Leutenegger - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 08 Oct 2021 13:23:52 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Leutenegger - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Fall Rodriguez war kein Zufall. Er ist Symptom für ein System, das eine Reform dringend nötig hat https://condorcet.ch/2021/10/der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-er-ist-symptom-fuer-ein-system-das-eine-reform-dringend-noetig-hat/ https://condorcet.ch/2021/10/der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-er-ist-symptom-fuer-ein-system-das-eine-reform-dringend-noetig-hat/#comments Fri, 08 Oct 2021 10:04:08 +0000 https://condorcet.ch/?p=9443

Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier einen gut recherchierten Artikel des NZZ-Journalisten Niels Pfändler. Er beschreibt die Hintergründe zum Fall "Rodriguez" und zeigt auf, in welchem Masse der vom Condorcet-Blog oft kritisierte bildungspolitische "Überbau" sich der Schule bemächtigt hat. Das Ergebnis ist weder qualitätsfördernd noch ressourcenschonend.

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Niels Pfändler: Die Lösungen liegen in der Schublade.

Es klingt wie ein Lehrstück über Vetternwirtschaft: Ein hohes Behördenmitglied tritt freiwillig aus dem Amt, lässt sich von einem Gremium, das es selber präsidiert, in eine grosszügig bezahlte Stelle wählen und kassiert dafür auch noch eine Abfindung von 650 000 Franken. Genau so spielte sich die Geschichte ab – diesen Sommer in Zürich.

Der Fall des ehemaligen Schulpräsidenten des Schulkreises Uto, Roberto Rodriguez, schlug Ende Juli hohe Wellen. Selbst wenn die Abfindung von 3,5 Jahreslöhnen laut Verordnung rechtmässig war und der SP-Mann schliesslich auf die neue Stelle verzichtete, dürfte sich manch ein Beobachter über das bunte Treiben in der grössten Schweizer Stadt gewundert haben. Von Abzocke, Postenschacher und Machtmissbrauch war die Rede.

Das führt zu unklaren Verantwortlichkeiten, zu Ineffizienz und Doppelspurigkeit. Im schlimmsten Fall – und das hat der Fall Rodriguez bewiesen – auch zu Klüngelei.

Viele dürften im Zuge dieser Sommeraffäre gemerkt haben, wie kompliziert die Organisation der Stadtzürcher Schulbehörden ist. Das Konstrukt ist historisch gewachsen, mittlerweile ist es so unübersichtlich, veraltet und verschlungen, dass kaum jemand mehr den Durchblick hat. Das führt zu unklaren Verantwortlichkeiten, zu Ineffizienz und Doppelspurigkeit. Im schlimmsten Fall – und das hat der Fall Rodriguez bewiesen – auch zu Klüngelei.

Seit Jahrzehnten gibt es Versuche, das System zu reformieren. Bis jetzt erfolglos. Dabei wäre eine Neuerung dringend nötig. Denn die Organisation ist ein Konstrukt von vorgestern, das den Herausforderungen von morgen nicht gewachsen ist.

Ein stummer König

Zuoberst auf dem staubigen Thron der Zürcher Schulorganisation sitzt der Stadtrat und Schulvorsteher Filippo Leutenegger. Doch Leutenegger ist ein König ohne Macht. Denn bei vielem, was die Volksschule angeht, hat der FDP-Mann kaum etwas zu sagen.

Überholte Schulorganisation.

Das hat auch der Fall Rodriguez gezeigt. Er habe erst spät von den Vorgängen erfahren und danach gar nicht eingreifen können. Das beteuerte der Stadtrat in einem Interview mit der NZZ, und das lässt sich auch am verschachtelten Organigramm der Zürcher Schule festmachen: Rodriguez war einer von sieben Schulpräsidenten. Sie stehen in der Stadt Zürich den sieben Schulkreisen vor. Alle Präsidenten bilden zusammen mit dem Schulvorsteher die Schulpflege.

Ausserhalb dieses Gremiums hat Leutenegger aber kaum Einfluss. Denn die sieben Schulpräsidentinnen und Schulpräsidenten regieren in ihren sieben teilautonomen Schulkreisen auf derselben Hierarchiestufe wie die Schulpflege und geniessen dabei reichlich Freiheiten.

