Lehrperson - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 02 Mar 2022 07:44:16 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lehrperson - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Das Pädagogische lebt vom Dialektischen https://condorcet.ch/2022/03/das-paedagogische-lebt-vom-dialektischen/ https://condorcet.ch/2022/03/das-paedagogische-lebt-vom-dialektischen/#respond Wed, 02 Mar 2022 07:44:16 +0000 https://condorcet.ch/?p=10612

Pädagogische Lehrpläne lieben das Eindeutige. Der Schulalltag dagegen ist komplex; der Unterricht bewegt sich in einem vielfältigen Spannungsfeld. Das geht gerne vergessen. Ein Erinnerungsversuch von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard: Schönster, schwierigster und schwerster Beruf der Welt.

«Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein?», heisst es in Gotthold Ephraim Lessings «Minna von Barnhelm».[1] Lachend ernsthaft sein – eine wunderbarbare dialektische Grundhaltung. Gegensätzliches verbinden, vordergründig Widersprüchliches vereinen – und daraus Synergien gewinnen. Dieses Prinzip sei das Geheimnis guter Lehrerinnen und wirksamer Pädagogen, sagt die berühmte Rutter-Studie «15 000 Stunden. Schule und ihre Wirkung auf Kinder».[2] Solche Lehrpersonen würden fachliche Strenge mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen verbinden und seien darum so erfolgreich. Sie geben dem anspruchsvollen Unterricht eine heitere Note. Lachend ernsthaft sein, das kann viel bewirken.

Freiheit und Ordnung zugleich

Die Schule kennt manche solcher Gegensatzpaare. Auf den ersten Blick erscheinen sie wie Feuer und Wasser. Berühmt ist Immanuel Kants vielzitierte Frage: «Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?»[3] Die beiden Begriffe widersprechen sich – je nach Perspektive, aus der man argumentiert. Sie stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, und so bedingen sie sich. Jede Freiheit bedarf einer gewissen Sicherheit, eines Rahmens, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Und jede Sicherheit schafft auch Freiheit, weil sie einen Rahmen stellt, innerhalb dessen man wieder frei sein kann. Gute Lehrerinnen und Lehrer geben den Kindern darum Sicherheiten, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen. Und sie geben ihnen so viel Freiheit, dass sie nicht im Unsicheren mäandrieren. «Ohne Ordnung», sagt Albert Einstein, «kann nichts bestehen, ohne Chaos aber – oder eben ohne Freiheit – kann nichts entstehen.»

Gute Lehrerinnen und Lehrer geben den Kindern darum Sicherheiten, ohne ihnen die Freiheit zu nehmen.

Anders formuliert: Kinder und Jugendliche sollen zur Autonomie geführt werden, doch sie brauchen dazu auch Strukturen, die sie stützen, ein stabiles Geländer, das ihnen Halt und Sicherheit vermittelt. Es ist die vital präsente Lehrperson, es ist ein anregendes und führendes Gegenüber. „Pädagoge“ entspringt ja dem griechischen paid-agogein, „Kinder führen“. Führen, nicht nur betreuen und begleiten.

Weg von der Einseitigkeit

Einseitigkeiten im pädagogischen Alltag

Darum erstaunt es, wenn Schulgemeinden auf Einseitigkeiten setzen und das Dialektische des pädagogischen Berufs verkennen. So fragt eine Luzerner Stadtgemeinde bei der Suche nach einer neuen Lehrperson explizit: Siehst du dich «als Coach und Lernbegleiter*in und nicht als Wissensvermittler*in»? Wie wenn es im Schulzimmer nicht beides bräuchte und beides zu den Gelingensfaktoren guten Lernens gehörte?

Solches Polaritätsdenken vergisst, dass Schule keine Entweder-oder-Institution ist, sondern vom Sowohl-als-Auch lebt. Kinder empfangen vermutlich die stärksten Impulse von Lehrerinnen, die einfühlsam begleiten und gleichzeitig systematisch Wissen und Können aufbauen, also Inhalte vermitteln. Solche Lehrer verbinden zielgerichtete Konsequenz mit einer humanistischen Grundverpflichtung.

