Lernbegleiter - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 19 Jan 2021 17:05:52 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lernbegleiter - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Guter Unterricht lebt vom Dialektischen https://condorcet.ch/2021/01/guter-unterricht-lebt-vom-dialektischen/ https://condorcet.ch/2021/01/guter-unterricht-lebt-vom-dialektischen/#respond Tue, 19 Jan 2021 17:05:52 +0000 https://condorcet.ch/?p=7522

Das Pendel mag eine abgedroschene Metapher sein. Und doch hat es in der Pädagogik seine Be-deutung. Es zeigt Ausschläge und verweist auf zeitgeistige Aufgeregtheiten und didaktische Ein-seitigkeiten, meint Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Keine Verabsolutierung einer Unterrichtsmethode.

„Il näsch“. So schrieb vor einiger Zeit ein junger Gymnasiast das Französisch-Sätzlein „il neige“ auf. Der Schüler wollte sich den Ausdruck einprägen; doch eine trendige Didaktik verbot das (Auf-)Schreiben. Die damalige Fremdsprachen-Methode setzte ganz auf das Audiovisuelle, auf Ton und Bild. Schriftliches blieb tabu. Das Einseitige mit dem Primat des Mündlichen benachteiligte bestimmte Lerntypen. Sie behalfen sich mit unbeholfenen Notizen. So gut es eben ging. Das Unterrichtkonzept ist in der Zwischenzeit zwar verschwunden, nicht aber der Degout vieler Schüler vor dem Französisch.

 

Pädagogische Einseitigkeiten

Sich die Buchstaben selber erarbeiten.
Bild: AdobeStock

Das ist kein Einzelfall. Bekannt ist die Methode „Schreiben nach Gehör“, auch „Lesen durch Schreiben“ genannt. In die Schulen gebracht hat sie Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Sein Ziel: Das Buchstabenbüffeln beenden; die Kinder sollen sich die Schriftsprache selbst erarbeiten.[1] Mit Hilfe einer Buchstabentabelle schreiben sie so, wie sie die Wörter hören. Spontan und ohne fremde Hilfe. Auf diese Art verwandeln sie Sprache in Schrift. Fehler werden nicht korrigiert. Das demotiviere die Kinder, so Reichen. Auch explizites Üben untersagte er. Vielen blieb so der Weg zu einem korrekten Deutsch verwehrt. Nun verbieten verschiedene deutsche Bundesländer diese Methode. In der Schweiz hat der Kanton Aargau „Lesen durch Schreiben“ aus dem Lehrmittelkatalog gestrichen. Nidwalden stoppt diese Unterrichtsmethode ab der 2. Primarstufe.

Entgegengesetzte Richtung

Das pädagogische Pendel schwingt auf die eine, dann auf die andere Seite, sei es eher im methodischen Bereich, sei es mehr im pädagogischen Kontext. Ödes Pauken und freudloses Faktenlernen, wie es beispielsweise Hanno Buddenbrook unter dem preussischen Drillmeister „Direktor Doktor Wulicke“ erlebt hat,[2] ist glücklicherweise verschwunden. Der Perpendikel schlug eher nach der entgegengesetzten Seite aus: Lernen soll primär „Spass“ machen.

Aktuelle Pendelausschläge

Das Pendel wird nie stillstehen; aktuelle Stichworte verdeutlichen es: „Vom Lehren zum Lernen“ wird postuliert oder „Beziehung statt Erziehung“ propagiert. Da ist von „von der Instruktion zum selbstregulierten Arbeiten“ die Rede und „von Inhalten zu Kompetenzen“. Alle diese didaktischen Devisen und pädagogischen Postulate zielen auf ein Entweder-oder, auf einen Pendelschlag in diese oder in jene Richtung. Sie lassen nur das das Eine gelten, und dieses Eine wird hypemässig überhöht und verabsolutiert.

Wissen lässt sich nicht outsourcen

Lehrplan 21,
Kompetenzorientierung ist angesagt

„Kompetenzorientiert statt wissensbasiert“, so hört man im Zusammenhang mit dem Lehrplan 21 vielfach und dazu den Hinweis: Wissen lasse sich googeln; entscheidend seien Kompetenzen. Dieser Slogan verkennt, dass es kein Können ohne grundlegendes Wissen im traditionellen Sinne geben kann; Wissen lässt sich nicht outsourcen. Das Schlagwort negiert, dass wirksame Lernprozesse aus einem Sowohl-als-auch entstehen, dass vermeintlich Gegensätzliches sich gegenseitig auch bedingt. Das erinnert an die prominenten Zwillinge Inhalt und Form. Zum guten Burgunder gehört auch ein Burgunderkelch.

Ein dialektisches Begriffspaar

Augenfällig wird das beispielsweise am Begriffspaar von Freiheit und Sicherheit. Die beiden Begriffe widersprechen sich – je nach Perspektive, aus der man argumentiert. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, und doch bedingen und ergänzen sie sich – ähnlich wie Yin und Yang. Jede Freiheit bedarf einer gewissen Sicherheit, eines Rahmens, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Und jede Sicherheit schafft auch Freiheit, weil sie einen Rahmen formt, innerhalb dessen man wieder frei sein kann.