Eine Stadt, 175 Pestalozzis

Doch es wird noch komplizierter. Pro Kreis zählt jede Schulbehörde 25 Mitglieder. Mit insgesamt 175 Personen ist der Apparat deutlich grösser als das Stadtparlament mit seinen 125 Mitgliedern. Die Kreisschulbehörden gehören zwar alle zur selben Stadt, sie tüfteln aber vieles selber aus und agieren mitunter so, als ob sie in Pestalozzi-Manier die Schule neu erfinden müssten.

Der Schulkreis Waidberg pflegt neben einer Aufsichtskommission auch noch eine Kommission zur Integration fremdsprachiger Kinder und eine Verkehrskommission. Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch. Es umfasst 61 Seiten.

Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch: 61 Seiten!!!

Sie verfassen eigene Programme, Leitbilder und Geschäftsordnungen, in denen sie pädagogische Konzepte oder Richtlinien fürs Personal- und Krisenmanagement festhalten. Der Schulkreis Waidberg pflegt neben einer Aufsichtskommission auch noch eine Kommission zur Integration fremdsprachiger Kinder und eine Verkehrskommission. Die Kreisschulbehörde Letzi führt ein eigenes Organisationshandbuch. Es umfasst 61 Seiten.

Munteres Kompetenzenwirrwarr

Das Wirrwarr bei den Zuständigkeiten geht über die Stadtgrenze hinaus. Das zeigt sich bei der Frage, wer sich alles um die Qualität der Schulen kümmert. Beim Kanton heisst es, dass die Fachstelle für Schulbeurteilung «die Qualität der Schulen aus pädagogischer und organisatorischer Sicht» prüft. Bei der Stadt heisst es, dass das Schulamt «strategisch und operativ zuständig für die Qualität der städtischen Volksschule und für ihre Weiterentwicklung» sei. Und bei den Schulkreisen heisst es, dass die dortigen Behörden «verantwortlich für die Qualität der Schule» sind.

Ob so viel Qualitätssicherung die Qualität tatsächlich erhöht, sei dahingestellt. Jedenfalls steht in den Schulkreisen der bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis zu den Kompetenzen, welche den Behörden tatsächlich zukommen. Vor allem, weil ab 2022 eine ihrer wichtigsten Aufgaben wegfällt: die Beurteilung der Lehrerinnen und Lehrer. Neu sind die Schulleiter dafür zuständig. Ein längst überfälliger Schritt.

Filippo Leutenegger, Stadtrat FDP: Die Situation ist unbefriedigend, wenn nicht sogar unhaltbar.

Festklammern am Status quo

Die Mängel im System sind bekannt. Die Strukturen seien «unbefriedigend, um nicht zu sagen unhaltbar», sagte auch Filippo Leutenegger jüngst gegenüber der NZZ. Schon zwei seiner Vorgänger hatten probiert, einen Reformprozess anzustossen. Angeregt von einer Motion der SP und der AL im Gemeinderat, startete nun vor kurzem ein neuer Versuch.

Es spricht aber nicht viel dafür, dass sich grundlegend etwas ändern wird. Die Strukturen sind festgefahren, und die Meinungen darüber, wie sie entflochten werden könnten, gehen weit auseinander. Zudem ist der Status quo nicht nur für die Mitglieder der einzelnen Kreisschulbehörden, sondern auch für die Parteien lukrativ.

 

Ein Schulpräsident wie Roberto Rodriguez verdient gegen 190 000 Franken pro Jahr. Für die 24 nebenamtlichen Behördenmitglieder winkt nicht nur ein Einstieg in die städtische Politik, sondern auch ein jährlicher Verdienst von durchschnittlich 10 000 Franken, wie das Schuldepartement auf Anfrage bekanntgibt.

Das Geld lässt auch die Kassen der Parteien klingeln – allen voran der SP. Denn sowohl die Schulpräsidenten als auch die Mitglieder der Kreisschulbehörde sind vom Volk gewählt und gehören in den allermeisten Fällen einer Partei an. Die Sozialdemokraten stellen als stärkste Partei der Stadt die meisten Behördenmitglieder. Gegenwärtig gehören fünf der sieben Schulpräsidenten und rund ein Drittel der 175 Behördenmitglieder der SP an.

Nun muss man wissen, dass die SP von ihren Mitgliedern sogenannte Parteiausgleichsbeiträge verlangt. So will es das Reglement. Bei tieferen Einkommen von nebenamtlich tätigen Personen fällt das nicht so ins Gewicht. Vollamtliche Behördenmitglieder zahlen aber einen um 30 Prozent höheren Beitrag. Die Berechnungsskala ist öffentlich einsehbar. Es lässt sich deshalb beziffern, dass via die Mitglieder der Zürcher Kreisschulbehörden jährlich mehr als 100 000 Franken in die Parteikasse der SP fliessen.