Solche Pädagogen holen die Jugendlichen nicht dort ab, wo sie als junge Menschen stehen. Aber sie wecken in ihnen vielleicht den Wunsch, dorthin zu kommen, wo sie als Lehrer und Vorgesetzte schon sind!

Dorthin kommen, wo die Vorbilder schon sind!

Ein anderes Beispiel: Die Schule solle Kinder und Jugendliche dort abholen, wo sie stehen. Das unterschreiben alle, und als didaktisches Prinzip ist es auch richtig. Doch als alleiniger Fokus formuliert, scheint es zu wenig; es fehlt die komplementäre Perspektive.

Dieses Dialektische findet sich bei manchen Schriftstellern, wenn sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern erzählen. So schwärmt Thomas Hürlimann von seinem Physiklehrer an der Stiftsschule Einsiedeln, Pater Kassian: «Er war mitreissend. […] Er war ein exzellenter Lehrer, weil er uns mit seiner Leidenschaft ansteckte.» Solche Pädagogen holen die Jugendlichen nicht dort ab, wo sie als junge Menschen stehen. Aber sie wecken in ihnen vielleicht den Wunsch, dorthin zu kommen, wo sie als Lehrer und Vorgesetzte schon sind! Viele haben solchen Lehrpersonen und Vorbilder erlebt.

Die heutige Heterogenität eines Klassenverbandes macht die Aufgabe noch anspruchsvoller.

Das Klassenkollektiv als komplexes Sozialgebilde

Wer in den Unterricht zoomt und in das pädagogische Parterre hineinhorcht, erkennt eines sehr schnell: Der schulische Alltag ist höchst anspruchsvoll. Nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, auch für die Lehrperson. In der Regel hat sie es – im Gegensatz zum Arzt oder Psychotherapeuten – nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv. Schulklassen sind ein äusserst komplexes Sozialgebilde und in ihrer Dynamik vielfach nur schwer vorhersehbar.

Die heutige Heterogenität eines Klassenverbandes macht die Aufgabe noch anspruchsvoller. Zu vieles entzieht sich der direkten Steuerung, zu vielschichtig ist das soziale Gefüge eines Klassenverbandes, zu sehr unterscheidet sich das pädagogische Geschehen von einem industriellen Output-Verfahren, als dass es ethischen Ansprüchen und moralischen Dilemmasituationen ausweichen könnte. Die alltägliche Dialektik!

Zur guten Lehrperson gehören das Gegenhalten, Intervenieren, Konfrontieren. Lernen erfolgt auch am Widerstand.

Zur guten Lehrperson gehören das Gegenhalten.

Der Schulalltag ist geprägt vom Dialektischen

Wer unterrichtet, muss darum auf zwei Beinen stehen, meistens auf zwei gegensätzlichen: Erziehung und Unterricht lassen sich beispielsweise nicht auf Empathie allein reduzieren. Zur guten Lehrperson gehören das Gegenhalten, Intervenieren, Konfrontieren. Lernen erfolgt auch am Widerstand: das zweite Standbein.

Doch propagiert wird meist nur eines: «Lehrer müssen empathisch sein!», heisst es. Sicher! Die Realität aber verlangt mehr; der Alltag erfordert das Dialektische: Empathie und Widerstand; verstehen und nicht mit allem einverstanden sein. Achtsam sein und gleichzeitig Konzentration und Disziplin verlangen, das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben. Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Sozialisation und Individuation, zwischen kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns.

Spannkraft und Energie fürs Mögliche finden

Dieses Dialektische lässt sich nicht auflösen. Lehrpersonen müssen es aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft und Energie fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Das ist nicht immer leicht, der Idealfall nie Realität, aber er bleibt als Aufgabe. Darum wohl hätten Lehrerinnen und Lehrer den „schönsten, schwierigsten und schwersten Beruf der Welt“, schreibt Thomas Hürlimann in seinem heiter-klugen Essay «Die pädagogische Provinz».[4] Sie müssen in ihrer anspruchsvollen Aufgabe Gegensätzliches verbinden. Eben: Lachend ernsthaft sein.