Stabiles Geländer nötig

Analog könnte man sagen: Junge Menschen sollen zur persönlichen Autonomie geführt werden, doch dazu brauchen sie auch Strukturen, die sie stützen, eine Art von Rahmen. Auf dem Weg zur Selbständigkeit benötigen viele Kinder ein stabiles Geländer; über gezielte Feedbacks vermittelt es ihnen Halt und Sicherheit. Impulsgeberin ist die vital präsente Lehrperson, verantwortlich ein anregendes und führendes Visavis.

Kaum je wird bei diesem aktuellen Pendelschlag die Frage gestellt, was beim „selbstregulierten Lernen“ denn reguliert werden solle? Reguliert sich das Lernen selbst?

Lernen als gezielt gesteuerter Prozess

Unverständlich bleibt darum, dass erfahrene Lehrpersonen den „Lerncoach“ und damit das „selbstregulierte Lernen“ ihrer Schüler ins alleinige Zentrum des Unterrichts rücken – und sich selber zum „Lernbegleiter“ degradieren.[3] Kaum je wird bei diesem aktuellen Pendelschlag die Frage gestellt, was beim „selbstregulierten Lernen“ denn reguliert werden solle? Reguliert sich das Lernen selbst? Und wie begleitet man selbstreguliertes Lernen?

Wie lernen Schülerinnen und Schüler?

Die Antwort der Bildungswissenschaft ist unmissverständlich: Reguliert werden primär Lernprozesse. Lernen ist immer Aufbauen und Konsolidieren. Doch das können die wenigsten Kinder und Jugendlichen aus sich selbst heraus vollziehen. Notwendig ist ein engagiertes Gegenüber. Beim Lernen geht es um Verstehen, um Behalten oder Einprägen und dann um das Abrufen und das Weiterverarbeiten wie das Anwenden in neuen Kontexten – sei es Wissen oder Können. Das Lernergebnis dieser wichtigen Teilprozesse hängt von ihrer ganz spezifischen Interaktion ab.[4] Es basiert auf Austausch und Korrektur. Einseitigkeiten führen nicht weiter; schulische Lernprozesse sind dialektische Vorgänge. Gesteuert werden sie von verantwortungsbewussten Lehrpersonen.

Mischwald ist besser als Monokultur

Einseitigkeiten sind unhaltbar

Guter und effizienter Unterricht erfordert darum eine angemessene Balance, einen dynamischen Mix aus verschiedenen Methoden und Formen. Mischwald sei besser als Monokultur, sagen die Fachleute.[5] Besonders erfolgreich wirkt eine aktive Lehrperson mit einem lehrerzentrierten, aber ausgesprochen schülerorientierten und schüleraktivierenden Unterrichtsstil. Der renommierte Bildungsforscher John Hattie bezeichnet ihn als „Direkte Instruktion“.[6] Sie hat nichts zu tun mit einem monotonen Frontalunterricht. Aus der Forschung wissen wir, dass Schüler, erst recht solche mit Lernschwierigkeiten und defizitären Sprachkompetenzen, unbedingt eine starke Struktur und klare Führung brauchen. Sie sind auf ein kognitives Gerüst und viele kurzschrittige Hilfen, Inputs und Feedbacks angewiesen. Das (unter-)stützt sie entscheidend.

Gutem Lernen hinderlich ist die Verabsolutierung einer bestimmten Unterrichtsmethode: Die Lehrerin nur als Lernbegleiterin oder Coach sehen, den Lehrer nur als Dozierenden, das lässt sich nicht legitimieren.

 Die Farben der Schule sind die Zwischentöne

Als Verehrer der heiligen Dialectica sehe ich vieles in Spannungsfeldern. Ganz besonders im pädagogischen Alltag. Dazu gehört auch die Antinomie zwischen Instruktion und Konstruktion, zwischen dem lehrergelenkten Impuls-Geben und dem schülerzentrierten Selber-Tun. Es kommt mir vor, als müssten einige Pädagogen zuerst Hell und Dunkel erkennen und sich so bewusst werden, dass dies bloss zwei Pole sind. Dazwischen liegen unzählige Schattierungen. Vielleicht sind die Farben der Schule eben die Zwischentöne. Oder konkret formuliert: So viel Autonomie der Lernenden wie möglich, so viel Unterstützung und Hilfe durch die Lehrerinnen und Lehrer wie nötig.

 

(1) Jürgen Reichen (1988), Lesen durch Schreiben. Wie Kinder selbstgesteuert lesen lernen. Heft 1. . Aufl. Zürich: sabe Verlag

[2] Thomas Mann, Hanno Buddenbrook, in: Wo waren wir stehengeblieben…? Schulgeschichten. Hrsg. Martin Gregor-Dellin (1969), Frankfurt am Main: Fischer Bücherei, S. 14.

[3] In: Bote der Urschweiz, 07.01.2021, S. 10.

[4] Gerhard Steiner (2020), Selbstreguliertes Lernen – Voraussetzungen zu seiner Genese, in: Damian Miller & Jürgen Oelkers (Hrsg.), „Selbstgesteuertes Lernen“: Interdisziplinäre Kritik eines suggestiven Konzepts. Mit Nachbemerkungen zum Corona-Lockdown. Basel/Weinheim: Beltz/Juventa, S. 131f.

[5] Hilbert Meyer (2004). Was ist guter Unterricht? 2., durchgesehene Auflage. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor, S. 9.

[6] John Hattie & Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. 2. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 91f.