Neben dem politischen Einfluss sind die Posten für die SP also auch finanziell attraktiv. Es ist deshalb naheliegend, dass manch einer in den Reihen der Partei wohl kein grosses Interesse daran haben wird, das System zu reformieren.

Angst vor der «Verwaltungsschule»

Wie wichtig die Parteizugehörigkeit in den Kreisschulbehörden nach wie vor ist, zeigt ein Blick auf den Schulkreis Letzi. Dort empfahl die abtretende Präsidentin, Barbara Grisch von der SP, einen Kandidaten von der FDP als Nachfolger. Das passte ihrer Partei nicht. In einem aufwendigen Wahlkampf hievte sie eine Genossin auf den Posten. Der Knatsch hatte Folgen für Grisch: Sie trat nach mehr als 25 Jahren aus der Partei aus.

Solche Spielchen wie in den Schulkreisen Letzi und Uto schaden dem Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden. Dabei wäre dieses heutzutage besonders wichtig. In den kommenden Jahren entstehen Dutzende neue Schulhäuser, und mit dem Ausbau der Tagesschulen verbringen die Kinder immer mehr Zeit in der Schule. Die demokratische Legitimation in der Bevölkerung und eine direkte Verbindung von Eltern und Schule sind deshalb unabdingbar.

Es ist aber fraglich, ob es dafür eine Behörde mit vielen Mitgliedern und wenig Kompetenzen braucht. Klar, das System ist historisch gewachsen. Das kann eine Erklärung sein, aber keine Ausrede. Nun bietet sich einmal mehr die Chance, eine Reform anzupacken. Sie sollte nicht verpasst werden.

Lösungen in der Schublade

Ansätze, wie das System künftig aussehen könnte, gibt es schon lange. Bereits im Jahr 2009 hat das Consulting-Unternehmen Ernst & Young zusammen mit dem Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Zürich für die Stadt einen Bericht verfasst, der mehrere Szenarien für eine schlankere Schulstruktur präsentiert. Passiert ist seither wenig. Dabei könnte das 124 Seiten starke Dokument fast eins zu eins auf die Gegenwart angewendet werden.

Das favorisierte Modell sieht eine klare Führungslinie zwischen dem Schulvorsteher, dem Leiter des Schulamts, sieben parteiunabhängigen Schulkreisleitern und den Schulleitern vor. Eine demokratisch legitimierte siebenköpfige Schulpflege amtet als Rekursinstanz und beaufsichtigt die städtische Volksschule. Die Politik, die Eltern und das Schulpersonal wirken via Schulbeirat oder Elternräte direkt auf der Ebene der Schulen mit.

Dadurch entstehen klare Verantwortlichkeiten, die Parteipolitik erhält weniger Gewicht, und das ganze System wird entschlackt, ohne die Teilnahme der Bevölkerung zu verlieren. Meilen, Dübendorf, Volketswil, Kloten, Dietikon, Maur und viele weitere Gemeinden haben bereits seit längerem ein ähnliches System. Winterthur hat am Sonntag mit der Abstimmung zur neuen Gemeindeordnung einem vergleichbaren Modell mit einer Leitung Bildung zugestimmt.

Auch in Zürich liegen die Ideen für eine Abspeckkur schon lange auf dem Tisch – oder heute wohl eher verstaubt in irgendeiner Schublade der Behörden. Es ist Zeit, sie endlich wieder hervorzunehmen.

Niels Pfändler, Journalist NZZ

Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen:

https://www.nzz.ch/meinung/schulbehoerden-in-zuerich-der-fall-rodriguez-war-kein-zufall-ld.1645905

 

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Offener Brief: Endlich die Fakten anerkennen und handeln https://condorcet.ch/2020/03/offener-brief-endlich-die-fakten-anerkennen-und-handeln/ https://condorcet.ch/2020/03/offener-brief-endlich-die-fakten-anerkennen-und-handeln/#respond Wed, 18 Mar 2020 18:04:32 +0000 https://condorcet.ch/?p=4313

Der ehemalige Fahrdienstleiter und Lehrlingsausbildner der SBB und pensionierte Mittelstufenlehrer Hans-Peter Köhli ist im Kanton Zürich kein Unbekannter. In einem leidenschaftlichen Brief an die Bildungsverantwortlichen seines Kantons fordert er die Rückkehr der ausgebildeten HeilpädagogInnen und ihrer Sonderklassen. Wenn es der Gesichtswahrung dient, auch verbunden mit einem Namenswechsel.