 

[1] Gotthold Ephraim Lessing (1969), Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. Zürich, Schulthess & Co., S. 74.

[2] Michael Rutter et al. (1980), 15 000 Stunden. Schule und ihre Wirkung auf Kinder. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.

[3] Immanuel Kant (1977), Über Pädagogik (1803), in: Ders.: Werkausgabe, Bd. 12. Hrsgg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. A 32.

[4] «Die pädagogische Provinz», in: Thomas Hürlimann (2008), Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Zürich: Amann Verlag, S. 109f.

 

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Das Wunder der Volksschule – sie hält sich … noch. https://condorcet.ch/2022/02/das-wunder-der-volksschule-sie-haelt-sich-noch/ https://condorcet.ch/2022/02/das-wunder-der-volksschule-sie-haelt-sich-noch/#comments Thu, 03 Feb 2022 19:37:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=10461

Condorcet-Autor Alain Pichard hält unsere Volksschule nach wie vor für ein Erfolgsmodell und nennt in seinem Text die Indikatoren. Er sieht aber auch dunkle Wolken am Horizont. Dass es immer noch recht gut stehe, verdanke die Schweiz dem Föderalismus und der Mehrheit seiner Lehrkräfte, die wissen, worauf es ankomme ...

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Alain Pichard: Lehrkräfte unterwandern unausgegorene Vorgaben.

An meiner einstigen Schule pflegte unser Schulkommissionspräsident die Eltern jeweils bei seiner Begrüssungsrede zum neuen Schuljahr mit dem Satz zu entlassen: «Ihre Kinder kommen in eine gute Schule!»

Einmal fragte ich ihn beim Hinausgehen, woher er eigentlich wisse, dass wir eine gute Schule seien. Er schmunzelte, überlegte und sagte schliesslich: «Aus dem Gespräch mit den Leuten! »

«Und was verstehst du unter einer guten Schule? », fuhr ich fort. Wie aus der Pistole geschossen antwortete dieser: «Na, wenn die Schüler hier etwas lernen. » Diese einfache Weisheit eines KMU-Mannes sollte man beherzigen, wenn es um die Frage geht, wie es generell um unsere Volksschule bestellt ist.

Zu Beginn einer Analyse über die Schweizer Schule gilt es allerdings festzuhalten: Die Schweizer Volksschule gibt es nicht. Trotz aller Zentralisierungsbemühungen und Top-Down-Reformen ist unser Schulsystem immer noch föderal aufgebaut. Die Kantone haben die Schulhoheit und die einzelnen Schulen sind in den jeweiligen Gemeinden eingebettet. Von vielen als Flickenteppich verspottet, ist diese Konstruktion die eigentliche Stärke unseres Bildungswesens. Sie ist ein Laboratorium, in dem man experimentiert, aus Fehlern lernt, und ein Lernort, der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern verbunden bleibt. Da haben es Masterpläne zum Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss schwer. Dieser Bildungsföderalismus mag auch ein Grund dafür sein, dass unsere Schulen immer noch in einem recht guten Zustand sind.

Sie ist ein Laboratorium, in dem man experimentiert, aus Fehlern lernt und ein Lernort, der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern verbunden bleibt. Da haben es Masterpläne zum Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss schwer.

Das Schweizer Billdungssystem integriert die Migrantenkinder besser als unsere Nachbarländer.

Sie geniessen einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung. Schweizweit besuchen nur sechs Prozent der Heranwachsenden eine Privatschule. Die Tendenz ist zwar steigend. Aber das ist kein hoher Marktanteil. Der Schweiz gelingt es immer noch, den Grossteil unserer fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und dies, obwohl sie im Verhältnis mehr Migranten aufgenommen hat als beispielsweise die USA. Im Vergleich zum PISA-Wunderknaben Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 19% produziert die Schweiz – je nach Berechnungsmodell – einen rekordtiefen Prozentsatz von 2,5-5%.