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„Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung.“ https://condorcet.ch/2020/12/der-begriff-lernbegleiter-ist-fuer-mich-das-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/ https://condorcet.ch/2020/12/der-begriff-lernbegleiter-ist-fuer-mich-das-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/#respond Wed, 30 Dec 2020 12:25:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=7366

Im Interview mit dem Magazin "Realist" äussert sich der promovierte Pädagoge und Medienexperte Prof. Dr. phil. Ralf Lankau zum Thema "Digitale Transformation von Schule?" Für ihn ist der Einsatz von Medientechnik kein Qualitätsmerkmal von gutem Unterricht, er warnt gar vor den übersteigerten Versprechungen digitaler Zukunftsvisionen, hinter denen sich Interessen verbergen, die in der Schule definitiv nichts zu suchen haben. Ralf Merkle, Landesgeschäftsführer des Realschullehrerverbands Baden-Württemberg RLV, hat das hier gekürzt wiedergegebene Gespräch geführt, das wir hier mit freundlicher Genehmigung von Ralf Lankau veröffentlichen.

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Ralf Lankau, GBW, Professor HS Offenburg

REALIST: Herr Professor Lankau halten Sie Asimovs Zukunftsvision, die er in seiner Erzählung “Die Schule” schildert, wirklich für realistisch?

LANKAU: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Pädagogisch ist diese Form der automatisierten Beschulung und das kleinteilige Testen von Lernleistung keine Option. Lernen ist an sich ein individueller und sozialer Prozess, wir lernen im Dialog und in Beziehung, wir brauchen ein Gegenüber. Margies Lernmaschine erlaubt nur eine Form von Drill und führt allenfalls zu Lernbulimie. Aber es gibt IT-Unternehmen, die solche Techniken bereits an Schülerinnen und Schülern ausprobieren. Ein Beispiel ist Facebook mit “Summit Learning”. Das Versprechen: Eltern kaufen einen Laptop, die Schule stellt die Räume und Sozialcoaches als Aufsicht, Facebook übernimmt das Unterrichten übers Netz. Es ist komplett gescheitert. Die Eltern haben ihre Kinder reihenweise ab- und auf kostenpflichtige Privatschulen umgemeldet, weil den Kindern der Sozialkontakt fehlte und sie am Laptop körperlich und psychisch regelrecht verkümmerten.

REALIST: Welche Anzeichen der Verwirklichung dieser “digitalen Zukunftsvision von Schule” sehen Sie schon heute?

Isaac Asimov: Automatisierte Beschulung

LANKAU: Digitale Zukunftsvision von einer Schule werden seit über 30 Jahren für jede neue Gerätegeneration und mit den immer gleichen Argumenten formuliert: Rechner und Software seien modern, innovativ, lernförderlich und motivierend. Wissenschaftlich belegt ist davon nichts, im Gegenteil. (…) Lernen soll messbar werden und möglichst vorhersagbare Ergebnisse “produzieren”. Die Konzepte kommen aus der Konsumgüterindustrie und werden auf soziale Einrichtungen übertragen. Die Begriffe sind Prozesssteuerung und -optimierung, Effizienz und Kostenreduktion. De facto ist es Automatisierung. Digitaltechnik ist nur die technische Infrastruktur. Im Kontext Schule wird daraus die “Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen” (Humankapitaltheorie).

Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern kann.

Die Theorien und Modelle im Kontext Schule sind empirische Bildungsforschung und datengestützte Schulentwicklung. Dafür braucht man immer mehr Daten, dafür werden von Psychologen immer neue Methoden entwickelt und an Schülerinnen und Schülern getestet, die per Learning Analytics ausgewertet werden. Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern kann. Das Problem: Bei technischen Abläufen funktioniert es, nur sind Menschen zum Glück keine Maschinen, sondern Individuen. Damit kommt es zum Gegensatz Humanität versus Digitalität.

REALIST: Eine Digitalisierung, wie von Ihnen eben beschrieben, würde also letztlich zu einer “inhumanen Schule” führen?

Realist, das Magazin des Realschullehrerverband von Baden-Württemberg

LANKAU: Ja, wenn man Empirikern, Psychologen und Systemanbietern die Regie überlässt. Empiriker arbeiten mit Daten, wie jede Wissenschaft. Aber zur Auswertung gehören bei Empirikern wie Psychologen Statistik und Mustererkennung. Sobald man anfängt, Lernleistungen zu vermessen, muss man Prozesse und Ergebnisse standardisieren. Wir beobachten schon länger, dass immer mehr Tests in die Schulen kommen für nationale und internationale Rankings, PISA etwa. Diese Rankings sind aber nicht sehr aussagekräftig, weil sie weltweit normiert sind und die nationalen Bildungssysteme nicht berücksichtigen. In vielen asiatischen Schulen etwa ist es eine Ehre teilzunehmen, man vertritt die Schule und das Land und beschämt die Nation mit schlechten Ergebnissen. Bei uns ist die Teilnahme eher lästig. Oder in den USA: Amerikanische Jugendliche schnitten im Mathe-Test schlecht ab, letztes Drittel. Eine Forschergruppe hat ihnen daraufhin für jede richtig gelöste Mathematikaufgabe einen Dollar versprochen. Die gleiche Gruppe hat, ohne eine Stunde Mathe mehr, vergleichbar schwere Aufgaben so gut gelöst, dass sie im Mittelfeld gelandet wäre. Der Unterschied: Das Anreizsystem hat gestimmt. Noch wichtiger aber ist: Bildung ist nicht messbar ist. Wir verkürzen durch das ganze Testen Schule und Unterricht auf Messbares. Das bedient zwar die Testindustrie, sorgt aber nicht unbedingt für Verstehen bei Schülerinnen und Schülern. (…)

REALIST: Trotzdem wiederholen ja viele Bildungspolitiker und zahlreiche in der Öffentlichkeit sehr präsente Stiftungsvertreter von Firmen immer wieder gebetsmühlenartig, dass die Digitalisierung den Unterricht besser mache und auch für mehr “Bildungsgerechtigkeit” sorge. Stimmt das also nicht? Die “Corona-Krise” hat doch gezeigt, dass viele Schulen technisch auf Fernunterricht nur schlecht vorbereitet sind. Brauchen wir nicht gerade deshalb einen dramatischen Digitalisierungsschub für alle?

Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter.

Eine umfassende Studie der OECD aus dem Jahre 2012 zeigt ernüchternde Resultate

LANKAU: Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter. Die OECD-Studie zu Resilienz belegt, dass der Einsatz von Computern die soziale Schere sogar aufgehen lässt, weil Kinder und Jugendliche auch in der Schule wieder vor einem Bildschirm sitzen und sich abgeschoben fühlen. Gerade Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten brauchen ein direktes Gegenüber, eine Lehrpersönlichkeit, die ihnen zugewandt ist. Lernen ist Interaktion, auf der Basis von Vertrauen. (…)

REALIST: Und die Medien?

LANKAU: Ein Kollege erklärt wunderbar an der Tafel, die andere Kollegin mit Hilfe von Tablet und Beamer oder umgekehrt. Wir setzen seit über 30 Jahren PCs, Laptops und heute Tablets ein, das ist kein Qualitätsmerkmal, eher im Gegenteil. Wer glaubt, die technische Ausstattung von Schulen sei ein Garant für gelingenden Unterricht irrt oder verfolgt eine eigene, meist kommerzielle Agenda. Man sollte es den Lehrkräften überlassen, welche Medien sie im Unterricht einsetzen.

 

Dass die Schulen auf Fernunterricht nicht vorbereitet waren, ist richtig. Das mussten sie auch nicht sein, weil Schulen in Deutschland normalerweise Präsenzschulen sind – und bleiben müssen. (…)

In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient.

REALIST: Wem nützt also die Digitalisierung, die von diesen Digitalisierungsbefürwortern propagiert wird?

LANKAU: In Amerika gibt es einen simplen Spruch dafür: Follow the money. Bei uns heißt er: Cui bono? Wem nützt es? Bei den von der IT-Wirtschaft vertretenen Konzepten wie etwa Tablet-Klassen profitieren eindeutig die Anbieter von Hard- und Software und entsprechenden Dienstleistungen. Versprochen wird eine IT-Infrastruktur aus einer Hand (Apple, Google, Microsoft u.a.). Die großen Vertreter der Global Education Industries (GEI) und der EdTEch-Startups (Education Technologies) bereiten sich ihre Märkte. Für diese Anbieter sind alle Bildungseinrichtungen Märkte, die wie andere Märkte beworben und bespielt werden. In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient. Es ist ein Milliardenmarkt. (…)

Es sind Manager, die Bildung als Produkt vermarkten

REALIST: Sie sprachen gerade von einer “gemeinnützigen Stiftung”, die vehement die Digitalisierung fordert und gleichzeitig mit ihrem Unternehmen den Bildungsmarkt bedient. Ich denke mal, dass Sie damit die “Bertelsmann-Stiftung” meinen. Bei meinen Recherchen zum Thema bin ich auf der Seite der Bertelsmann AG im Bereich “Strategie Wachstumsplattformen” auf einen Satz gestoßen, der mich nachhaltig irritiert hat. Da stand “Gleichzeitig sorgt die Digitalisierung dafür, dass Bildung auch online in guter Qualität ausgeliefert werden kann”. Ist Bildung für diese Unternehmen eine Pizza, die auf Bestellung geliefert werden kann?

LANKAU: Ja, es sind Manager, die “Bildung” als Produkt vermarkten wie eine Pizza oder wie eine Dienstleistung, etwa einen Streamingdienst. Man bezahlt für Kurse und bekommt Zertifikate. Das ist der Deal. Die Gütersloher versprechen unter dem Label Bertelsmann Education Group, das “Lernen im 21. Jahrhundert”. Schwerpunkte sind derzeit Hochschulen und E-Learning-Angebote wie Relias sowie Beteiligungen an HotChalk und Udacity. Dazu kommen Dienstleistungen in der Weiterbildung. Der aktuelle Umsatz liegt bei 333 Mio. Euro, aber der internationale Bildungsmarkt ist, auch ohne Covid-19, einer der dynamischsten expandierenden Märkte.

REALIST: Ein bekannter Verfechter der, ich nenne es jetzt vereinfacht mal “Automatisierung der Schule” aus der Schweiz hat vor kurzem gefordert, dass sich Lehrerinnen und Lehrer nicht um Datenschutz zu kümmern haben. Schließlich würde er als Lehrer auch nicht, bevor er seine Schule betritt, die Erdbebensicherheit des Schulgebäudes überprüfen. Können wir es uns so einfach machen?