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Offener Brief                                                  1

an die Mitglieder des Bildungsrates Kt. Zürich

Eingeschrieben zugestellt per Post am 12.3.2020

Integrativer Unterricht

Sehr geehrte Frau Bildungsdirektorin

Sehr geehrte Damen und Herren

Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen eine Angelegenheit unterbreite, welche in unserem Kanton nicht nur für Gesprächsstoff, sondern zunehmend auch für Ärger und Missstimmung sorgt. Es geht um die Integration in den Volksschulen. Bekanntlich sollen gemäss Theorie sämtliche Kinder in Normalklassen eingeteilt werden, auch wenn sie zum Teil erheblichen Förderbedarf infolge Beeinträchtigungen aller Art aufweisen. Dieses System wurde von Fachleuten von allem Anfang an als untauglich beurteilt; trotzdem setzten es seine Befürworter aus ideologischen Gründen in Kraft und halten auch heute noch krampfhaft daran fest, obwohl die Mängel immer offenkundiger und die Proteste zusehends lauter werden.

Grosses Engagement der Kindergärtnerinnen

Nur: unter dem Wort „Mängel“ können sich die wenigsten Leute etwas vorstellen. Deshalb erlaube ich mir, nachstehend eine Situation zu beschreiben, welche in manchen Schulzimmern der verschiedenen Stufen leider momentan häufig vorkommt, ohne dass dies den massgebenden Leuten in Politik und Behörden bewusst ist. Als Freiwilliger der Pro Senectute besuche ich seit Jahren Kindergärten, was mir viel Spass und Freude bereitet. Ich bewundere auch das Wirken der Kindergärtnerinnen, welche ihre Aufgabe hervorragend versehen, obwohl die Anforderungen mit fremdsprachigen, zugezogenen Kindern aus anderen Kulturkreisen einerseits und den obgenannten „Integrierten“  immer anspruchsvoller werden.

So einem Kindergarten mit 20 Kindern wurde vor einiger Zeit ein Knabe zugeteilt, weil es offenbar an einem andern Ort zu „Schwierigkeiten“ mit ihm gekommen war. Das verwundert nicht. Beim meinem Eintreffen an einem Vormittag sass er lächelnd in einer Ecke, eng „bewacht“ von einer Klassenassistentin. Lässt man ihn frei, bewegt er sich im Zimmer nach Lust und Laune, macht, was er will und fügt sich in keiner Weise den Anordnungen der Kindergärtnerin. Sollten die Kinder ruhig im Kreis sitzen, rennt er umher oder wälzt sich am Boden, sollte es leise sein, kräht er laut hinaus, neckt und plagt die andern oder wirft Gegenstände herum. Sollten die Kinder nach dem Spielen im Freien nach einem Signal zurück zum Besammlungsort, kann man meist vergessen, dass dieser Bub auch kommt. Er muss z.B. irgendwo hinter einem Gebüsch persönlich mit Gewalt abgeholt werden, und es ist nicht ausgeschlossen, dass beim Vorbeigehen an den Kameraden ein anderer noch mit einem Fusstritt in den Hintern bedient wird.  Sanktionsmöglichkeiten gibt es praktisch keine oder sie beeindrucken überhaupt nicht. Die Assistentin kann höchstens mit ihm in den Korridor dislozieren und ihn dort unter vier Augen irgendwie unterhalten oder eben gar festhalten; ein normales Eingliedern in den Klassenverband ist unmöglich.

Unwürdige Situation

Sehr geehrte Frau Bildungsdirektorin, sehr geehrte Damen und Herren! Das kann es ja wohl nicht sein. Solche Szenen sind einer normalen Klasse unserer Volksschule schlicht und einfach unwürdig, und es handelt sich nicht um einen Einzelfall. Eine gezielte, regelmässige Therapie durch eine heilpädagogisch ausgebildete Person fehlt. Es ist reiner Irrwitz: Irgendeine Hilfskraft wird quasi nur deshalb als Assistentin eingestellt, um einen einzigen Buben zu beaufsichtigen! Schulleitung und Schulpflege sind informiert. Von dort heisse es nur, man könne nichts machen. Das Volk habe abgestimmt und diese Integration gewollt.