An den Berufsweltmeisterschaften halten sich unsere Lehrlinge – obwohl nicht mehr ganz so souverän wie in früheren Zeiten – immer noch in den Spitzenrängen, und in den internationalen TIMSS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) lag die Schweiz bis vor Kurzem im oberen Drittel.

Das sind im Grunde genommen recht gute Indikatoren für ein solides Bildungssystem.

Folgt man der öffentlichen Debatte und den Medien, prasseln allerdings dramatische Untergangsphantasien auf uns ein. Wer die Schweizer Schulen besucht, könnte meinen, dass sie bewusst übersehen werden sollen. Oft werden negative Einzelfälle skandalisiert oder tolle Performances, z. B. bei Preisverleihungen, gehypt. Die alltägliche, profane Arbeit der Lehrkräfte liefert zu wenig Schlagzeilen.

Kein PISA-Gegner

PISA-Schock wurde erfunden.

2001 wurde der „PISA-Schock“ erfunden, der in unseren Medien flugs zur Bildungskatastrophe hochstilisiert wurde.  Rundherum „hysterisierten“ Journalisten, Politiker und Funktionäre den doch eher simplen Test als «das Armageddon der öffentlichen Bildung. Damit eines klar ist: Ich gehöre nicht zu den PISA-Gegnern. PISA liefert uns ausserordentlich interessante Ergebnisse zu einzelnen Teilbereichen unserer Schule. PISA hatte aber nie den Anspruch, nationale Schulsysteme als Ganzes zu bewerten. Absurde Länderrankings ohne tiefgehende Analysen erfolgten durch die Medien und Bildungspolitiker, die zu einem beispiellosen Schulbashing ansetzten.

Es war die Stunde einer neuen Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft, die sich zu den eigentlichen Playern unseres Bildungssystems entwickelten.

Schmiss der alte Gilgen seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1’800 Angestellte.

Die Politik sorgte dafür, dass die Bildungsausgaben massiv erhöht wurden, von 16 Milliarden Franken (1990) auf rund 38 Milliarden Franken (2018), was sich auch im Bruttosozialproduktsanteil manifestierte. Dieses Geld floss nicht nur in die Praxis und die neu gegründeten Fachhochschulen. Wie auch in anderen Gefilden unseres Staatssystems wurde ein massiver Ausbau des Überbaus vorangetrieben. Evaluatoren, Lehrplanentwickler, Berater, Bildungsforscher besetzten die Schaltstellen der Bildungszentralen. Sie begannen zielstrebig, unser Schulsystem umzubauen. Lehrkräfte wanderten in Scharen in die neuen Berufsfelder, wirkten an Weiterbildungsinstituten, wurden Dozenten an der PH oder arbeiteten in den nun immer zahlreicheren Arbeitsgruppen und Lehrmittelkommissionen und Funktionärsstellen der Verbände. Schmiss der alte Gilgen seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1’800 Angestellte.

Harmos war eine Steuerungsvorlage basierend auf dem Weissbuch der EDK

Die EDK (Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz) schlug 2004 mit einem Weissbuch vor, das Schulsystem auf die PISA-Test-Formate umzustellen. Von da an entwickelte sich vieles zwangsläufig: Wer eine Vergleichbarkeit will, braucht Standards. Wer Standards hat, muss diese überprüfen und benötigt Tests, und wer diese Tests will, braucht zu erwerbende Kompetenzen. Nach und nach geriet die Schule in den Würgegriff dieser Technokraten. Allein in meinem Kanton Bern gab es in dieser Zeit 20 Schulreformen, von denen die Hälfte in ein regelrechtes Desaster mündeten.