Philippe Wampfler: Lehrer sollten sich nicht um Datenschutz kümmern.
Photo: Florian Bachmann

LANKAU: Nein. Schweizer Freunde haben mir den Beitrag[i] geschickt und ich bin entsetzt. Das Erschreckende ist, dass dieser Lehrer sich vehement für Digitaltechnik in Schulen einsetzt, aber jede Form von kritischem Diskurs verweigert. Ich habe dazu eine Replik geschrieben: “Digital-Apostel in Vogel-Strauß-Manier oder: Sprechverbote über den Einsatz von Digitaltechnik und Datenschutz in Schulen sind keine Lösung”[ii] und auch einen längeren Beitrag[iii]. Denn was bei der Argumentation dieses Digitalisten prototypisch zu beobachten ist, ist die Delegation der Verantwortung an vermeintliche “Experten”.

(…) Immanuel Kant schrieb 1784 in seinem Text “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”: “Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.” Verdrießliche Geschäfte sollen andere machen? Eine meiner Thesen zur Digitalisierung ist: Digitaltechnik, wie sie derzeit aus dem Silicon Valley kommt, ist Technik der Gegenaufklärung. Menschen werden daran gewöhnt zu tun, was Maschinen ihnen sagen. Das ist Erziehung zur Unmündigkeit und widerspricht dem Bildungsauftrag von Schulen.

REALIST: Wir vom Realschullehrerverband wehren uns seit Jahren vehement gegen den Begriff “Lernbegleiter”, der vor allem an Gemeinschaftsschulen für Lehrkräfte verwendet wird. Gerne werden wir dafür als “Ewig-Gestrige” bezeichnet. Wie sehen Sie die Verwendung des Begriffes “Lernbegleiter”? Nur eine modernere Bezeichnung oder steckt aus Ihrer Sicht mehr dahinter?

Der Bergiff ist für mich ein Synomym für Arbeitsverweigerung

LANKAU: Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung. Wir sind als Pädagogen keine Begleiter, sondern ganz entscheidende Akteure. Wir strukturieren und gestalten den Unterricht, lehren und unterstützen individuell. Wir sind aufgrund unseres Studiums und der Lebens- wie zunehmender Lehrerfahrung in der Lage, binnendifferenziert zu fördern, und sind vor allem als Lehrpersönlichkeit Ansprechpartner und Vorbild. (…)

Die ewig Morgigen

Der Vorwurf, “ewig Gestriger” zu sein, ist lachhaft. Der Mensch lernt heute nicht anders als vor 100 oder 1000 Jahren. Biologische Veränderungen der Physis, Psyche oder Kognition ändern sich nicht in den Rhythmen technischer Innovationen. Wir können den Spieß aber gerne umdrehen: Egal, welche Technik auf den Markt kommt, werden sich immer Vertreter in den Kollegien finden, die deren Einsatz umgehend im Unterricht fordern. Der Schweizer Pädagoge Carl Bossard nennt solche Technikfetischisten die „ewig Morgigen“. Alles wird sofort im Unterricht eingesetzt. Wenn dann etwas nicht funktioniert, kommt sogleich ein „es funktioniert noch nicht, weil … die Lehrer/innen die Technik noch nicht richtig einsetzen würden, die Schüler/innen den Umgang erst lernen müssten, die Systeme noch nicht richtig konfiguriert seien, die Programme erst noch optimiert werden müssten etc.pp. Dabei kommt es im Unterricht auf anderes an als Technik: auf das Miteinander.

REALIST: Wie sieht für Sie eine sinnvolle, den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern gerecht werdende Digitalisierung der Schule aus? Welchen Weg sollten Schulen einschlagen? Und gibt es Grenzen dabei, die nicht überschritten werden sollten?

Schule muss die Ambivalenz vermitteln

LANKAU: Digitaltechnik ist, wie jede Technik, ambivalent. Auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen ein potentielles Überwachungs- und Kontrollsystem. (…) Das Ziel von Schulen muss sein, diese Ambivalenz des Digitalen und die Unterscheidungskriterien zu vermitteln, um zwischen sinnvollen und nur kommerziellen Angeboten zu differenzieren. Denn als Werkzeug und Instrument können Digitaltechniken sehr hilfreich sein, aber Technik darf den Menschen nicht beherrschen oder (etwa unterbewusst) manipulieren.

“Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.” Einstein

Daher ist die zweite Aufgabe die Dekonstruktion der ganzen Heilslehren der Digitaltechnik bis zum Transhumanismus, d.i. die unhaltbare Behauptung, man könne das menschliche Bewusstsein technisch transformieren und ins Netz laden und damit (wieder einmal) unsterblich werden.  (… W)as Algorithmen, also Handlungsanweisungen für Rechner, machen, ist im Kern Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit lassen sich viele (technische) Aufgaben lösen, aber wie Einstein gesagt haben soll: “Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.” Was sich nicht berechnen (und standardisieren) lässt, ist das Soziale, das Humane und das Individuelle. Wir müssen wieder lernen zu unterscheiden, bei was Technik uns helfen kann und wo der Mensch als Mensch gefragt ist.

REALIST: Welche Rolle sollen dabei künftig die Lehrkräfte einnehmen?

