Medienpädagogik - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 19 Oct 2023 18:38:30 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Medienpädagogik - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Schulische Digitalisierung bedarf der Reflexion https://condorcet.ch/2023/10/schulische-digitalisierung-bedarf-der-reflexion/ https://condorcet.ch/2023/10/schulische-digitalisierung-bedarf-der-reflexion/#comments Tue, 17 Oct 2023 09:07:07 +0000 https://condorcet.ch/?p=15108

Der Präsident des LVB (Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland) mahnt in seinem Editorial der Verbandszeitschrift «lvb inform» zu einem vorsichtigeren Vorgehen in Sachen Digitalisierung der Schulstuben. Er drängt auf "evidenzbasierte Nutzungsregeln" und fordert die Bildungsbehörden sowie die Lehrkräfte auf, den Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» der UNESCO, der vor den negativen Folgen einer unreflektierten digitalen Transformation warnt, endlich ernst zu nehmen.

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Liebe Leserin, lieber Leser

Als unser ICT-begeisterter Chemielehrer Mitte der 80er Jahre behauptete, in Zukunft würde jeder Haushalt über einen Personal Computer verfügen, lachten wir über seine verrückte Prophezeiung. Und tatsächlich sollte sich unser damaliger IT-Turbo gewaltig geirrt haben: Die meisten Haushalte verfügen heutzutage nämlich nicht über einen Rechner, sondern über etliche digitale Endgeräte in Form von PCs, Laptops, Tablets und Smartphones.

Bildschirme, so weit das Auge reicht – buchstäblich!

Mit der basellandschaftlichen ICT-Schuloffensive wurde die Bildschirm-Armada weiter ausgebaut. An den Sekundarschulen gehören persönliche Tablets bereits zum Standard. Und die Gemeinden sind aufgefordert, auch Primarschulkinder mit iPads – also überdimensionierten Smartphones auszurüsten. Um die Ähnlichkeit der beiden Schiefertafeln zu kaschieren, werden die Tablets liebevoll «digitale Lernbegleiter» genannt. Härzig!

Philipp Loretz, Mitglied der Condorcet-Redaktion, Sekundarlehrer, BL und Präsident LVB. Mitglied des Bildungsrats des Kt. Baselland: Die eindeutigen wissenschaftlichen Belege nicht länger ignorieren
Bild: fabü

Weniger härzig sind jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse, die dem übermässigen Einsatz digitaler Technologien ein bedenkliches Zeugnis ausstellen. Unter Berufung auf 89 internationale Studien warnt die UNESCO in ihrem 435 Seiten starken Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» [1] vor den Folgen einer unreflektierten digitalen Transformation. Das umfangreiche Datenmaterial weise auf einen negativen Zusammenhang zwischen intensiver ICT-Nutzung und den Leistungen der Schüler hin. Das renommierte Karolinska Institut hat die schwedische Bildungsbehörde unlängst aufgefordert, die eindeutigen wissenschaftlichen Belege nicht länger zu ignorieren. Der Einsatz digitaler Werkzeuge führe erwiesenermassen u.a. zu mehr Ablenkung, schwäche die Konzentrationsfähigkeit, behindere das Arbeitsgedächtnis und verschlechtere damit die Lernleistung markant. Pikant: Ausgerechnet Kinder mit besonderen Bedürfnissen wie z.B. ADHS treffe die Digitalisierung besonders hart. [2]

Darüber hinaus wirke sich auch das Lesen und Schreiben am Bildschirm negativ auf das Leseverständnis aus. «Der negative Effekt beträgt 36 Prozent, was etwa zwei Jahren Leseentwicklung in der Mittelstufe entspricht.» Ähnliches hatte 2019 schon die Stavanger-Erklärung ans Licht gebracht: Das Lesen von gedruckten Texten ist effektiver, vor allem wenn es darum geht, Texten Informationen bzw. Zusammenhänge zu entnehmen und sie wiederzugeben.

Zudem verweisen die schwedischen Psychologen und Neurowissenschaftler auf eine weitere Studie, die «einen positiven Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit (z.B. Depression, Angstzustände, […] geringes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Schlafprobleme) und der körperlichen Gesundheit (z.B. Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, schlechtere motorische Fähigkeiten)» beschreibt.

Sechs Jahre später sind die Baselbieter Schulen (inkl. Sekundarstufe II) noch immer meilenweit entfernt von gemeinsamen, evidenzbasierten Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Lernenden orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.

Bereits 2017 mahnte der LVB, dass ein sinnvoll ausgestalteter digitaler Wandel nur gelingen kann, wenn die Elefanten im Raum – die unübersehbaren schwierigen Aspekte, die am liebsten niemand zur Sprache bringen möchte – ernst genommen werden. Sechs Jahre später sind die Baselbieter Schulen (inkl. Sekundarstufe II) noch immer meilenweit entfernt von gemeinsamen, evidenzbasierten Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Lernenden orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.

Die Mindeststandards der Bildung müssen erreicht werden.

Angesichts der besorgniserregenden Faktenlage sind verbindliche Leitlinien dringend erforderlich. Die geistige und körperliche Unversehrtheit gehört ins Zentrum pädagogischer Medienkonzepte. Der Schutz der Privatsphäre muss gewährleistet sein. Es ist z.B. nicht einzusehen, warum Minderjährige nach Schulschluss und am Wochenende für Lehrpersonen erreichbar sein sollen – und umgekehrt. Weder mein Zahnarzt noch mein Gärtner stehen mir nach Ladenschluss zur Verfügung.

Der Eingriff der Schule in das digitale Erziehungskonzept der Eltern ist zu unterlassen. Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind verbindlich zu klären. Der Einsatz von iPads in der Basis- und Unterstufe ist zu hinterfragen. Kurz: Die Schule ist aufgefordert, ihre pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und den negativen Folgen der grassierenden digitalen Vereinnahmung der Kinder und Jugendlichen entschieden entgegenzutreten.

Philipp Loretz

Präsident LVB

P.S.: Um mich vom Vorwurf der ICT-Feindlichkeit zu entlasten, noch dies: Das Magazin [3], das Sie in den Händen halten, habe ich für Sie mit InDesign gestaltet – am Bildschirm, mit Maus, Tastatur und Timer

 

Quellen:

[1] Monitoring Report «Technology in education: A tool on whose terms?» der UNESCO

[2] Stellungnahme des Karolinska Instituts

[3] lvb inform, Septemberausgabe 2023

 

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Die Welt ist (k)eine Scheibe, Pixel sind kein Pigment oder: Über die Rückbesinnung auf die sinnliche Welt (aisthesis) zur Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit in der Realwelt https://condorcet.ch/2022/10/die-welt-ist-keine-scheibe-pixel-sind-kein-pigment-oder-ueber-die-rueckbesinnung-auf-die-sinnliche-welt-aisthesis-zur-rueckgewinnung-der-handlungsfaehigkeit-in-der-realwelt/ https://condorcet.ch/2022/10/die-welt-ist-keine-scheibe-pixel-sind-kein-pigment-oder-ueber-die-rueckbesinnung-auf-die-sinnliche-welt-aisthesis-zur-rueckgewinnung-der-handlungsfaehigkeit-in-der-realwelt/#respond Sat, 08 Oct 2022 14:04:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=11808

„Medien strukturieren unsere Wirklichkeitserfahrung.“[1] Von der Schrift über Gutenbergs Buchdruck bis zu Web&App verändern (anfangs immer) „neue“ Medien kommunikative und soziale Strukturen. Aktuell sind für viele Menschen mobile Endgeräte, Web und Apps das „Fenster zur Welt“ – allerdings um den Preis des permanenten Rückkanals für personalisierte Daten[2]. Aus einer technischen Infrastruktur zur Datenübertragung, Kommunikation und Kriegsführung (!) wird ein Kontroll- und Steuerungsinstrument für die Zivilgesellschaft.[3] Weder der „unbeschränkte Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild“ noch die „orwellianische Staatsüberwachung“ wie in China[4] sind eine Option für Europa, schon gar nicht für Bildungseinrichtungen. Doch der dominante, vor allem manipulative Einfluss medialer, meist audiovisueller Kommunikation per Web ist als Teil heutiger Lebenswirklichkeit ein notwendiges Thema im Unterricht. Dabei sind Gestaltungsfächer ideal dafür geeignet, übergreifende Bildungsziele wie (Medien-)Mündigkeit, Reflexionsvermögen und Selbstverantwortung zu vermitteln, weil durch die Analyse medialer Artefakte und eigene Gestaltungspraxis der Wechsel von einer passiven Konsumhaltung in den aktiven, diskursiven und emanzipierenden Gestaltungsmodus gelingt.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau

Fischer oder Fisch im Netz?

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari wurde in einem Interview zum Jahreswechsel 2021/22 gefragt, warum er kein Smartphone habe. Die Antwort des Wissenschaftlers, der sich mit den Folgen der Algorithmisierung und Datafizierung menschlichen Verhaltens und den Folgen für Individuum wie Sozialgemeinschaft befasst, ist eindeutig. Er sei nicht naiv und wisse, dass er in einer zunehmend smarten Umwelt[5] auch ohne Smartphone verfolgt werden könne. Es gehe um mehr.

“Der Hauptpunkt ist, Ablenkungen fernzuhalten. Ich weiß, wie schwierig es ist, den Geist zu kontrollieren, konzentriert zu bleiben. Und außerdem: Die Menschen auf der anderen Seite des Smartphones – die klügsten Menschen der Welt – haben in den vergangenen 20 Jahren gelernt, wie man das menschliche Gehirn durch das Smartphone hacken kann. Denen bin ich nicht gewachsen. Wenn ich gegen die antreten muss, werden sie gewinnen. Also gebe ich ihnen nicht meinen Bildschirm, gewähre ihnen keinen direkten Zugang zu meinem Gehirn.”[6]

Der Überwachungskapitalismus ist ein Geschäftsmodell, bei dem Nutzerinnen und Nutzer für angeblich kostenlose Dienste mit ihren Daten zahlen.

Das Einstiegsalter sinkt kontinuierlich.