Die Folge waren der Lehrplan 21, Kompetenzraster, neue Beurteilungsformen, Bewertung überfachlicher Kompetenzen, siebenseitige Beobachtungsfragebögen im Kindergarten, flächendeckende Tests in der Nordwestschweiz, Umbau des Hauswirtschaftsunterrichts, eine abenteuerliche Fremdsprachendidaktik, «Classroom Walkthrough»-​Kontrollen der Schulleitungen, neue Inklusionskonzepte u.v.a. mehr. Auch pädagogische Vorgaben wie Konstruktivismus, entdeckendes oder selbstbestimmtes Lernen begannen, die Methodenfreiheit der Lehrkräfte einzuschränken.

Die PISA-Tests wurden uns als Schritt in eine datenbasierte Forschung verkauft, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen. Das Zauberwort «Bildungsmonitoring» machte die Runde.

Wie es mit der Ernsthaftigkeit dieser Vorhaben bestellt ist, zeigt der Umgang mit dem Illetrismus. Eine der wirklich fundierten Erkenntnisse von PISA zeigte uns, dass das teuerste Schulsystem der Welt es fertigbringt, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht, also praktisch als Illetristen aus der Schulpflicht entlassen wird. Ein ernst gemeintes Bildungsmonitoring – so müsste man annehmen – würde diese dramatische Entwicklung zu beheben versuchen. Stattdessen führte man Frühfranzösisch und Frühenglisch ein.

Dies zeigt uns, dass sich die Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft von den Erfordernissen der Schulen längst entkoppelt hat. Neben der Steuerung geht es schliesslich um Auftragssicherheit und Jobs. In den Lehrerzimmern des Landes zirkuliert der alte Spontispruch: «Die probieren mal was. Wenn es nicht klappt, versuchen sie was Neues. Vielleicht klappt es dann ja auch nicht.»

Illetrismus: Ein Fünftel kann nach 9 Schuljahren nicht richtig lesen und schreiben.

Und schliesslich gilt es festzuhalten, dass unser Bildungssystem ein Mittelstandsprojekt ist. Die Nöte der Illetristen, weitestgehend Migrantenkinder und Kinder der unterprivilegierten Schichten, interessiert diese Mittelschicht nur in Sonntagspredigten. Das Frühenglisch wurde denn auch in Zürich in einer Volksabstimmung bestätigt. In links-grün regierten Städten werden zurzeit staatlich finanzierte Privatschulen – zweisprachige Schulen – in Mittelstandsquartieren eingeführt, was die Restschulproblematik in den Aussenquartieren erhöht.

Was haben uns all die Reformen der Allianz gebracht ausser einer ideologischen Phrasendrescherei und einer «verschwurbelten» Kompetenzrhetorik?  Trotz gewaltiger Bildungsinvestitionen sinken die Leistungen unserer Schüler in den PISA-Studien, die Fremdsprachendidaktik mit dem Lehrmittel Passepartout hat das Französisch an unseren Schulen mehr oder weniger «gekillt». Der Drang ans Gymnasium nimmt zu, die Berufsbildung, eine starke Säule unseres Bildungssystems kommt unter Druck. Untaugliche, weil holistisch geprägte Integrationskonzepte bringen viele Schulklassen an ihre Belastungsgrenze. Ein eklatanter, in dieser Form noch nie dagewesener Lehrermangel untergräbt die Unterrichtsqualität. An meiner Ex-Schule arbeiten derzeit zwei Lehrkräfte, die kein Wort Deutsch sprechen.

Die Lehrkräfte wissen mehrheitlich, worauf es ankommt.

Verfalle ich jetzt selber dem von mir am Anfang dieses Textes gegeisselten Alarmismus? Dass all die negativen Auswirkungen bisher nicht voll durchgeschlagen haben, ist den meisten der rund 90’000 an der Volksschule arbeitenden Lehrkräften zu verdanken. Sie halten wacker stand, unterlaufen die praxisfernen Lehrplanvorgaben und unausgegorenen pädagogischen Konzepte und versuchen das umzusetzen, was der Kommissionspräsident einst meinte: Die Schüler müssen etwas lernen.