Die Lehrerin oder der Lehrer ist der Gegenpol

LANKAU: Lehrerinnen und Lehrer sind in einer zunehmend technisierten, digitalisierten und in Pandemie-Zeiten auch in der Schule virtualisierten Welt ein wichtiger und notwendiger Anker und Gegenpol. Sie sind als Lehrpersönlichkeit eine zentrale Bezugspersonen und im Idealfall Vorbild. Gerade junge Menschen sind den ganzen Optionen und Versuchungen der virtuellen Welten ohne ausreichendes Reflexionsvermögen ausgesetzt. Daher müssen Lehrende in allen (Hoch)Schulformen ihren Schülerinnen und Schülern oder Studierenden Methoden und ein Instrumentarium vermitteln, damit sie selbst qualifiziert analysieren und entscheiden können, was sie von all den neuen Techniken, Medien und Geräten brauchen – und was nicht. Nur, weil etwas auf dem Markt ist, muss ich es nicht konsumieren. Noch wichtiger ist zu vermitteln, dass das echte Leben nicht im digitalen Raum oder an Display und Touchscreens stattfindet, sondern notwendig in der realen Welt, in Gemeinschaft mit realen anderen. Für das Miteinander braucht man gemeinsame Zeit und Vertrauen, vielleicht das Schlüsselwort der Pädagogik. „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ (Paul Claudel)

REALIST: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Lankau!

 

Prof. Dr. Lankau unterrichtet seit 1985 als promovierter Pädagoge mit analogen und seit 1987 mit digitalen Medien und Techniken, davon 20 Jahre als Fernlehrer. Seit 2002 hat er an der Hochschule Offenburg eine Professur für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie inne.

 

 

[i] Philippe Wampfler: Lehrer sollten nicht mehr über Datenschutz sprechen. In: https://schulesocialmedia.com/2020/09/25/lehrkraefte-sollten-nicht-mehr-ueber-datenschutz-sprechen/

[ii] https://condorcet.ch/2020/10/digital-apostel-in-vogel-strauss-manier-oder-sprechverbote-ueber-den-einsatz-von-digitaltechnik-und-datenschutz-in-schulen-sind-keine-loesung/

[iii] https://fu-tur-iii.de/2020/10/23/digital-apostel-in-vogel-strauss-manier-2/

 

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Einsam lernen: 30 Schüler und kein Lehrer https://condorcet.ch/2019/10/einsam-lernen-30-schueler-und-kein-lehrer/ https://condorcet.ch/2019/10/einsam-lernen-30-schueler-und-kein-lehrer/#comments Tue, 22 Oct 2019 20:31:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=2533

Der Condorcet-Blog hat eine doppelte Premiere. Einerseits schreibt eine junge 21-jährige zukünftige Lehrerin aus Deutschland für unseren Blog, was wir sehr begrüssen. Andererseits möchte sie dies nur unter einem Pseudonym tun, was uns sehr leid tut. Der Text entfaltet zwar eine äusserst kritische Sicht auf den heutigen Unterricht und damit auch auf die Ausbildung der zukünftigen LehrerInnengeneration, verstösst aber keineswegs gegen irgendwelche Vertraulichkeitsprinzipien, wodurch sich hier die Behörden gezwungen sähen, Massnahmen gegen die Autorin zu ergreifen. Es ist zweifelsohne besorgniserregend und sagt viel über den heutigen Zeitgeist aus, wenn sich junge Lehramtsabsolventinnen gezwungen sehen, kritische Texte nur anonym zu veröffentlichen. Der richtige Name und die Person sind der Redaktion bekannt.

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Modernes Klassenzimmer
Bild: api

Frontal ausgerichtete Bankreihen, eine Kreidetafel, der allseits gefürchtete Lehrerkalender mit den Notenlisten – all diese Erinnerungen werden geweckt, wenn ich nach Jahren wieder einen Grundschulklassenraum betrete. Das dachte ich zumindest, als ich, Lehramtsstudentin, den ersten Schritt in meine Hospitationsklasse setzte. Doch in Wahrheit waren alle diese Dinge aus dem modernen Klassenzimmer verschwunden. Die Kreidetafel ist einer hochmodernen interaktiven Tafel gewichen. Noten gibt es in den ersten zwei Jahren auch keine mehr und die Schulbänke stehen nicht mehr frontal zur Tafel, sondern verteilt im Raum und heißen nun „Lernbüros“.

Sofort werde ich von Lena angesprochen, die im gleichen Moment wie ich den Klassenraum betritt. Nach der Begrüßung geht sie zielstrebig zu ihrem Lernbüro. Aufmerksam beobachte ich, wie sie ihren Wochenplanhefter herausnimmt. „Hier sind alle Aufgaben drin, die ich diese Woche in Deutsch und Mathe machen muss“, erklärt sie mir geduldig. Timo am Nachbartisch setzt gerade einen dicken Haken hinter seine abgearbeitete Aufgabe im Arbeitsheft.

Arbeitsblätter abarbeiten
Bild: AdobeStock

Die früher selbstverständlichen Tätigkeiten des Lehrers, nämlich Lernbegeisterung und Wissen zu vermitteln, rücken durch dieses neue Selbstverständnis der Lehrkraft in den Hintergrund. Getreu der konstruktivistischen Sichtweise auf die Kindheit ist das erklärte Ziel, dass die Kinder zunehmend ihr Lernen selbst steuern sollen. Dies bedeutet, dass der Lernbegleiter im Gegensatz zum Lehrer eine vorrangig betreuende Funktion einnimmt. Er stellt für die Kinder eine Lernumgebung in Form von Materialien bereit, in der sich die Kinder vorwiegend selbst mit den Themen beschäftigen sollen. Nicht der Lernbegleiter gibt allumfassend vor, was im Unterricht gemacht werden soll, sondern er bespricht mit dem jeweiligen Kind die nächsten Schritte auf dem individuellen Lernweg.