Das ist eine dystopische, zugleich realistische Feststellung, die von ehemaligen Managern aus dem Silicon Valley von Tristan Harris bis zuletzt Francis Haugen und den Facebook-Files immer wieder bestätigt werden.[7] Die Anbieter kommerzieller digitaler Kanäle arbeiten mit allen erdenklichen Psychotricks, um Nutzerinnen und Nutzer möglichst lang an Display oder Touchscreen zu halten. Nur dann kann personalisierte Werbung geschaltet, das Nutzerverhalten für weitere Einflussnahme ausgewertet und damit Geld verdient werden. Die Mechanismen, die dieses Suchtverhalten generiert, sind ebenso wenig transparent wie die Kriterien, nach denen Inhalte selektiert und angezeigt werden. Die amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff nennt diese Strukturen Zeitalter des Überwachungskapitalismus.[8] Es ist ein Geschäftsmodell, bei dem Nutzerinnen und Nutzer für angeblich kostenlose Dienste mit ihren Daten zahlen. Die Kunden der Big Five der IT des Westens (Alphabet/Google, Amazon, Apple, Meta/Facebook und Microsoft) sind Werbetreibende und politische Parteien, denen ein personalisiertes und dadurch möglichst verlustfreies Schalten von Werbung versprochen wird.[9]

Schlafwandelnd in die Unmündigkeit

Das ist nicht neu. Die Einflussnahme auf Menschen ist das generelle Ziel von Medien, ob Erbauungsschrift, Propagandaplakat oder Lehrfilm. Nur adressiert man heute keine anonymen Zielgruppen, die anhand statistischer Parameter wie Alter, Bildungs- oder Sozialstatus klassifiziert werden, sondern einzelne Personen, deren Verhältnisse, Persönlichkeit, Beruf, Verhalten und Vorlieben man im Detail kennt. Das ist in den USA mittlerweile so perfektioniert, dass sogar Personen im gleichen Haushalt unterschiedliche Wahl- oder Werbespots angezeigt bekommen, nachdem sie an ihren Endgeräten identifiziert wurden. „Wir schlafwandeln in die Überwachung“ resümiert der emeritierte Direktor des Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Gerd Gigerenzer[10] zu dadurch möglichen Social Scoring-Systemen. Wir werden durch “passgenaue Angebote“ sehr gut unterhalten, zugleich medial sediert und infantilisiert, da immer öfter Algorithmen bestimmen, was der oder die Einzelne sieht, liest und hört. Das greift massiv in die Selbstbestimmung des Menschen ein, weshalb der Bundespräsident bereits 2019 auf dem Kirchentag in Dortmund fragte:

“Was bleibt vom Menschen, wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen? Und wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn jede Faser von Individualität – längst nicht mehr nur jede Abweichung von der Norm – als Datenpunkt erfasst und in neuen Zusammenhängen verarbeitet wird – bei den einen vom Staat, bei den anderen von privaten Datenriesen?”[11]

Mittlerweile besitzen nahezu 100 Prozent der Kinder und Jugendlichen ein eigenes Handy oder Smartphone.

Die „Rückgewinnung des politischen Raumes, gegen die Verrohung und Verkürzung der Sprache und der Debatten, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley sei die drängendste Aufgabe“ so Steinmeier. Rückgewinnung bedeutet, dass der politische Raum bereits verloren ist.[12] Für die pädagogische Arbeit ist die Auseinandersetzung mit Strukturen, Mechanismen und Angeboten der Datenökonomie zwingend notwendig, weil mittlerweile nahezu 100 Prozent der Kinder und Jugendlichen ein eigenes Handy oder Smartphone besitzen und selbst Grundschulkindern zumindest stundenweise an Displays spielen oder im Netz surfen.[13] Zudem haben sich die Bildschirmzeiten in der Pandemie deutlich verlängert[14], das Einstiegsalter sinkt kontinuierlich. Übermäßige Mediennutzung führt zu körperlichen und psychischen Fehlverhalten auch im Schulalltag (aggressives Sozialverhalten, Depressionen, Konzentrationsstörungen, Suizidgefährdung, Übergewicht, u.a.[15])

Metrik statt Pädagogik

Überwachungspädagogik: eine Kombination aus digitalen Endgeräten, Netzdiensten und Learning Analytics.

Die am häufigsten konsumierten Dienste sind Videoplattformen, Messenger-Dienste und Computer-Spiele. Diese Anwendungen prägen die Mediennutzung junger Menschen und ihre Anspruchshaltung, etwa die Erwartung sofortiger Rückmeldung des Systems bei korrekten Eingaben (instant gratification[16]). Geprägt werden ebenso Ästhetik, Vorstellungswelten und Wünsche. Die gleichen Mechanismen und digitale Infrastrukturen, die aus Konsumgesellschaften einen Überwachungskapitalismus machen (Netzdienste mit Rückkanal, um Nutzerprofile zu generieren und zu erwünschtem Verhalten zu führen), führen in Schulen zur Überwachungspädagogik: einer Kombination aus digitalen Endgeräten, Netzdiensten und Learning Analytics (Burchard, Lankau 2020). Der Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (StäWiKo), der Psychologe Olaf Keller, erklärt z.B. im Interview, dass in Kiel eine Software entwickelt werde, die Deutschaufsätze korrigieren könne. „Der Computer wertet automatisch aus, gibt Rückmeldung an Schüler und auch an die Lehrer, denen der Aufsatz mit vorgeschlagenen Lernhilfen zugeleitet wird.[17] Eine Deutschlehrerin oder ein Deutschlehrer wäre entsetzt, wenn alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Aufsätze schrieben. Das wäre Standardisierung des Denkens, wo Phantasie und Gestaltungswille gefordert sind. Es zeigt exemplarisch den Gegensatz zwischen empirischer Bildungsforschung von (meist) Psychologen, die möglichst normierte Lernsettings generieren und automatisiert messen möchte, und pädagogischer Arbeit im Unterricht, die z.B. im Deutsch- und Kunstunterricht eine Vielfalt an unterschiedlichen Ergebnissen als erfolgreiche pädagogische Arbeit betrachtet.

Hier kann (und muss) Gestaltungsunterricht der Gegenpol zur Normierung sein, indem Pluralität und Ergebnisoffenheit für entstehende Arbeiten als Qualität vermittelt wird. Das gilt nicht nur für den Kunstunterricht, sondern gleichermaßen für die Interpretation von Texten oder die Entwicklung von Beurteilungskriterien für Musik- oder Tanz usw. So, wie sich die Sinne nur entwickeln können, wenn sie Unterschiedliches sehen, hören, riechen, schmecken, so kann sich das auch Denken, Bewerten und Urteilen nur entwickeln, wen man sich mit Unterschiedlichem, vielleicht sogar Gegensätzlichem, auseinandersetzt, dafür Begriffe findet und den Diskurs sucht. Die Schulung der Sinne ist zugleich eine Schulung des Differenzierungsvermögen an sich und kann, wenn sich Wortschatz und Reflexionsvermögen begleitend entwickeln, auf Medien oder andere Werke übertragen werden.

Konstruktiver Widerstand

Hier setzt der Kunstunterricht an, der, wie die klassischen Print- und audiovisuellen Medien, das ganze Repertoire an Medienbausteinen (Text, Grafik, Bilder, Audio, Video) nutzt. Strukturen und Mechanismen medialer Kommunikation werden durch die Analyse vorhandener und die Gestaltung eigener Projekte transparent gemacht und von der Ideenfindung bis zur Produktion als gestaltbar erlebt. Dabei sind analoge wie digitale Techniken Werkzeug, Gestaltungsmittel und Zweck. Im Kunstunterricht werden eigene Bild- und Vorstellungswelten mit analogen (und später digitalen) Techniken entwickelt. Der kreative Prozess selbst ist an das Individuum und/oder die Gruppe gebunden. Es wird über Ideen und Entwürfe diskutiert und reflektiert. Die eigene konzeptionelle und praktische Arbeit sensibilisiert für Struktur, Funktion und Botschaften medialer Welten und ist ein emanzipierender Schritt in der Medienrezeption. Gestalten ist eine Form des Erkennens durch das eigene Tun.[18]

Dabei wechselt man bei der Nutzung von Computern zwangsläufig in den „Maschinenmodus“, das heißt, man folgt der Logik von Datenverarbeitungssystemen, sobald man den Rechner einschaltet, Software startet, Werkzeugeinstellungen konfiguriert etc. Das Zeichnen mit einem dünnen oder dicken Pinsel unterscheidet sich am Tablet nur in der eingestellten Pixelzahl für die Werkzeugspitze, nicht in der Größe oder dem Gewicht des Pinsels oder in den Eigenheiten beim Pinselschwung. Pixel sind kein Pigment, haben weder eine physische Konsistenz noch Materialeigenschaften wie Kreide, Gouache oder Öl. Auch das Gefühl für Formate geht verloren, da Briefmarke und Großflächenplakat am gleichen Screen oder Tablet bearbeitet und nach Belieben groß oder klein skaliert werden können. Im Agenturalltag druckt man daher z.B. alle Printpublikationen zur Beurteilung in Originalgröße aus.

Bildbearbeitungs- oder Grafik-Software sind leistungsfähige Werkzeuge für die Produktion. Wer das Handwerk des Gestaltens beherrscht, kann auch mit digitalen Werkzeugen eigene Ideen und Vorstellungen umsetzen, aber es hat eine stark technische Determinante. Wie bei Musikinstrumenten gilt: Man muss damit spielen können, um zu musizieren. Kreativ ist nicht nur der Mensch vor dem Bildschirm. Wer Vorstellungskraft, Phantasie, Spielfreude und Experimentiergeist besitzt, kann analoge wie digitale Werkzeuge und Techniken nutzen, um eigene Ideen zu realisieren. Je höher die Vorbildung im manuellen Gestalten, je ausgeprägter das eigene sinnliche Sensorium, desto eigenständiger setzt man analoge wie digitale Werkzeuge ein. Zugleich führt die eigene gestalterische Arbeit idealiter zu einem Verständnis für Medienwirkungsmechanismen und letztlich Medienmündigkeit.[19]

Perspektiven für eine (Kunst-)Pädagogik nach der Pandemie

Gestaltungsfächer bilden den notwendigen Gegenpol zu den stark utilitaristischen Zielen der empirischen Bildungsforschung.