Und sie beginnen sich zu wehren. Zaghaft zwar, aber immer energischer. Sie treten kaum noch in die Lehrerverbände ein, welche diese unheilvolle Bildungspolitik stets unkritisch unterstützt haben. Die grosse Ausnahme unter all den kantonalen Lehrerverbänden ist allerdings der LVB (LehrerInnen-Verband Baselland), der mit klarer Kante die stupiden Auswüchse der Reformpolitik bekämpfte und dadurch vieles wieder in die richtigen Bahnen lenkte.  Gerade dieser LVB erkämpfte sich die Lehrmittelfreiheit, weitere Kantone folgten. Und ausgerechnet in Basel lancierte nun der behördenfreundlichste Lehrerverband der Schweiz eine Volksinitiative für die Wiedereinführung der Kleinklassen.

Letztendlich ist es die verantwortliche Lehrerin bzw. der verantwortliche Lehrer, die mit ihrer Person unterrichten und dabei überzeugen müssen. Das ist vielen Lehrkräften bewusst. «In einer demokratischen Gesellschaft muss die öffentliche Schule überzeugen, und zwar mit ihren Leistungen und so mit ihrer Qualität. Sie muss sich entwickeln, damit auch für die künftigen Generationen eine verlässliche Bildungsversorgung gegeben ist. Dafür stehen gute Schulen ein» (Professor Juergen Oelkers).

Dieser Artikel erschien in einer gekürzten Variante in der Weltwoche.

 

 

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«Ach, warum habe ich nicht…?» https://condorcet.ch/2021/12/ach-warum-habe-ich-nicht/ https://condorcet.ch/2021/12/ach-warum-habe-ich-nicht/#respond Sun, 05 Dec 2021 13:40:12 +0000 https://condorcet.ch/?p=10066

Unter Bedingungen der Unsicherheit entscheiden – das müssen viele. Auch Lehrerinnen und Lehrer. Sie alle kennen die Last der Kontingenz und den Stossseufzer: «Hätt’ ich doch!» Ge-danken aus aktuellem Anlass von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard: Vieles im Unterricht ist unvorhersehbar.

Das Corona-Virus nimmt keine Rücksicht auf unsere Pläne. Es hat seinen eigenen Kurs und kümmert sich kaum um unser Abwehrdispositiv. Im Gegenteil: Es zeigt uns die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten auf. Wir können eben nicht alles selbst bestimmen und sind nicht immer Herr im eigenen Haus. Gast bleibt das Unsichere, das Ungewisse – bleibt das, worüber wir nicht verfügen können: das Kontingente als das Konstitutive der Conditio humana. Das verdrängen wir gerne. Darum wohl fragte die FAZ vor einiger Zeit: «Sind wir kontingenzintolerant geworden?»[i]

Gefragt ist Ungewissheitstoleranz

Das Kontingente ist Teil unseres Lebens – und dieses Offene, Unvorhersehbare, Unverfügbare gehört auch zum Unterricht. Lehrerinnen und Lehrer benötigen darum eine grosse Dosis Ungewissheitsresistenz oder eben Kontingenztoleranz. Pädagogisches Handeln ist in einem hohen Grad von Unsicherheiten geprägt: Haben meine Schülerinnen und Schüler das Neue verstanden und die Zusammenhänge begriffen? Habe ich als Lehrer das Begriffliche gut genug erklärt und das Handlungswissen systematisch aufgebaut? Erreichen darum meine Kinder das intendierte Ziel? Und können alle die Aufgaben bewältigen und die Probleme lösen?

Vor allem junge Lehrpersonen erfahren die prinzipielle Offenheit der Lehr- und Lernprozesse vielfach als grosse berufliche Belastung – sie verbinden das Unberechenbare des pädagogischen Handelns mit Zweifeln am eigenen professionellen Können.

Vor allem jüngere Lehrkräfte haben oft Selbstzweifel.

Diese Ungewissheit im Unterrichtsalltag beunruhigt und verunsichert. Vor allem junge Lehrpersonen erfahren die prinzipielle Offenheit der Lehr- und Lernprozesse vielfach als grosse berufliche Belastung[ii] – sie verbinden das Unberechenbare des pädagogischen Handelns mit Zweifeln am eigenen professionellen Können. Auf diesen inneren Konflikt sind sie kaum vorbereitet. Unterrichten als Handeln in kontingenten Situationen bleibt in der Ausbildung meist ein blinder Fleck.[iii] Das macht ganz besonders unerfahrenen Lehrkräften zu schaffen.