Offener Unterricht, Wochenplanarbeit und Lernwerkstätten lauten die verheißungsvollen Elemente des individualisierten Unterrichts, der bereits die bundesdeutschen Klassenzimmer erobert. Dank dieser Unterrichtsform soll jedes Kind die Möglichkeit bekommen, auf seinem Niveau und in seinem Tempo die Aufgaben zu erledigen, ohne dabei dem Zwang und dem Druck des gemeinschaftlichen Klassenunterrichts ausgesetzt zu sein. Das Kind mit seinen individuellen Stärken und Schwächen soll verstärkt in den Vordergrund schulischen Lernens rücken. Genährt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Heterogenität der Schulklassen, die angeblich nur durch eine Individualisierung des Lernprozesses zu bewältigen sei.

Horizonterweiterung durch vereinzeltes Lernen?

Bild: Spiegel

Wenn ich mich umblicke und die ganz alleine mit unterschiedlichen Dingen beschäftigten Kinder betrachte, dann ist die Schlussfolgerung simpel, dass das individualisierte Lernen einen Unterricht im Klassenverband unmöglich macht. Vielmehr sollen die mit dem Lernbegleiter besprochenen Arbeitspläne erledigt werden. In der Realität führt der Weg konsequenterweise zu einem starren Abarbeiten von stupiden und auf das Nötigste reduzierten Arbeitsheften, Arbeitsblättern, Karteien und Spielchen. Es ist allerdings fraglich, ob solche für den Zweck der selbstständigen Bearbeitung nivellierten Materialien einen lebendigen Unterricht durch die Lehrkraft ersetzen können.

 

Werden die Arbeitsblätter zu kritischem Hinterfragen anleiten und ganz andere, abstrakte Horizonte eröffnen können?

Wenn Kinder sich selbstständig mit dem zu erlernenden Stoff auseinandersetzen, werden sie dann größere Bezüge herstellen, als es ihr bisheriger Horizont zulässt? Werden die Arbeitsblätter zu kritischem Hinterfragen anleiten und ganz andere, abstrakte Horizonte eröffnen können? Ist es nicht der Lehrer, der durch seinen Wissensvorsprung und das Gespräch mit den Kindern in der Lage ist, den Stoff in einen viel breiteren Sinnkontext einzubetten, als es die Kinder je mit Hilfe der Arbeitsblätter können? Lehren bedeutet, sein Wissen zu nutzen, um Neues hervorzuheben, in neue Zusammenhänge und zur Diskussion zu stellen. Gerade diese Aufgaben des Lehrers wurden im Zuge der Umetikettierung zum Lernbegleiter wegrationalisiert!

Lernunterschiede verstärken sich

Mein Blick fällt auf Julian, der nun schon seit gefühlten zehn Minuten resigniert sein Dasein vor seinem Arbeitsblatt fristet. Julian ist verzweifelt, denn er versteht das Arbeitsblatt nicht. Wenn er nicht weiter weiß, soll er sich an ein anderes Kind wenden, das diese Aufgabe schon gelöst hat. Doch das Kind konnte ihm auch nicht helfen. Nun sitzt er da und macht nichts. Die Lernbegleiterin scheint noch mit anderen Schülern beschäftigt zu sein.

Individualisierter Unterricht
Bild: LP BW

„Jeden Schüler mit seinen eigenen Stärken und Schwächen wertschätzen, fordern und fördern“, heißt das chorische Narrativ der harmonischen Imagefilme, die für „individualisiertes Lernen“ werben. Die Frage drängt sich auf, ob dieses ambitionierte Ziel in Hinblick auf die äußerst große Heterogenität überhaupt erreichbar ist. Stimmt es wirklich, dass diese Art des Unterrichts, wie so oft behauptet, zu mehr Gerechtigkeit führt? Eher scheint es der Fall zu sein, dass sich die Leistungsunterschiede der Kinder immer weiter verstärken. Kinder, die über die nötige Selbstbeherrschung und Konzentration sowie Intelligenz zum Abarbeiten der Aufgaben verfügen, können deutlich mehr erreichen, als ein Kind mit Konzentrationsstörungen.

Schleichender Sinkflug

Gerade bei schwächeren oder langsameren Schülern besteht die Gefahr, dass sie bei selbstständiger Arbeit nicht motiviert werden, schneller oder mit größerer Bereitschaft zu arbeiten.Kann die Resignation der Umgebung vor dem derzeitigen Leistungsvermögen des Kindes als unterlassene Hilfeleistung interpretiert werden? Kann sich so das individualisierte Lernen wegen mangelnder Zuwendung und Druckes von außen in mancher Hinsicht als Grund für einen schleichender Sinkflug von Schülerleistungen enttarnen?

Aufbewahrende Beschäftigung

Julian hat sich in der Zwischenzeit doch noch einmal an ein anderes Kind gewandt. Geduldig diktiert Fritz ihm nun die Lösungen. Ist es wirklich der beste Weg, dass Kinder in ihrer eigenen Lernzeit andere Kinder unterrichten? Die Leistungsspitze der Klasse wird beim eigenen Arbeiten gestört, weil sie in ihrer eigenen, dringend benötigten Lernzeit andere Schüler unterrichten muss. Des Weiteren werden sie aufbewahrend beschäftigt, wenn sie ihr Aufgabenpensum erledigt haben.