Die Perspektiven für eine (Kunst)Pädagogik nach der Pandemie ergeben sich somit aus spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die ästhetische Erziehung und musische Bildung vermitteln. Gestaltungsfächer (Kunst, Musik, Theater, Tanz) sind Schulfächer, die besonders stark von Gemeinschaft und Kooperation, von Kommunikation, Kreativität und einer konstruktiven Fehlerkultur leben. Dadurch vermitteln sie Lebens- und Sozialkompetenzen, die in einer komplexen und technisierten Lebenswelt benötigt werden.[20] Gestaltungsfächer bilden zugleich den notwendigen Gegenpol zu den stark utilitaristischen Zielen der empirischen Bildungsforschung, die seit Mitte der 1990er Jahre die Bildungspolitik dominiert und das Lernen vermessen und methodisch systematisieren will: Metrik statt Pädagogik mit dem Ziel der Prognostik zur Lernsteuerung und Prozessoptimierung. Kunstunterricht entzieht sich der Standardisierung und Normierung von Unterricht bereits vom Prinzip her. Der Beruf der Kunstpädagogin bzw. des Kunstpädagogen ist laut Job-Futuromat des IAB zu 0 Prozent (!) automatisierbar[21] und verhindert durch ergebnisoffene Prozesse die Normierung. Weder das Unterrichten noch das Gestalten können digital substituiert und automatisiert werden. Die musisch-ästhetische Erziehung und Bildung stärkt so das Individuum in seiner Eigenart wie die demokratische Gemeinschaften als ein Miteinader in Vielfalt.

Technisch gibt es für alle Unterrichtszwecke, nicht nur für den Kunstunterricht, jede benötigte Software, die sich lokal im Netzwerk und/oder auf Schul-Laptops installieren lässt.[22] Das Akronym für lizenzfreie Software (an Schulen sind Kosten immer ein Argument) heißt „FOSS“: Free and Open Source Software. „Open Source“ bedeutet, dass der Quellcode zugänglich ist (open source) und man nachlesen kann, was die Software genau macht, welche Daten gespeichert und  an wen sie gesendet werden. Das ist bei herstellergebundener (proprietärer) Software nicht möglich.[23]

Nutzerdaten sind zu einer eigenen Währung geworden, mit der man handeln oder nach entsprechenden Hacks Unternehmen oder Individuen erpressen kann.

Entscheidend ist daher ein an sich einfacher, wenn auch radikaler Schnitt: Schulen gehen offline und arbeiten nur im lokalen Intranet (Edge-Computing). Es gibt keinen Rückkanal für Schülerdaten ins Netz, da alle Rechner in der Schule über einen eigenen Server (vor Ort oder beim Provider) verbunden sind und alle Daten auf diesem Server bzw. einem Bildungsserver des Bundeslandes liegen, auf den über eine verschlüsselte Verbindung (Virtual Private Network; VPN) zugegriffen wird kann. Für eventuell notwendige Recherchen im Internet stehen separate Rechner bereit, mit denen man, durch eine Firewall und White List geschützt, nur vorab definierte Onlineadressen aufrufen kann. Was zunächst seltsam klingt – geschlossene und dadurch geschützte digitale Räume, auf die nur die beteiligten Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte Zugriff haben und in denen sie arbeiten können, ohne dass Daten abfließen – ist die notwendige Gegenwehr und Sicherheitsinfrastruktur in einer immer stärker vernetzten Welt. Nutzerdaten sind zu einer eigenen Währung geworden, mit der man handeln oder nach entsprechenden Hacks Unternehmen oder Individuen erpressen kann. Als geschlossenes Netzwerk war und ist z.B. das Apple Design Lab organisiert, damit Apple selbst bestimmen kann, wann neue Produkte gezeigt werden. So sollte auch die Infrastruktur an Schulen organisiert sein.

Lehrkräfte, Präsenz und Dialog statt Kennzahlen

Weitere Parameter sind: Es werden nur absolut notwendige Daten erhoben, gespeichert und nach Nutzung wieder gelöscht. Während Vertreter der Datenökonomie möglichst viele Daten von allen möglichst zentral speichern möchten, haben die Stellschrauben einer nachhaltigen IT im 21. Jh. das Ziel größtmöglicher digitaler Souveränität: dezentrale und datensparsame Datenhaltung, Datenhoheit vor Ort, Transparenz der Algorithmen und sofortige Löschoption nicht mehr benötigter Daten. Wir müssen IT neu denken, heißt das, bevor wir sie in Schulen einsetzen können. Das aktuelle Bildungssystem krankt an den Prämissen der (Daten-)­Ökonomie, dem Ausrichten an Kennzahlen und der Verkürzung auf technisch-informatisches (binäres) Denken. Wer aber den Menschen als nach Bedarf zurichtbares Humankapital oder berechenbares, programmierbares Objekt definiert, verabschiedet sich aus dem bildungspolitischen, demokratischen und humanen Diskurs.

Statt Behaviorismus, Kybernetik und empirischer Bildungsforschung müssen Bildungseinrichtungen sich wieder auf ihre Kernaufgabe des Lehrens und Lernens besinnen, auf Gemeinschaft, Bindung und Vertrauen als Basis pädagogischer Arbeit.

Ziele des Schulleitungssymposiums Schweiz: „eine stärkere Perspektivenorientierung auf Persönlichkeitsentwicklung, Mündigkeit, Förderung von Gemeinschaftssinn, Selbstverantwortung, verantwortungsvolle Partizipation an der Demokratie und achtungsvoller Umgang mit der fragilen Umwelt“

Wir brauchen einen generellen Paradigmenwechsel: Statt Behaviorismus, Kybernetik und empirischer Bildungsforschung (Vermessen statt Unterrichten; Burchardt, Lankau 2020) müssen Bildungseinrichtungen sich wieder auf ihre Kernaufgabe des Lehrens und Lernens besinnen, auf Gemeinschaft, Bindung und Vertrauen als Basis pädagogischer Arbeit. Was dabei auf allen Ebenen fehlt, sind fachlich qualifizierte Lehrkräfte, Schulpsychologinnen, Sozialarbeiter. Wir müssen darum in qualifiziertes Personal und dessen Ausbildung investieren. Auf einem Schulleitungssymposium in der Schweiz wurden bereits 2017 als bildungspolitische Ziele Kriterien einer adäquaten Bildung für eine offene Zukunft formuliert: „eine stärkere Perspektivenorientierung auf Persönlichkeitsentwicklung, Mündigkeit, Förderung von Gemeinschaftssinn, Selbstverantwortung, verantwortungsvolle Partizipation an der Demokratie und achtungsvoller Umgang mit der fragilen Umwelt“.[24] Dazu braucht es ein direktes Gegenüber und den konstruktiven Dialog statt Kompetenzvermessung in den Nachkommastellen.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, mit der sie entstanden sind.“, hat Albert Einstein formuliert und das bedeutet heute, dass weder neoliberale noch informatische oder psychologische Modelle und Methoden das Unterrichten bestimmen dürfen. Der Mensch muss wieder als Subjekt (nicht Muster) mit seinen konkreten Bedürfnissen und seinem individuellen Anspruch auf Bildung und Einbindung in die Sozialgemeinschaft im Mittelpunkt stehen (Bündnis 2017, Lankau 2021). Konkrete pädagogische und technische Forderungen sind anderweitig praxiskonform ausformuliert (Lankau 2020). Übergeordnet ist hier und jetzt die Forderung einer pädagogischen Wende zugunsten des Lehrens und Lernens in Gemeinschaft. Andernfalls gibt es womöglich ein unsanftes Erwachen, wie es der israelische Historiker zu Covid-19 als Möglichkeit formulierte:

„In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. (…)  Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“ (Lüpke, Harms, 2020)

 

Fussnoten

[1] So der Buchwissenschaftler Dietrich Kerlen, Einführung in die Medienkunde; Kerlen, 2003, 13

[2] Rückkanal für personalisierte Daten bedeutet, dass alle Aktionen der Nutzerinnen und Nutzer im Netz aufgezeichnet werden: jede besuchte Webseite, jeder Mausklick, jedes Scrollen oder Klicken.

[3] Zuboff, 2018

[4] Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, Rede auf dem Kirchentag 2019 in Dortmund; Steinmeier, 2019

[5] Smart ist ein Synonym für die Allgegenwart von Kameras, Mikrofonen und Sensoren, die permanent Daten aus dem öffentlichen wie privaten Raum aufzeichnen (Internet of Things; IoT). Menschliches Verhalten wird ebenso protokolliert wie der Verkehrsfluss oder Wetterdaten etc. Alle Daten werden in Datenzentren nach für Nutzerinnen und Nutzer intransparenten Kriterien ausgewertet.

[6] Matthes, 2021, 18

[7] Siehe z.B. den Podcast von Sam Harris mit Tristan Harris #71 What is Technology doing tu us? April, 2017; https://www.samharris.org/podcasts/making-sense-episodes/71-technology-us (8.8.2022); auch andere ehemalige Manager aus dem Silicon Valley wie Sean Parker, Tim Kendall und zuletzt Francis Haugen (Facebook Files: https://www.wsj.com/articles/the-facebook-files-11631713039) kritisieren die Methoden der Social Media-Kanäle, mit denen Menschen durch persuasive (verhaltensändernde) Technologien manipuliert werden.

[8] Zuboff, 2018

[9] In China bieten staatlich kontrollierte Unternehmen wie Weibo, WeChat u.a. vergleichbare Dienste an, gekoppelt an ein Sozialpunktesystem (Socials Scoring) zur Verhaltenssteuerung.

[10] Zit. n. Kreye 2022, 9

[11] Steinmeier, 2019

[12] Die Rückgewinnung des politischen Raums gelingt nur auf parlamentarisch diskursiver und juristischer Ebene, nicht der technischen. Erste „Rückeroberungen“ sind mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO), dem Digital Market ACT (DMA) und Digital Services Act (DSA) eingeleitet bzw. rechtsgültig; https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/eu-regeln-online-plattformen-1829232 (8.8.2022)

[13] Zur Ausstattung von Kindern und Jugendlichen mit digitalen Endgeräten siehe die regelmäßigen Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbands Südwest, gestaffelt nach Alter: JIM-Studie (12.19-Jährige), KIM-Studie (6-13-Jährige), Mini-KIM 2020 (2–5-Jährige), (FIM-Studie, Familien); http://www.mpfs.de/startseite/ (6.8.2022)

[14] Zdrazil 2021, 51f.