Dabei war schon vor Einführung klar, dass niemals genügend Therapeutinnen zur Verfügung stehen würden, um die Versprechungen einzuhalten und dass viele Fachleute auch aus andern Gründen ein Fiasko kommen sahen.

Untaugliche Lösung

Nein, behaupte ich mit aller Entschiedenheit. Das Stimmvolk wünscht ganz sicher keine solchen Zustände; es hörte leider im Abstimmungskampf auf all die Schalmeien, welche die Integration in höchsten Tönen anpriesen. Dabei war schon vor Einführung klar, dass niemals genügend Therapeutinnen zur Verfügung stehen würden, um die Versprechungen einzuhalten und dass viele Fachleute auch aus andern Gründen ein Fiasko kommen sahen. Wenn nun die Schulhäuser von der Bildungsdirektion mit Assistenzen geflutet werden, ist das eine völlig untaugliche Lösung. Diesen Zusatzkräften  verschiedenster Provenienz ist es ja gemäss Erlass explizit untersagt, therapeutische Handlungen vornehmen; sie können nur allgemein beschränkt etwas helfen, weil die pädagogische Ausbildung und meist auch die nötige Erfahrung fehlt. Niemandem ist mit derartigen Abläufen geholfen.

Am meisten zu bedauern ist dieser Knabe selber.

∎        Am meisten zu bedauern ist dieser Knabe selber. Er hat offensichtlich Probleme, ist vermutlich irgendwie traumatisiert und bedürfte einer klaren heilpädagogischen Behandlung. Könnte eine Therapeutin in einer seiner mitunter auch einmal vorkommenden ruhigeren Phasen gezielt mit ihm arbeiten, liessen sich vermutlich langfristig doch gewisse Fortschritte erzielen. Die Zwangseingliederung in einen normalen Kindergarten bringt ihm jedoch überhaupt nichts, vielmehr ist es ein total falsches Rezept und verschlimmert nur seine tragische Situation.

∎        Hut ab vor der Kindergärtnerin, die durchhält, auf die Zähne beisst und versucht, trotz allem den Betrieb noch aufrecht zu erhalten. Es ist jedoch eine Zumutung, der Lehrperson nebst den üblichen Herausforderungen (auch bei den andern Kinder sind längst nicht alles Engel!) noch einen derart harten Brocken aufzuladen. Vielerorts schwindet deshalb die Bereitschaft, solches noch länger mitzumachen, immer mehr.

∎        In höchstem Masse ungünstig ist das Geschehen für die übrigen Kinder. Die ganze Atmosphäre im Kindergarten ist beeinträchtigt. Ständig muss man mit irgendwelchen Eskapaden dieses Buben rechnen. Einige scheue Kinder bekunden Angst, während bei anderen die Gefahr besteht, dass sie sich beeinflussen lassen und auch ins Fahrwasser von Allotria und Befehlsverweigerung geraten.

∎        In grossem Masse betrogen kommen sich die Eltern vor, welche derartige Kinder mit Förderbedarf in die Regelklassen abgeben bzw. abgeben müssen. Wie oben erwähnt wurde vor den betr. Reformabstimmungen beteuert, besonders ausgebildete Heilpädagoginnen würden alles tun, um solchen Kindern im Rahmen einer Normalklasse grösstmögliche Unterstützung angedeihen zu lassen. Oft ist man nun aber in keiner Weise in der Lage, dieses Versprechen einzuhalten. Und weil die Prognosen punkto Kinderzahl in den nächsten Jahren einen enormen Anstieg voraussagen, ist auch mit zunehmendem Bedarf an Heilpädagoginnen zu rechnen, die künftig trotz vermehrter Rekrutierung erst recht fehlen werden.

∎        Aber auch den Eltern der „normalen“ Kinder bleiben die Geschehnisse auf die Dauer nicht verborgen; gewisse Kinder rapportieren genau, was im Chindsgi läuft. Die einen Eltern dürften sich fragen, was denn da los ist, bei andern stellt sich schon rasch Empörung ein und manch ein Elternpaar findet wohl wie jeder aussenstehende Beobachter auch, dieser Aufwand für ein einziges Kind sprenge jeden Rahmen.

