durch Hören und richtiges Sprechen selbst erschließen.

In Ihrem Vortrag haben Sie erläutert, dass sich eine Alphabetschrift nicht von alleine entwickelt; Schriftsprache sei eine kulturelle Errungenschaft, nicht das Ergebnis eines biologischen Prozesses…

Das gilt für die Schriftsprache, ja. Die mündliche Sprachfähigkeit ist uns angeboren und biologisch verankert– Kinder können schon vor der Geburt die sprachlichen Laute ihrer natürlichen Umgebung unterscheiden von anderen Geräuschen – bald nach der Geburt versucht das Kind, die sprachlichen Laute seiner Umgebung zu imitieren. Aber die Schriftsprache ist ein ganz anderer Fall; sie ist eine besondere kulturelle Errungenschaft; es gibt viele Kulturen, die gar keine Schrift entwickelt haben, oder Bilderschriften, die keine Hinweise auf die Lautung enthalten. Die Idee, die enorme Abstraktionsleistung, Einzellaute mit Symbolen in Beziehung zu setzen, ist gar nicht sehr alt; erste Zeugnisse deuten auf ein Entstehung etwa 2000 v. Chr. hin; sie entstanden zunächst parallel zu den ägyptischen Hieroglyphen.

Das war eine ideologische Vorgabe, die in den damaligen Zeitgeist passte.

Wie konnten sich diese freien Didaktik-Modelle denn gegen den strukturierten Unterricht so flächendeckend durchsetzen?

Nun, der Zugang über eine Anlaut-Tabelle wurde als neue Idee in den 80er Jahren propagiert – von dem Schweizer Jürgen Reichen. Er wollte alles Bürgerliche abschaffen und eine völlig freie Entfaltung auch für Kinder verwirklichen. Systematische Vermittlung von Strukturen und Korrekturen – das sei nicht gut, befand er. Wörtlich: „Je weniger ein Kind belehrt wird, umso mehr lernt es.“ Das war eine ideologische Vorgabe, die in den damaligen Zeitgeist passte.

Bild: AdobeStock

Wenn Sie den gesellschaftlichen Zeitgeist ansprechen – ist die Debatt auch eine politische Auseinandersetzung zwischen einer eher konservativen Auffassung – die Fibel ist ja ein klassisches Bildungswerkzeug – und einer eher linken Methodik?

Ich bin Wissenschaftlerin und möchte Fragen objektiv beantworten. Die nüchterne Frage nach einer hilfreichen Didaktik ist zu einer ideologischen Debatte auf gesellschaftlicher Ebene geworden, leider. Es wird dabei ausgeblendet, dass der moderne Fibel-Unterricht nur wenig zu tun hat mit den traditionellen Fibeln, wo es häufig um langweilige Dinge ging und es keine Differenzierungsmöglichkeiten gab zwischen denen, die etwas langsamer lernen, und denen, die schneller vorankommen. Die Debatte selbst beinhaltet somit eine Schieflage. Es sollte ausschließlich um das Wohl der Kinder gehen und nicht um politische Glaubenssätze.

Wie geht die Politik mit Ihren Erkenntnissen um? NRW hat ja offensichtlich reagiert….

Als wir die Ergebnisse hatten – etwa vor einem Jahr– haben wir sie auf einer Tagung in Dortmund vorgestellt und sie Frau Ministerin Gebauer in Kurzform regelrecht in die Hand gedrückt. In der Folge gab es weitere Fachkonferenzen, und es gab Presseberichte. Danach erreichte uns die Aufforderung, dass man sich im Ministerium doch mal treffen solle. Herr Kuhl hat die Studie vorgestellt, ich habe den Hintergrund dargelegt – es wurde sehr engagiert diskutiert. Eine Woche später hat die Ministerin die veränderten Vorgaben ausgegeben: Mindestwortschatz, Korrekturen und Einführung in die Struktur der deutschen Orthografie.

Gab es weitere Reaktionen?

Wir haben viele Einladungen erhalten, unsere Studie vorzustellen. Und in Brandenburg, Schleswig-Holstein und zwei Schweizer Kantonen darf Lesen durch Schreiben künftig nicht mehr als eigene Didaktik verwendet werden. In Hamburg und Baden- Württemberg gibt es schon länger solche Verbote. Insgesamt haben wir durchaus Gehör gefunden bei der Politik. Und die Zahl der Einladungen und Anfragen nimmt nicht ab – die Unzufriedenheit ist offenbar groß mit dem Lese-Rechtschreib-Unterricht unserer Kinder.

Das Gespräch führten Karlheinz Wagner und Michael Hesse

Das Gespräch wurde zuerst im Kölner Stadt-Anzeiger Samstag/Sonntag, 13./14. Juli 2019 veröffentlicht

 

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