[15] Andresen et.a.l 2021; WHO 2022; Mayerle 2022, 15

[16] Instant gratification beschreibt Mechanismen der sofortige Belohnung oder Befriedigung von (vermeintlichen oder tatsächlichen) Wünschen. Das korrumpiert das Belohnungssystem bei z.B. Lern­anwendungen, wenn nicht mehr aus Fach- oder Erkenntnisinteresse gelernt wird, sondern für die Gratification wie z.B. bei Antolin, einem digitalen Leseförderprogramm.  Durch das lesen und Beantworten von Fragen werden Punkte gesammelt, was dazu führt,dass kluge Kinder sich die einfachen Bücher aussuchen und bearbeiten, um schnell und ohne großen Aufwand an möglichst viele Punkte zu kommen. Leseförderung im Sinne von Lesebegeisterung aufgrund der Inhalte und Geschichten sieht anders aus!

[17] Olaf Köller (IQB). zit. n. Ebbinghaus 2020

[18] Lankau 2014

[19] Bleckmann 2015

[20] Gardner, 2009; Zierer 2022

[21] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Job-Futoromat: Werden digitale Technologien Ihren Job verändern?; Suchanfrage Kunstpädagoge/-pädagogin: Keine der 7 Kerntätigkeiten in diesem Beruf ist – Stand heute – automatsiierbar. https://job-futuromat.iab.de/; (3.8.2022)

[22] Ein Projekt für den Bildungsbereich ist das „Netzwerk Freie Schulsoftware“ des Vereins Digitalcourage e.V., wo Open Source-Software und Praxisbeispiel mit Ansprechpartnern gelistet werden. Web: https://digitalcourage.de/ und https://digitalcourage.de/netzwerk-freie-schulsoftware

[23] Das Verbot von Microsoft-Office-Programme und MS Teams an Schulen basiert z.B. auf dieser Intransparenz des Datenabflusses in die USA in Verbindung mit dem US Cloud Act, der alle US-amerikanischen Anbieter von Software verpflichtet, Kundendaten herauszugeben, wenn einer der US-Dienste anfragt, unabhängig  davon, wo diese Daten gespeichert sind.

[24] Simanowski, 2021, S. 92

 

Literatur und Quellen

Andresen, Sabine; Heyer, Lea; Lips, Anna; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Severine; Wilmes, Johanna (2021): Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe; hrsg. v. d. Bertelsmann-Stiftung; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/
files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Das_Leben_von_jungen_Menschen_in_der_Corona-Pandemie_2021.pdf
  (6.8.2022)

Bleckmann, Paula (2012): Medienmündig. Wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umgehen lernen. Stuttgart : Klett-Cotta

Bündnis für humane Bildung (2017): Sieben Forderungen für eine neue Bildungspolitik – „Der Mensch ist des Menschen Lehrer“, https://www.aufwach-s-en.de/2017/10/sieben-forderungen-fuer-eine-neue-bildungspolitik-der-mensch-ist-des-menschen-lehrer/ (8.8.2022)

Burchardt, Matthias; Lankau, Ralf (2020): Aufruf zur Besinnung: Humane Bildung statt Metrik und Technik; https://bildungsklick.de/schule/detail/aufruf-zur-besinnung-humane-bildung-statt-metrik-und-technik  (5.8.2022)

Ebbinghaus, Uwe (2020): Mint-Schwäche in Schulen:Ist Lernsoftware besser als ein schlechter Mathelehrer?, in FAZ vom 23.6.2020; https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/mint-schwaeche-in-schulen-bringt-corona-die-mathe-software-voran-16828246.html (8.8.2022)

Kerlen, Dietrich (2003): Einführung in die Medienkunde, Stuttgart: Reclam

Kreye, Andrian (2022): Digitale Sozialkreditsysteme: Wir schlafwandeln in die Überwachung, in: SZ vom 26.7.2022, S. 9; https://www.sueddeutsche.de/kultur/sozialekreditsysteme-zustimmung-in-deutschland-1.5627964 (30.7.2022)

Lankau, Ralf (2021): Werkzeug im Unterricht statt Allheilmittel. Alternative IT Konzepte für Schulen, in: ders.: Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule, S.169-184, Weinheim: Beltz

Lankau, Ralf (2020): Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen. GBW-Flugschrift 2, PDF: https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/10/krautz_flugschrift_digitalisierung.pdf  (4.8.2022)

Lankau, Ralf (2014): Gestalten als Form des Erkennens. Kreativität und (Digital-)Technik in Kunstpädagogik und Mediengestaltung, München: kopaed

Matthes, Sebastian (2021): Sie haben gelernt,unser Gehirn zu hacken; Interview mit dem Historiker Yuval Noah Harari; in: Handelsblatt vom 30. Dezember 2021 bis 2. Januar 2022, Nr. 253, S. 16-18

Mayerle, Robert (2022): Auswirkungen der Pandemie-Folgen für Kinder und Jugendliche. In: Gruppenanalyse 1/2022: 14-19.

Simanowski, Roberto (2021): Digitale Revolution und Bildung. Für eine zukunftsfähige Medienkompetenz, Weinheim: Beltz Juventa

Steinmeier, Frank (2019): Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung der Podiumsdiskussion “Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne” beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 20. Juni 2019 in Dortmund; https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/
bulletin/rede-von-bundespraesident-dr-frank-walter-steinmeier-1640914
  (5.8.2022)

WHO (2022) World Health Organization: Mental health. Studie World Health Organization: The WHO special initiative for mental health (2019-2023): Universal health coverage for mental health; https://apps.who.int/iris/handle/10665/310981 (6.8.2022)

Zdrazil, Tomàš (2021): Was die Jugend jetzt braucht. In: Erziehungskunst, 12/2021: 51-54.

Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt: Campus

 

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Seit mehr als 30 Jahren wiederholen sich Diskussionen über Sinn und Unsinn von Informationstechnik in Bildungseinrichtungen. Die Pandemie mit Kontaktsperren und Schulschließungen hat die Diskussion beschleunigt. Digitaltechnik wurde in Coronazeiten ohne Diskussion flächendeckend eingesetzt. Jetzt soll daraus das „neue Normal" werden, möglichst ab der Kita. Je früher desto besser – oder nicht? Ein kritisches Statement zur Digitalisierung an der Grundschule von Condorcet-Autor Ralf Lankau.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau: Daten über menschliches Verhalten werden maschinenlesbar gemacht.
Bild: Lankau

Von Digitalisierung und digitaler Transformation zu Digitalität

Die Definition wichtiger Begriffe ist Voraussetzung für das Verstehen der Zusammenhänge. Digitalisierung als Substantiv, digitalisieren als Verb bedeutet, beliebige Information maschinenlesbar zu machen. Ob Text oder Bild, Mimik oder Gestik, Raumtemperatur oder Luftfeuchtigkeit: Alles wird durch entsprechende Sensoren, Kameras oder Mikrofone aufgezeichnet und technisch zu Daten und Datensätzen konvertiert. Diese Digitalisate werden anschließend nach der Logik von Datenverarbeitungssystemen – alle Rechner sind Datenverarbeitungssysteme  – mit Hilfe entsprechender Programme be- und verarbeitet. Algorithmen sind Handlungsanweisungen (Operationsbefehle), wie Rechner Daten verarbeiten.

Spricht man von Digitalisierung im Kontext von Sozialsystemen (Arbeit, Bildung, Gesundheit), bedeutet Digitalisierung, dass Daten über menschliches Verhalten, seine Psyche und Emotionen (5-Faktorenmodell, s.u.) aufgezeichnet und maschinenlesbar gemacht werden. Digitale Transformation bezeichnet die Forderung der IT- und Wirtschaftsverbände, zunehmend alle menschlichen Lebensbereiche nach den Parametern und Anforderungen von Datenverarbeitungssystemen der Datenökonomie umzustrukturieren und der Logik von Algorithmen und Berechenbarkeit anzupassen. Die Konsequenz: Es zählt nur noch, was als Daten erfasst (datafiziert) und algorithmisch berechnet und gesteuert werden kann. Denn das ist

Shoshana Zuboff, US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts: Der Dreisatz der Digitaltechnik: Automatisieren, Digitalisieren, Kontrollieren.

(Zuboff 1988) Nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt technischer Anwendungen, sondern die Effizienz und Optimierung der Datenverarbeitungssysteme. Die Leitdisziplin der Digitalisten ist Big Data oder – da Big Data sehr nach Big Brother klingt – die vermeintlich objektivierenden Data Sciences.

Der relativ neue Begriff Digitalität soll die digital codierte Verbindung zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten und zwischen den Objekten des „Internet of Things (IoT) umfassen. Statt der eher technischer Definitionen der Digitalisierung sollen mit dem Kunstbegriff der Digitalität soziale und kulturelle Praktiken beschrieben werden, ähnlich dem (ebenso ungenauen) „digital lifestyle“. Der Begriff beschreibt de facto die Akzeptanz der Allgegenwart und permanenten Interaktion von Menschen mit digitalen Endgeräten und Dominanz netzbasierter Diensten. Es ist, getarnt als Fortschritt, die Zustimmung zur Selbstentmündigung und Steuerung menschlichen (Lern)Verhaltens durch Software, wenn „KI-basierte Avatare als empathische Lernbegleiter“ Lehrkräfte ersetzen (Herkersdorf, 2020) oder digitale Endgeräte von einem Schulleiter (!) zu „Lernbegleitern“ geadelt werden, um Lehrkräfte zu sparen. (Lebert 2021)

Damit wird im Gewand einer kulturwissenschaftlichen Diskussion der Raum für das bereitet, was Marc Zuckerberg (Meta, vormals Facebook) als kommerzielles Metaverse (dt. Metaversum) auf den Markt bringen will: Das Verschmelzen von realer und virtueller Welt als neuer Geschäftsbereich und das Interagieren mit virtuellen statt realen Personen. Eingeführt hat den Begriff Virtual Reality der Science-fiction-Autor Neal Stephenson 1992 in seinem Roman „Snow Crash“ – eine Dystopie. Die Story: In den USA herrschen nach einer schweren Wirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt. Viele Menschen flüchten daher in virtuelle Scheinwelten.

Für alle drei Digital-Begriffe wird Alternativlosigkeit behauptet, der Mensch als selbstbestimmt handelndes Subjekt negiert.

Vermessen statt Unterrichten

Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen.