∎        Bewusst zuletzt sei auch auf die Finanzen hingewiesen. Wir sind uns wohl einig: bei der Bildung soll wenn möglich nicht gespart werden. Aber hier drängt es sich schon auf, etwas zu rechnen. Irgendeinmal wird dann auskommen, was all diese Klassenassistenzen kosten, obwohl sie die Misere überhaupt nicht beheben. Und man wird mit jenem Betrag vergleichen müssen, der die Wiedereinführung von Kleinklassen kosten würde, welche in der Sache dem Assistenzmodell weit überlegen sind. Ich wage zu behaupten, die Aufwendungen für Kleinklassen wären klar geringer, und ein Einschreiten würde sich auch in finanzieller Hinsicht lohnen.

Von mir aus mit Namenswechsel!

Man könne „nichts machen“, heisst es. Doch! Andere Behörden handelten und gaben zu, dass sich die Idee mit der Integration nicht bewährt hat. Es fiel ihnen deshalb kein

Zacken aus der Krone. Der Kanton Basel-Stadt hat in vorbildlicher Weise wieder heilpädagogische Kindergärten und heilpädagogische Klassen auf Primar- & Oberstufe eingeführt, die sogenannten „SpA“, „Klassen mit Spezialangeboten“. Abgesehen davon existieren auch im Kanton Zürich Gemeinden, welche auf eigene Faust bereits wieder mit gewissen Kleingruppen arbeiten und es wagen, sich dem unsinnigen Diktat von oben zu widersetzen.

Ängstliche Stimmen geben vielleicht zu bedenken, mit der Rückkehr zu Kleinklassen würde der Kanton Zürich einen Volksentscheid missachten. Erstens, wie oben erwähnt, wurde das Volk vor der Abstimmung in Sachen Therapeutinnen brandschwarz angelogen, und es will sicher kein Tohuwabohu in seinen Schulklassen. Zweitens nehmen es Bildungsdirektion und Pädagogische Hochschule mit der exakten Durchsetzung von Volksentscheiden und dem Respekt vor dem Stimmvolk auch nicht immer peinlich genau. Stichwort Grundstufe…

Als Stimmbürger unseres Kantons fordere ich deshalb den Bildungsrat des Kantons Zürich auf, endlich, aber nun rasch möglichst, wieder flächendeckend die früher bewährten Kleinklassen mit heilpädagogisch ausgebildetem Personal einzuführen. Es wäre unverantwortlich, noch lange zuzuwarten. Nicht nur für verhaltensgestörte Kinder sind solche Abteilungen vorzusehen, sondern je nach Bedarf auch für das ganze Spektrum der früheren Typen A, B, C, D und E. Dies allerdings darf keinesfalls auf Konto der Gemeinden erfolgen, sondern muss der früheren Finanzregelung im sonderpädagogischen Sektor entsprechen.

Was den Namen der neuen Einrichtung betrifft, wäre meines Erachtens durchaus vorstellbar, sich den Baslern anzuschliessen. Ältere Leute erinnern sich noch gut, dass die heilpädagogischen Klassen bei uns aus taktischen Gründen mehrmals den Namen wechselten, obwohl Aufgaben und Ziele nicht änderten: Hilfsklasse, Spezialklasse, Sonderklasse, Kleinklasse und jetzt – ja, die schlauen Basler haben Recht. Mit der freundlich wirkenden Bezeichnung „Klassen mit Spezialangeboten“ bzw. „Kindergärten mit Spezialangeboten“ und der Abkürzung „SpA“ hat man de facto die Sonderklassen wieder – aber das SPA tönt weit besser und weckt zudem positive Assoziationen, während gleichzeitig die Schulbehörden ihr Gesicht wahren können.

Noch ein letzter Hinweis: Es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man erfährt, wie gross der zunehmende Bedarf an Lehrpersonen aller Art in den nächsten Jahren sein wird. Der Bildungsrat täte gut daran, auch diesen Gesichtspunkt prioritär in seine Überlegungen einzuschliessen. Was in solchen Klassen wie der beschriebenen geschieht, spricht sich herum und ist alles andere denn Werbung für die sonst schöne und befriedigende Tätigkeit einer Lehrerin oder eines Lehrers. Der Beruf sollte aber unbedingt wieder eine positive Ausstrahlung bekommen; steigende gesellschaftliche Anerkennung würde garantiert ebenfalls mithelfen, den nötigen Nachwuchs problemlos zu gewinnen.

Mit freundlichen Grüssen

Hans-Peter Köhli, Arbentalstr. 256, 8045 Zürich

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