Leistungsstarke Schüler als Lehrerersatz

Gegenseitige Unterstützung kann und soll – dosiert eingesetzt – durchaus zur Vertiefung und Festigung eines Themas beitragen. Zu sehr scheint hier jedoch die systemimmanent notwendige Entlastung des Lernbegleiters sowie die Beschäftigung leistungsstarker Schüler im Fokus zu stehen. Ist es dann sogar möglich, dass unter dem Deckmantel der Förderung von angeblich so wichtigen sozialen Kompetenzen bei Gruppenarbeiten und Projekten eher versucht wird, die Leistungsunterschiede (besonders durch deren Benotung) wieder zu vereinheitlichen?

Die freie Arbeitszeit neigt sich dem Ende zu, und die Kinder finden sich im Sitzkreis zusammen, um ihre Aufgaben zu präsentieren und über ihre Arbeit zu reflektieren. Während Lena stolz ihre Geschichte vorliest, ist Julian mit seinen Gedanken ganz woanders. Wie viel er wohl heute gelernt hat?

Immer mehr ertappe ich mich dabei, ein Bereitschaftswächter zu werden, der sicherstellt, dass die Kinder sich ohne Widerspruch dem Sachzwang der Arbeitsblätter unterwerfen. Begeisterung und Leidenschaft sind nur störend in der Kompetenzarena, in der es vorrangig auf die einmalig geleistete Handlung ankommt.

Ich nutze die Zeit, um meine Eindrücke zu verarbeiten. So richtig wohl fühle ich mich in meiner neuen Rolle als Mini-Lernbegleiter nicht. Immer mehr ertappe ich mich dabei, ein Bereitschaftswächter zu werden, der sicherstellt, dass die Kinder sich ohne Widerspruch dem Sachzwang der Arbeitsblätter unterwerfen. Begeisterung und Leidenschaft sind nur störend in der Kompetenzarena, in der es vorrangig auf die einmalig geleistete Handlung ankommt. Dass dieses Können nicht nachhaltig gelernt ist, scheint in einer Welt, in der alles Wissen im Internet verfügbar ist, nicht zu stören. Wissen ist überall – auf den Charakter kommt es an. Sich Wissen zu eigen machen, Emotionen und Leidenschaft damit zu verbinden, all das stört die trostlose Welt der Output-Orientierung. Gefragt sind sozial kompetente Wesen, die sich anpassungsfähig und hoch motiviert, jedoch ohne Reflexion, auf die ihnen auferlegten Aufgaben stürzen. Weshalb beschäftige ich mich mit diesem Gegenstand? Mit welchem Ziel? Wahrscheinlich wird hier nicht der gelernte Inhalt für die Kinder zum Ziel, sondern das abgearbeitete Arbeitsblatt.

Von der Autoritätsperson zum Arbeitsblatt

Das eigentliche Ziel von Schule sollte es sein, den Menschen zum selbstständigen Denken und Handeln zu befähigen. Doch auch hier liegt der Teufel im Detail. Selbstständigkeit wird bei dieser Form des Lernens in gewissem Maße vorausgesetzt. Individuelles Lernen verlangt Selbstregulation und das Treffen von Entscheidungen. Die Frage bleibt, ob die Kinder in diesem Alter dazu schon in der Lage sind. Können die Kinder entscheiden, wann sie ein Thema verstanden haben? Werden den Kindern selbst Details auffallen, und werden sie diese hinterfragen?

Lehren bedeutet für mich unter anderem, mein Wissen zu nutzen, um anleitend Neues hervorzuheben, auf Details aufmerksam zu machen, Widersprüche aufzuzeigen und Kinder zum Nachdenken anzuregen. Wurden nicht gerade diese Aufgaben des Lehrers im Zuge der Umetikettierung zum Lernbegleiter wegrationalisiert? Und dies vor allem deswegen, weil der Lehrer als Autoritätsperson verschwinden soll? Doch wurde die Autorität nicht ausgelöscht, sondern einfach nur verlagert? Weg von einer greifbaren, realen Person, einem Vorbild, hin zu einem neutralen, versteckten Zwang von Arbeitsblatt und Wochenplan?

Frei und selbstständig sind die Kinder kaum mehr als früher, denn anstatt den Anweisungen der Lehrer zu folgen, folgen sie nun den Anweisungen der Arbeitsblätter, die wertneutral und ohne Vorbildfunktion daherkommen. Unterricht lebt von Anspannung und Entspannung, von Staunen und Üben sowie Anleitung und Selbstständigkeit. Es ist dieses Wechselspiel, das Unterricht spannend und bedeutsam macht. Kann man einfach so ein Element aus dem Gefüge nehmen, ohne dass dem Unterricht eine wichtige Säule genommen wird? Schule sollte jungen Menschen „die Augen für das [öffnen], was sie noch nicht sehen“ (Hans Schmid). Wird die Schule dieser Aufgabe nicht mehr gerecht, dann verliert sie erst recht an Bedeutung für die junge Generation.

Mir hat diese Reflexion gezeigt, dass ich für meine Schüler eine Identifikationsfigur werden möchte, die nachhaltig Sachinteresse, Faszination und Begeisterung wecken kann, aber auch Halt und Orientierung vermittelt. Ich möchte Lehrerin werden – kein Lernbegleiter.

 

Anna Stahl ist 21 Jahre alt und studiert Grundschullehramt in Deutschland. Sie schreibt unter einem Pseudonym. Ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

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