Für alle drei Digital-Begriffe wird Alternativlosigkeit behauptet, der Mensch als selbstbestimmt handelndes Subjekt negiert. Für den Bildungssektor forcieren Akteure der Global Education Industries (GEI) und StartUps der eLearning- und EdTech-Branche (Education Technologies) den Einsatz von Digitaltechnik, neben den bekannten (formal gemeinnützigen) Stiftungen. Damit verbunden ist ein Paradigmenwechsel, der aus dem angelsächsischen Raum massiv nach Europa drängt: Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen. Bildung wird zum Geschäftsfeld. Wer „Bildung“ als Dienstleistung verkaufen will, muss Bildungsprozesse als steuer- und messbar behaupten und Erfolgskontrollen per Qualitätsmanagement (QM) garantieren. Dafür müssen Lernprozesse standardisiert und kleinteilig mess- prüfbar werden. Das ist das Feld der empirischen Bildungsforschung als Teildisziplin der Psychologie. Das Ergebnis: Messmethoden für Lernleistungen statt Pädagogik und Didaktik.

Auch Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann.

Derlei Ideen sind nicht neu.Vorläufer und Impulsgeber war z.B. William Stern, Vordenker der Allgemeinen Psychologie. Er prognostizierte bereits im Jahr 1900 die „Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens“. Stern und Kollegen wie Hugo Münsterberg postulierten 1912 als psychotechnische Maxime: „Alles muss messbar sein.“ Dafür entwickelten Psycho-Ingenieure passende Psycho-Techniken. Darauf baut die „Lehre der unbegrenzten Formbarkeit des Einzelnen“ auf . (Gelhard, 2011, 100) Der Psychologe David McClelland leitete daraus sogar das „pädagogische Versprechen einer umfassenden Formbarkeit des Menschen“ ab. (ebda., 120).

Auch Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann. Dazu dient u.a. das Fünf-Faktoren-Modell (engl. OCEAN) nach Louis Thurstone, Gordon Allport und Henry Sebastian Odbert. Die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität ergeben in der jeweiligen Stärke und wechselseitigen Abhängigkeiten präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit, des emotionalen wie sozialen Verhaltens, der sexuellen Präferenzen u.v.m. Der Mensch und seine Psyche werden transparent, das Individuum steuerbar.

Automatisierte Beschulung wird zur algorithmisch berechneten Prognostik, um Probanden zum Erreichen extern vorgegebener Lernziele zu führen.

Datafizierung und Datenbanken statt Dialog

Dazu muss man personalisierte Daten erfassen und auswerten. Das ermöglichen digitale Endgeräte. Die Identifikation der Probanden erfolgt durch Login und Nutzerverhalten. Die personalisierten Daten werden zu Profilen mit charakteristischen Merkmalen von Personen kondensiert – die sogenannten digitalen Zwillinge. Menschliches Verhalten wird per Web und App modifiziert (Nudging, Selftracking) oder manipuliert (Influencing, Propaganda, Werbung). Automatisierte Beschulung wird zur algorithmisch berechneten Prognostik, um Probanden zum Erreichen extern vorgegebener Lernziele zu führen. Software mit vergleichbaren Aufzeichnungs- und Steuerungspotentialen kommen aktuell verstärkt als Lernsoftware, Serious Games und Virtual Reality (VR)-Anwendungen in die Bildungseinrichtungen, bereits an der Kita.

John Hattie: IT hat nur eine geringe Effektstärke.

Bloss: Medientechnik als Ersatz der Lehrkräfte scheitert seit mehr als 30 Jahren regelmäßig. Nutzen und Mehrwert digitaler Medien für Lernprozesse sind nicht nachgewiesen. Im Gegenteil. John Hattie weist in seiner Meta-Analyse „Visible Learning“ nur einen geringen Nutzen von IT im Unterricht aus. (Hattie, 2009; aktualisiert durch Hattie; Zierer, 2016; Zierer 2020) Der OECD-Bericht „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015) zeigt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt nicht zu besseren Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Das gleiche Ergebnis zeigte ein BYOD Projekt in Hamburg , Kammerl 2016) und die OECD-Studie zu Resilienz und Bildungsgerechtigkeit. Daher gehört es mittlerweile zur Strategie der Digitalbefürworter, bereits die Frage nach dem Nutzen und Mehrwert von Medientechnik im Unterricht als bewahrpädagogisch und überflüssig zu delegitimieren.(Krommer 2020) Der Trick: Krommer, Wampfler &Co. fragen nicht nach dem möglichen Nutzen oder Mehrwert von digitaler Medien im Unterricht, sondern fordern umgekehrt „Unterricht unter Bedingungen der Digitalisierung“. (ebda.) Wer Digitaltechnik als Prämisse setzt, muss deren Einsatz nicht begründen. Nur sagt diese Setzung gerade nichts über Nutzen, Sinn oder Unsinn von Technik im Unterricht aus, sondern nur über die Setzung.. Technikeinsatz alleine ist kein pädagogisches Konzept.

Präsenzunterricht als Normalfall

Wir stehen vor grundlegenden Entscheidungen. Welche Form von Unterricht, Lehre und Bildung wollen wir?

Prof. Dr. Andreas Gruschka: Verstehen wir es weiterhin als Aufgabe der Pädagogik, Verstehen zu lehren?

(Gruschka, 2011) Oder bestimmen Parameter der produzierenden Industrie (Produktion von Humankapital mit validierten Ergebnissen) und der Daten-Ökonomie das Lehren und Lernen? Ist die automatisierte Messbarkeit von Lernleistungen das Ziel oder haben Bildungseinrichtungen einen übergeordneten Auftrag für Allgemeinbildung und Persönlichkeitsentwicklung, der sich nicht utilitaristisch auf Ausbildung und Kompetenzen verkürzen lässt? Bleiben Lehranstalten soziale Orte und Schutzraum für Präsenzunterricht und das Lernen in Sozialgemeinschaften? Wird Lehren und Lernen verstanden als soziale Interaktionen auf Basis von wechselseitiger Beziehung, Bindung und Vertrauen zwischen Menschen? Oder etablieren wir einen zunehmend „autonom“ agierenden Maschinenpark zum Beschulen und Testen der nächsten Generation?

Der Mensch ist des Menschen Lehrer(in)

Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Für Dialog und Diskurs, für das Nach-, Mit- und Selbstdenken brauchen wir echte Begegnungen. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen das Ziel ist, nicht nur Repetition. Medien und Medientechnik können Lernprozesse partiell unterstützen, aber wir lernen durch das Miteinander (Lankau 2020a)

In der Flugschrift „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht“ (Lankau, 2020b) wird bis auf Hard- und Software-Ebene skizziert, wie man Digitaltechnik einsetzt, ohne Nutzerdaten zu generieren. Der Untertitel präzisiert die Funktion von sinnvoller Medientechnik in Lehr- und Lernprozessen: „Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen.“ Das heißt: Der Einsatz von Digitaltechnik muss überdacht werden im Hinblick auf die Frage, was der „Normalfall Unterricht“ sein soll. Bleiben Bildungseinrichtung Lernorte für das Individuum oder werden es Lernfabriken für die zunehmend algorithmisierte Steuerung von Menschen mit dem Ziel des messbaren Kompetenzerwerbs, samt absehbarer Konsequenzen für das Individuum wie die Gemeinschaft? Das ist ja eine der Lehren aus Corona: Präsenz ist nicht zu ersetzen, in keiner Schulform und in keinem Lebensalter. Ob wir dabei analoge und/oder digitale Medien als Ergänzung zum Unterricht einsetzen bleibt nachgeordnet. Denn es sollte zu denken geben, was der israelische Historiker Harari zu Covid-19 im Interview formulierte:

„In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. (…)  Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“(Lüpke, Harms, 2020)

 

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Deine Daten sind der Preis: Medienmündigkeit im Netz oder der Blick hinter das Display auf Big Data und Datenökonomie https://condorcet.ch/2021/11/deine-daten-sind-der-preis-medienmuendigkeit-im-netz-oder-der-blick-hinter-das-display-auf-big-data-und-datenoekonomie/ https://condorcet.ch/2021/11/deine-daten-sind-der-preis-medienmuendigkeit-im-netz-oder-der-blick-hinter-das-display-auf-big-data-und-datenoekonomie/#respond Mon, 29 Nov 2021 06:43:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=9942

Für Condorcet-Autor Ralph Lankau gehören Digitaltechnik, Netzwerke und Datenschutz notwendigerweise zusammen, da man Online- und Webtechnologien nur dann verantwortungsvoll nutzen kann, wenn man über ein Grundverständnis über Funktionsweisen der Digitaltools verfügt. Der Begriff dafür ist Medienmündigkeit statt Medien(bedien)kompetenz und bedeutet, dass man einschätzen und entscheiden kann, ob und ggf. welche Medien man nutzt und was man besser nicht im Netz macht. Das zugrundeliegende Ziel ist, sich den Datensammlern der IT-Monopole und der Daten-Ökonomie zu widersetzen, ohne auf sinnvolle Dienste zu verzichten.

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Social Media-Aktivitäten als Spiegel der Persönlichkeit

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau: Wir müssen uns stattdessen überlegen, für was wir wirklich online sein müssen.
Bild: Lankau

Das Mediennutzungsverhalten hat sich durch Digital- und Webtechnologien in den letzten 20 Jahren stark verändert. Internetdienste wie Amazon und Google (mit YouTube) oder Social Media-Plattformen wie Facebook (mit WhatsApp und Instagram) haben heute Reichweiten, die weit über Printpublikationen oder TV-Kanäle hinausgehen. Mit Smartphones (ab 2007) und Tablets (ab 2010) wurden mobile Geräte und Dienste ständige Begleiter. Der entscheidende Unterschied zu bisherigen Medienkanälen ist der permanente Rückkanal für personenbezogene (personalisierte) Daten. Gerätehersteller und Diensteanbieter wissen, wer wir sind und was wir im Netz tun. „Mit jedem Klick im Netz hinterlassen Menschen digitale Spuren. Aber auch wer das Handy unbenutzt in der Tasche mit sich herumträgt, verrät viel über sich selbst. Denn die Bewegungen des Benutzers, die ein Smartphone mit seinen Inertialsensoren erfasst, ermöglichen Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Nutzer.“ (Siegle, 2019)

Eine aktuelle Studie bestätigt, dass sich aus Aktivitäten in sozialen Medien weitreichende Schüsse auf den Charakter der Nutzerinnen und Nutzer schließen lassen. Eine Forschergruppe um Clemens Stachl warnt im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) vor möglichen Einschränkungen der Privatsphäre, da personenscharfe Profile die gezielte Beeinflussung ermöglichen. (Stachl, 2020)

Eine aktuelle Studie bestätigt, dass sich aus Aktivitäten in sozialen Medien weitreichende Schüsse auf den Charakter der Nutzerinnen und Nutzer schließen lassen.

Allein über die Bewegungen mit Smartphones verraten Nutzer ihre alltäglichen Gewohnheiten.

Denn Smartphones zeichnen Nutzerdaten auf, aus denen sich die fünf Dimensionen des “Big Five”-Modells der Persönlichkeitspsychologie (Ocean-Methode; Tab. 1) vorhersagen lassen. Das sind die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität sowie deren Ausprägung. Das ergibt, zusammen mit Bewegungs- und Kommunikationsprofilen, sehr präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit (z.B. Stressresistenz) und des emotionalen wie sozialen Verhaltens. Allein über die Bewegungen mit Smartphones verraten Nutzer ihre alltäglichen Gewohnheiten, den Aktionsradius und direkte Kontakte. Das lässt zuverlässige Rückschlüsse auf die Persönlichkeit und erwartbares Verhalten zu (Prognostik). Das Sammeln von Nutzerdaten hat als Ziel ja die Voraussage des wahrscheinlichen Verhaltens, um entsprechende Angebote zu machen und/oder passende Werbung zu schalten. Das ist schließlich die Geschäftsgrundlage der digitalen Plattform-Ökonomie: „Kostenlose“ Angebote gegen Nutzerdaten, Werbung und auch (politische) Propaganda.

Tab. 1: Die Big Five der Persönlichkeitspsychologie (dt.: Fünf-Faktoren-Modell, FFM)

Kürzel/Faktor schwach ausgeprägt stark ausgeprägt
O / openness to experience

(Offenheit für Erfahrungen)

konservativ, vorsichtig erfinderisch, neugierig
C / conscientiousness

(Gewissenhaftigkeit)

unbekümmert, nachlässig effektiv, organisiert
E / extraversion

(Extraversion)

zurückhaltend, reserviert gesellig
A / agreeableness

(Verträglichkeit)

wettbewerbsorientiert, antagonistisch kooperativ, freundlich, mitfühlend
N / neuroticism

(Neurotizismus)

selbstsicher, ruhig emotional, verletzlich

 

Trump und das Beispiel TikTok

Der erste, der diese Persönlichkeitsprofile für personalisierte Wahlwerbung erfolgreich eingesetzt hat, war Barack Obama mit seiner „Yes, we can“-Kampagne, mit der er vor allem junge Wählergruppen aktivieren konnte. Manipulationstechniken der medialen Kommunikation sind allerdings für beliebige Ziele einsetzbar, wie es Edward Bernays bereits in seinem Buch „Propaganda oder die Kunst der Public Relations“ von 1928 publizierte. Ob man Wahlkampf für Auto- oder Demokraten macht, ist auf der analytischen und (werbe)psychologischen Ebene egal, nur Botschaften und Bildsprachen variieren, die Methoden sind identisch. Die Basis dafür sind Psychotechniken, die William Stern u.a. um 1900 entwickelt hatten. (Gelhard, 2011, 100f) Der Brexit wie der letzte amerikanische Präsidentenwahlkampf dürften unter starkem Einfluss von personalisierten Social Media-Aktionen gestanden haben, wie es Christopher Wylie, ehemaliger Mitarbeiter von Cambridge Analytica (CA), in seinem Buch „Mind F*ck“ beschreibt.

Shoshana Zuboff, US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts, spricht von Überwachungskapitalismus.

Das Grundprinzip der Plattform-Ökonomie sind international identisch. Unternehmen wie Facebook oder Google bzw. ihre chinesischen oder russischen Pendants stellen die technische Infrastruktur zur Verfügung. Die Nutzer entwickeln unentgeltlich die Inhalte (Content) und laden sie auf diese Plattformen hoch, um sich zu präsentieren. Die Plattformbetreiber verkaufen die Werbeplätze und sichern den Werbetreibenden zu, passende Anzeigen zum jeweiligen Nutzerprofil zu schalten. Zeitalter des Überwachungskapitalismus nennt Shoshana Zuboff dieses Prinzip, bei dem Nutzerinnen und Nutzer als Datenspender sich selbst als Konsumenten profilieren. (Zuboff 2018)

Bislang waren die Big Five der IT: Amazon, Alphabet (Google), Apple, Facebook und Microsoft auch in Europa führend. (Europa ist diesbezüglich eine digitale Kolonie des US-Marktes). Mit Android und Mac OS stellten zwei US-Firmen sogar die Betriebssysteme und App-Stores für annähernd alle Smartphones. Dummerweise hat China mittlerweile nicht nur das chinesische (staatlich zensierte) Netz gegen Konkurrenz aus dem Westen abgeschottet und für alle digitalen Dienste eigene Alternativen entwickelt (WeChat, Weibo, Baidu, AliBaba usw.). Mit Apps wie TikTok haben chinesisches Unternehmen auch zunehmend Erfolg auf dem amerikanischen Markt.

Trumps Wahlauftritt in Tulsa: leere Ränge.

Hier überkreuzen sich zwei Ereignisse. Zum einen haben TikTok-Nutzer die Auftakt-Wahlveranstaltung von Donald Trump in Tulsa boykottiert, in dem sie sich massenhaft angemeldet haben, aber nicht erschienen sind. Den großspurigen Ankündigungen des Trump-Teams über hohe Teilnehmerzahlen standen Fernsehbilder von leeren Rängen gegenüber. (Tulsa, 2020). Der Zorn des Narzissten war erwartbar. Zu Recht weist die amerikanische Regierung allerdings darauf hin, dass Daten, die ein chinesisches Unternehmen über amerikanische Nutzer sammelt, dem chinesischen Staat zur Verfügung stehen. Ein staatstotalitäres System wie in China schottet ja nicht nur das eigene Netz gegen Externe ab, sondern hat Zugriff auf alle Daten chinesischer Unternehmen.

Ein staatstotalitäres System wie in China schottet ja nicht nur das eigene Netz gegen Externe ab, sondern hat Zugriff auf alle Daten chinesischer Unternehmen.

Ein staatstotalitäres System

Fairerweise müsste die US-Regierung aber dazu sagen, dass sie selbst so agiert, wie es die Enthüllungen von Edward Snowden 2013 gezeigt haben und er es in seinem Buch „Permanent Record“ beschreibt. Die amerikanische Gesetzgebung nach dem Anschlag von 9/11 führt dazu, dass von Datenschutz und Datensicherheit auch in Europa nicht mehr gesprochen werden kann. Laut US Cloud Act haben amerikanische (Geheim)Dienste auf alle Daten von europäischen Kunden auf Antrag Zugriff, selbst wenn diese in Europa gespeichert sind und EU-Recht unterliegen. US-Recht bricht EU-Recht, egal, welche Verträge man mit amerikanischen Unternehmen abschließt. Das hat der europäische Gerichtshof (EuGH) sowohl mit dem Safe Harbour-Urteil von 2015 wie mit dem aktuellen Urteil zum Privacy Shield von 2020 bestätigt. (Lijnden, 2020, 4)

Datenschutz schützt keine Daten, sondern Grundrechte wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Privatsphäre oder das Recht, eine Zustimmungen zum Datensammeln zu widerrufen und das Löschen der Daten einzufordern.

Umso wichtiger ist die im Mai 2016 beschlossene und im Mai 2018 in Kraft getretenen EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO). Sie regelt das Speichern und Verarbeiten personenbezogener Daten für alle (!) Unternehmen, die innerhalb der EU aktiv werden wollen. Wer personenbezogen Daten speichern und auswerten will, muss vorher von den betroffenen Personen ein schriftliches Einverständnis einholen. Hier ist nicht der Ort, juristische Details oder mögliche Verbesserungen zu erörtern, sondern deutlich zu machen: Datenschutz schützt keine Daten, sondern Grundrechte wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Privatsphäre oder das Recht, eine Zustimmungen zum Datensammeln zu widerrufen und das Löschen der Daten einzufordern. Die EU-DSGVO gibt Nutzern ihre Rechte an eigenen Daten zurück.

Die Pflicht, vor dem Speichern um Erlaubnis zum Speichern personenbezogener Daten zu bitten, gilt selbstredend auch für Software, die in Schulen eingesetzt wird.

Learning Analytics an Schulen

Peter Hense, Rechtsanwalt aus Sachsen (D): Man scheut sich vor der konsequenten Anwendung geltenden Rechts.

Die Pflicht, vor dem Speichern um Erlaubnis zum Speichern personenbezogener Daten zu bitten, gilt selbstredend auch für Software, die in Schulen eingesetzt wird. Daher werden Eltern von Minderjährigen unter 16 Jahren derzeit bundesweit aufgefordert, entsprechende Nutzungsvereinbarungen zu unterschreiben. Tun Sie es nicht. Auf die Frage, ob die Kultusministerien in Baden-Württemberg und Bayern ihr vorläufiges Okay für Microsoft-Produkte an Schulen zurückziehen sollten, antwortet der Jurist Peter Hense im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Sollten? Sie müssen. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet. Ohne eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Datentransfer in die USA und andere Drittstaaten, denen ein angemessenes Schutzniveau fehlt, sind diese Produkte nicht genehmigungsfähig.“ (Füller, 2020a)

Gezwungen, entsprechende Nutzungsvereinbarungen zu unterschreiben.

Dieser Datenschutz als Grundrechteschutz gilt auch für Lernmamagement Systeme (MS), die semantisch korrekt besser Lern-Steuerungs-Systeme (LAS) heißen sollten und bei denen exakt angegeben werden muss, welche Daten für welche Zweck wie lange gespeichert werden, wer darauf Zugriff hat und wie man sie wieder löschen kann. Denn personalisierte Lernsoftware basiert notwendig auf möglichst umfangreichen Lern-, Verhaltens und Persönlichkeitsprofilen. Dazu wird das Lernverhalten der Schülersinnen und Schülerin möglichst kleinteilig aufgezeichnet und ausgewertet.Der Begriff dafür ist Learning Analytics. ( Ifenthaler, Schuhmacher, 2016; Moodle, 2020) Aus Lernprozessen wird ein permanentes Vermessen von digital abprüfbaren Lernleistungen.

Der Leiter des Hasso-Plattner-Instituts, das die vom BMBF finanzierte Schulcloud mitentwickelt, führt dazu aus: „Viele dieser interaktiven Systeme funktionieren nur, wenn sie den Nutzer kennen. Das bedeutet, dass Daten protokolliert werden: Was hat der Betreffende gestern gemacht? Welche Frage konnte er nicht beantworten? Wo müssen wir wieder ansetzen?“ (Meinel, 2020) Auch andere Software-Anbieter werben mit der Vermessung und Steuerung von Lernprozessen: “Wir richten Ihr Moodle so ein, dass Sie von den Analytik-Funktionen optimal profitieren. Moodle-Analytics wird damit nicht zur Glaskugel – aber fast” steht auf der Website eines offiziellen Moodle-Partners für Deutschland. (Moodle, 2020). Ein weiterer Open-Source-Anbieter verspricht „Pädagogische Funktionen und einfach bedienbare Benutzeroberflächen für den IT-gesteuerten Unterricht“. (Open Source, 2020).

Wer daran glaubt, braucht in der Tat immer mehr und immer bessere Daten. Und immer mehr Informatiker und Datenmanager statt Lehrkräfte…

Demnach ist der IT-gesteuerte Unterricht das Ziel? Der übergeordnete Begriff dafür ist datengestützte Schulentwicklung, ein Modell der empirischen Bildungsforschung. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, Lernprozesse messen und wie einen Produktionsprozess steuern zu können (kybernetische Pädagogik) – als gäbe es Qualitätsmanagement-Parameter für die individuelle und kognitive Entwicklung von Kinder und Jugendlichen. Wer daran glaubt, braucht in der Tat immer mehr und immer bessere Daten, wie es die Kollegin Hartong am Beispiel Hamburg kritisch aufzeigt. Und immer mehr Informatiker und Datenmanager statt Lehrkräfte… (Hartong 2018; 20219)

Was ist das Ziel von Unterricht?

An dieser Stelle muss man eine Grundsatzfrage stellen. Was ist das Ziel von Unterricht und was das Ziel beim Einsatz von Digitaltechnik in Schulen? Geht es um das Optimieren des standardisierten Beschulens und um automatisiertes Testen auf „Richtig oder Falsch“? Dafür sind Digital- als Binärsysteme und Lernsoftware geeignet. Oder geht es um mehr als Auswendiglernen von Repetitionswissen? Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text “Was heißt: sich im Denken orientieren?” (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken lernen und Fragen stellen könnten. Auch der ehemalige Leiter des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Rafael Reif, weiß um die Bedeutung von Präsenz und direktem Diskurs: „Die Ausbildung bei uns besteht aus drei Komponenten. Erstens: das Lernen von bestehendem Wissen. Zweitens: das Verbessern von bestehendem Wissen. Drittens: die Anwendung des Wissens, um etwas Neues zu schaffen. Den letzten Punkt nennt man Innovation. Digitales Lernen können wir nur für den ersten Teil nutzen. Aber wir gewinnen damit mehr Zeit für die beiden anderen Komponenten.“ Punkt Zwei ist das gemeinsame Arbeiten im Präsenzunterricht und Seminar.

IT muss dezentral und datensparsam organisiert werden. Schulen richten sich dafür z.B. eigene LMS-Instanzen ohne Analysefunktionen ein, damit Lehrkräfte und Schülerinnen bzw. Schüler Dokumente und Dateien austauschen können.

Alternativen zur Verdatung von Schülerbiografien

An dieser Stelle kann auch der Einsatz von IT im Unterricht und an Schulen konkretisiert werden. Was ist das genaue Ziel beim Einsatz von IT in Schulen? Automatisiertes Beschulung als Ersatz für Lehrkräfte? Oder nutzt man digitale Dienste ohne Personalisierung und Profilierung als Werkzeug? Der Autor arbeitet z.B. selbst mit Moodle, deaktiviert aber alle Analyse-PlugIns und reduziert das Speichern von Nutzerdaten auf das technisch notwendige (Nutzerkennung, Passwort, Berechtigungen nach dem LogIn). Als Betriebssystem dient Linux (Fedora, Mint, Ubuntu statt Windows), die Anwendungssoftware ist durchgängig Open Source, z.B. Libre Office für Büroanwendungen und Präsentationen. Auch für Grafik, Desktop-Publishing, Audio-/Videoschnitt oder Webpublishing gibt es entsprechende Tools.

Eine valable Alternative

Noch wichtiger ist Umdenken: IT muss dezentral und datensparsam organisiert werden. Schulen richten sich dafür z.B. eigene LMS-Instanzen ohne Analysefunktionen ein, damit Lehrkräfte und Schülerinnen bzw. Schüler Dokumente und Dateien austauschen können. Das LMS wird benutzt wie eine (digitale) Bibliothek oder eine Materialsammlung ohne Benutzungsprotokolle und ohne Profilierung. Der Server steht in der Schule oder bei einem Provider und ist über VPN (Virtual Private Network) mit Nutzerkennung und Passwort per Netz erreichbar. In dieses LMS kann man bei Bedarf (Stichwort Fernunterricht) Open Source-Videokonferenz-Software wie BigBlueButton oder Jitsi einbinden. Auf diesem Server liegt das für den Unterricht notwendige Material, so muss man im Unterricht nicht ins Internet, sondern kann im Intranet arbeiten. Diese lokale Aufgaben- und Materialsammlung wird ergänzt um den Zugriff auf den Bildungsserver des jeweiligen Bundeslandes. Für die Kommunikation außerhalb von Unterricht und Schule nutzt man DSGVO-konforme Messneger wie Threema oder Signal.

Der entscheidende Punkt ist, dass man „echte“ Rechner oder Laptops einsetzt, die Betriebssystem und Anwendungssoftware lokal installiert und diese offline vollständig funktionsfähig sind. Alles, was im Unterricht mit Rechner gelernt werden soll, kann man offline tun – mit Ausnahme von Netzrecherchen. Nur bei Bedarf schaltet man den Netzzugang ein – idealiter kabelgebunden über einen Router, um die Strahlenbelastung zu minimieren. Dadurch ist es möglich, klar zwischen Off- und Onlinemodus zu trennen.

Wir haben uns daran gewöhnt, immer online zu sein, „mal schnell“ dies und das zu suchen oder anzuklicken – und möglichst viel mit einem Gerät zu machen. Das ist bequem, hat aber Folgen. Die Einzigen, die dieses permanente Onlinesein notwendig brauchen, sind die Vertreter der Daten- und Plattformökonomie. Nur so können sie in Echtzeit Nutzerdaten sammeln und auswerten. Wir müssen uns stattdessen überlegen, für was wir wirklich online sein müssen und in der Grundeinstellung der Arbeitsrechner das Netz ausgeschaltet lassen bzw. für die (Netz-)Kommunikation besser ein zweites Laptop mit Tor-Browser (zum Verbergen der eigenen Netztadresse zu nutzen. Das mag etwas umständlich sein, aber das größte Privileg im 21, Jahrhundert wird sein, selbst entscheiden zu können, für was man online geht, welche Daten man preisgibt und sich ansonsten eine Privatsphäre leisten zu können. Denn die „Gretchenfrage 4.0“ heißt schlicht: Wie hältst Du es mit den Daten? So Armin Grunwald, Professor für Technikphilosophie und Technikethik und Leitet des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag.

„Aufklärung meint heute eine digitale Mündigkeit, in der kritische und unangenehme Fragen gestellt werden. Das vermeintlich Spielerische der Technikdebatten, das Verschieben des existenziellen Antagonismus zwischen Paradies und Untergang in die ferne Zukunft, ist in keiner Weise spielerisch: Vielmehr verschleiert es den Ernst der zentralen Frage, wer zur KI und ihrer Nutzung etwas zu sagen hat und von wem nur noch simple Anpassung erwartet wird. Es ist eine Machtfrage.” (Grunwald, 2020, 9)

Anpassung an IT-Systeme vs. Autonomie des Menschen: Der deutsche Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier fragte auf dem Kirchentag 2019 in Dortmund: “Was bleibt vom Menschen, wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen?“ und formuliert als Auftrag an uns alle: „Nicht um die Digitalisierung der Demokratie müssen wir uns zuallererst kümmern, sondern um die Demokratisierung des Digitalen!“ Schulen sind einer der wichtigsten Orte, um Lehrkräfte wie Schülerinnen und Schüler für diese Fragen zu sensibilisieren und notwendige Diskussionen mit nachfolgenden Generationen zu führen.

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Kindeswohlgefährdung von Amts wegen – Offener Brief zu Tablets in Stuttgarter Kitas https://condorcet.ch/2021/10/kindeswohlgefaehrdung-von-amts-wegen-offener-brief-zu-tablets-in-stuttgarter-kitas/ https://condorcet.ch/2021/10/kindeswohlgefaehrdung-von-amts-wegen-offener-brief-zu-tablets-in-stuttgarter-kitas/#comments Sun, 31 Oct 2021 14:20:41 +0000 https://condorcet.ch/?p=9669

Im Rahmen einer „digitalen Lernoffensive“ wurden in Stuttgart 84 Kitas mit Tablets ausgestattet. Auf Rückfrage nach den zugrunde liegenden pädagogischen Konzepten, pädagogisch zertifizierter Software und Schulungen der Erzieherinnen und Erzieher hat das Jugendamt Stuttgart ausführlich geantwortet – wenn auch bedauerlicherweise mit den üblichen Textbausteinen, die sonst IT-Anbieter und digitalaffine Medienpädagogen seit mehr als dreißig Jahren wiederholen. Condorcet-Autor Ralf Lankau widerlegt diese Aussagen mit seinen Mitstreitern in einem offenen Brief.

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Ralf Lankau, GBW, Professor HS Offenburg: Das Ziel ist eine altersgerechte Medienerziehung.

Verkürzung von Medienerziehung auf Bildschirmmedien (Tablets)

“Medienerziehung in Kindertageseinrichtungen sei gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig”, heißt es im Antwortschreiben des Jugendamtes und die „Sorgen und Ängste bezogen auf den Medienumgang in Kindertageseinrichtungen verstehen wir und berücksichtigen diese in unserer Arbeit. Wir sehen jedoch eine medienfreie Erziehung nicht mehr als zeitgemäß an und möchten die Kinder und Eltern mit ihren Erfahrungen, Unsicherheiten und Ängsten im Medienumgang nicht alleine lassen.“

 

Niemand fordert eine medienfreie Erziehung, was sachlich gar nicht möglich wäre, weil jede Form von Erziehung und Unterricht an Primärmedien wie Sprache, Mimik und Gestik und Sekundärmedien (Bücher, Papier und Stifte, Instrumente usw.) gebunden ist.

Bereits dieser Satz zeigt, dass es der IT-Lobby in Zusammenarbeit mit Medienpädagogen gelungen ist, Medienbildung mit dem Einsatz von Bildschirmgeräten gleichzusetzen. Niemand fordert eine medienfreie Erziehung, was sachlich gar nicht möglich wäre, weil jede Form von Erziehung und Unterricht an Primärmedien wie Sprache, Mimik und Gestik und Sekundärmedien (Bücher, Papier und Stifte, Instrumente usw.) gebunden ist. Kritisiert wird die durch Corona noch beschleunigte Frühdigitalisierung von Kindern in Kita und Grundschule. Gefordert wird eine Erziehung ohne digitale Endgeräte.

Gefordert wird eine bildschirmfreie Erziehung in Kita und Grundschule.

Das Ziel ist der altersgerechte Einsatz von Medien, unter Berücksichtigung aller Medien (analogen wie später digitalen), beginnend mit manuellen Materialien (Stift, Papier, Knetmasse, Rhythmusinstrumente …) und dem Erlernen der elementaren Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen, Malen). Dafür braucht man keine digitalen Endgeräte. Gefordert wird eine bildschirmfreie Erziehung in Kita und Grundschule.

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Frühdigitalisierung gefährdet das Kindeswohl.

Der Grund: Bildschirmmedien reduzieren die Sinneserfahrung auf das Tippen und Wischen auf Glasscheiben und verleiten zu langen Bildschirmzeiten. Das Belohnungssystem wird durch die sofortige Rückmeldung korrumpiert, Lernprozesse werden als Lernkontrollsysteme ausgelagert (externalisiert) statt intrinsisch zu motivieren. Die frühe Gewöhnung an Bildschirmmedien verhindert die altersgemäße sensomotorische und psychische Entwicklung, unterläuft den natürlichen Bewegungsdrang und verhindert damit die körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklungsmöglichkeiten von kleinen Kindern. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Frühdigitalisierung gefährdet das Kindeswohl.

Falsche Behauptungen zur UN Kinderrechtskonvention

Endgeräte isolieren Kinder selbst in Gemeinschaft, korrumpieren das Lern- und Belohnungssystem und nehmen ihnen die Möglichkeit, sich als Teil einer sozialen Gemeinschaft zu erleben und in diese Gemeinschaft hineinzuwachsen. Wenn im Schreiben des Jugendamtes die UN-Kinderrechtskonventionen bemüht wird, sollte man richtig zitieren. In § 17 der Konvention: Zugang zu den Medien; Kinder- und Jugendschutz: steht mit keinem Wort, dass jedes Kind „das Recht auf einen uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugang zur digitalen Welt“ haben solle, wie im Schreiben des Jugendamtes behauptet wird, sondern dass die Vertragsstaaten die wichtige Rolle der Massenmedien anerkennen und sicherstellen

„dass das Kind Zugang hat zu Informationen und Material aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen, insbesondere derjenigen, welche die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben.“

Nicht Medientechnik, sondern das Kindeswohl steht im Mittelpunkt. Und weiter:

„Zu diesem Zweck werden die Vertragsstaaten

  1. a) die Massenmedien ermutigen, Informationen und Material zu verbreiten, die für das Kind von sozialem und kulturellem Nutzen sind und dem Geist des Artikels 29 entsprechen;
  2. b) die internationale Zusammenarbeit bei der Herstellung, beim Austausch und bei der Verbreitung dieser Informationen und dieses Materials aus einer Vielfalt nationaler und internationaler kultureller Quellen fördern;
  3. c) die Herstellung und Verbreitung von Kinderbüchern fördern;
  4. d) die Massenmedien ermutigen, den sprachlichen Bedürfnissen eines Kindes, das einer Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, besonders Rechnung zu tragen;
  5. e) die Erarbeitung geeigneter Richtlinien zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material, die sein Wohlergehen beeinträchtigen, fördern, wobei die Artikel 13 und 18 zu berücksichtigen sind.

Quelle: https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention

Soziales, seelisches und sittliches Wohlergehen, körperliche und geistige Gesundheit.

Soziales, seelisches und sittliches Wohlergehen, körperliche und geistige Gesundheit, Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder, Herstellung und Verbreitung von Kinderbüchern, Richtlinien zum Schutz des Kindes vor Informationen und Material, die sein Wohlergehen beeinträchtigen, fördern … All das steht in der UN-Kinderrechtskonvention, aber kein Wort von digitalen Medien. Damit ist das Zitat des Jugendamtes nicht nur falsch, sondern sinnverkehrend.

Da Jugendämter eher selten UN-Kinderrechtskonventionen umschreiben, ergibt eine Recherche, wer stattdessen dahinter steckt: Es ist die private „Stiftung Digitale Chancen“, die sich für „den chancengleichen Zugang aller Menschen zum Internet“ einsetzt und “Medienkompetenz“ fördert. Als Stifter und Zustifter werden Telekommunikationsanbieter wie AOL Deutschland und Telefónica Deutschland genannt sowie die Unternehmensberatung mit IT-Dienstleister und Clouddiensten Accenture. Nicht aufgeführt ist, wer den Text der UN-Kinderrechtskonvention so umformuliert hat, dass die Wirtschaftsinteressen der Stifter und Zustifter bedient werden.

Bundesministerien werden so unfreiwillig zu Multiplikatoren von Partikularinteressen von privaten Stiftungen mit Partnern aus der IT-Wirtsschaft.

Jugendamt Stuttgart zitiert falsch.

Denn auch in §28 „Recht auf Bildung, Schule, Berufsausbildung“, den das Jugendamt Stuttgart bemüht, werden im Originaltext der UN-Kinderrechtskonvention digitale Medien nicht einmal genannt, sondern das Recht auf Grundschule und weiterführende Schulen, angemessene Förderung für alle u.v.m. Berufen müsste das Jugendamt sich eher auf die Sofia-Strategie der UN und Punkt 5: Rechte des Kindes im digitalen Umfeld[1], sollte dann aber die Quelle korrekt nennen und ergänzen, dass hier bereits die IT-Verbände und Lobbyisten mitformuliert haben.

Das heißt: Man muss alle von privaten Stiftung formulierten (und vom Jugendamt ohne Kennzeichnung übernommenen) „digitalen Kinderrechte“ auf ihre Herkunft prüfen, weil sie gerade nicht in der ursprünglichen UN-Konvention stehen und sich fragen, wem diese Umformulierungen nutzen bzw. wem sie Geschäftsfelder öffnen. Irritierend ist, dass diese Stiftung laut Impressum unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend steht. Bundesministerien werden so unfreiwillig zu Multiplikatoren von Partikularinteressen von privaten Stiftungen mit Partnern aus der IT-Wirtsschaft und zumindest unvollständigen Verweisen.

Verantwortungslos wird es, wenn auf die vermeintliche Chancengleichheit rekurriert wird, obwohl alle Studien unisono belegen, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten durch den Einsatz von digitalen Medien am stärksten leiden und die soziale Schere dadurch konsequent weiter aufgeht.

Besinnung auf Pädagogik statt Digitalisierung als das „neue Normal“

Wir müssen uns alle – Eltern, Lehrkräfte, Schulträger – darauf besinnen, dass Unterrichten und Lernen ein interpersonaler Prozess ist, der auf Beziehung und Vertrauen beruht. Traditionelle wie digitale Medien können – je nach Lebensalter der Menschen, Schulform und fächerspezifischen Anforderungen und beteiligten Personen – hilfreich sein, wenn sie von qualifizierten Lehrkräften als Ergänzung im Präsenzunterricht eingesetzt werden. Medien und Medientechnik sind aber immer nur Mittel zum Zweck, um Lernprozesse zu initiieren. Sie können ab der Sekundarstufe I, in der Oberstufe und in der Erwachsenenbildung in einigen Fächern und Lernszenarien hilfreich sein, sind aber kein Muss. Wir müssen stattdessen lernen zu differenzieren statt alles der „digitalen Transformation“ der Sozialsysteme unterzuordnen. Wir müssen uns lösen von den Heilsversprechen des Digitalen, das nur Konzerninteressen bedient und mit Schulen neue Marktsegmente erschließt. Wir müssen uns lösen aus der Abhängigkeit der IT-Monopole und zurückfinden zu Autonomie und Selbstverantwortung im Einsatz von IT-Systemen.

Wir müssen uns nicht zuletzt besinnen, wer die digitale Transformation der sozialen Systeme (Arbeit, Bildung, Gesundheit) fordert und wem es dient, diese sozialen Systeme algorithmisch zu organisieren und Verhaltensdaten zu sammeln, um uns Menschen durch persuasive (verhaltensändernde) Technologien zu steuern. Digitalität heißt der neue Leitbegriff und bedeutet im Kern: Anpassung und Optimierung des menschlichen Verhaltens an die Logik technischer Systeme. Dabei müsste es umgekehrt sein: Anpassung der technischen Systeme zum Nutzen der Menschen.

Wir müssen uns als Demokraten, Eltern und Pädagogen daher fragen, ob der Umbau von Bildungseinrichtungen mit den Parametern des Messens und Vermessens der empirischen Bildungsforschung und der Fokussierung auf den Einsatz digitaler Endgeräte tatsächlich das Ziel von Schule und Unterricht sein kann oder ob nicht der und die Einzelne als Person und Persönlichkeit (wieder) im Mittelpunkt stehen müssen. Unterrichten und Lernen kann man mit vielen Medien und das Vermessen von Lernleistungen ist nicht das Ziel von Bildungsprozessen. Um es mit Albert Einstein zu sagen: “Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt.” Besinnen wir uns auf die Kernaufgabe von Schule und Unterricht: Persönlichkeitsentwicklung, Mün­digkeit, Förderung von Gemeinschaftssinn, Selbstverantwor­tung, Partizipation an der Demokratie u.v.m.. Dafür brauchen wir vor allem Präsenzunterricht, Bindung und Vertrauen, Dialog und Diskurs – und ab und an auch Medientechnik.

Lorsch, Offenburg, Stuttgart, 18.10.2021

 

Bündnis für humane Bildung

Peter Hensinger, M.A.              Prof. Dr. phil. Ralf Lankau         Ingo Leipner, Dipl. Vw.

                                               Bündnissprecher                      Pressearbeit

 

Pressekontakt: Ingo Leipner, Tel.: 0162-8192023

[1]https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=090000168066cff8

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