 

Doch auf dieses Unverfügbare bin ich fürs Gelingen zwingend angewiesen: die Reaktion der Schülerinnen und Schüler, ihr Engagement, ihr Lernen-Wollen oder ihr «Get involved!»

Das Spannungsgefüge des Unterrichts

Wer unterrichtet, begibt sich immer in ein Spannungsfeld. Er ist immer konfrontiert mit der Frage: Habe ich den richtigen Weg gewählt? Wie steht es um das Ambivalente von prinzipiell Geplantem und konkret Machbarem, von Gewissheit und Möglichkeit? Unterricht vollzieht sich ja als Wechselspiel zwischen dem, was mir als Lehrer verfügbar ist – die methodisch-didaktischen Wissensbestände, mein professionelles Können –, und dem, was letztlich nicht in meiner Hand liegt und mir unverfügbar bleibt. Doch auf dieses Unverfügbare bin ich fürs Gelingen zwingend angewiesen: die Reaktion der Schülerinnen und Schüler, ihr Engagement, ihr Lernen-Wollen oder ihr «Get involved!», wie es am Eingangstor einer amerikanischen Schule heisst.

Unterricht ist kein Produktionsbetrieb, eine Lektion kein Start-Ziel-Lauf.

Darin liegt der erhebliche Anteil an Unvorhersehbarem und Unberechenbarem im Unterricht. Im subtilen Beziehungsgeflecht zunehmend heterogener Klassen lässt sich eben nicht alles rational lenken und noch weniger erzwingen; Unterricht ist kein Produktionsbetrieb, eine Lektion kein Start-Ziel-Lauf. Das geht bei den Bildungsplanern oft vergessen: Aus ihrer Logik ist alles machbar, alles organisierbar, alles eine Frage der Effizienz und des Willens. Ungewissheit und Kontingenz im Unterricht kommen kaum vor. Darin liegt in aller Regel eine unzulässige Komplexitätsreduktion.

das Originelle entsteht vielfach aus dem Ungeplanten und Unplanbaren.

Der schöpferische Wert der Kontingenz

Dabei kann die «systematische Ungewissheit pädagogischen Handelns» genau zu jenen sozialen Dynamiken führen, in denen kreative Momente einsetzen und sich produktive Denkprozesse entfalten.[iv] Das Schöpferische braucht das Offene; das Originelle entsteht vielfach aus dem Ungeplanten und Unplanbaren. Der Wert der Kontingenz! Darin liegt die Bildungschance offener Prozesse. Es muss darum gelingen, dass junge Lehrpersonen diese Offenheit und Unplanbarkeit ihres Wirkens nicht als belastendes Damoklesschwert wahrnehmen, sondern als konstitutives Element guten Unterrichts.

 

Und darum darf das Entscheiden unter den Bedingungen der Unsicherheit nicht zur Hypothek werden und mit dem quälenden Selbstvorwurf konnotiert sein: «Ach, hätt’ ich doch nur…!» oder verbunden mit der trüben Frage «Warum habe ich denn nicht…?» Aus der Forschung wissen wir: Lehrerinnen und Lehrer müssen in einer Schulstunde unzählige Entscheide fällen. Ihre Wirkung ist selten präzis vorhersehbar. Entscheiden beinhaltet immer auch einen möglichen Fehlentscheid – und kann im Nachhinein belasten. Das blockiert und lockt – bei allem Wert der Selbstreflexion – ab einem gewissen Grad in die Grübelfalle. Diese Klippe lässt sich vermeiden.

Entscheiden heisst verzichten

Jede Entscheidung hat ihren Preis. Das gilt auch für den Unterricht. Und mit jeder Entscheidung scheiden wir anderes aus. Entscheiden heisst immer auch verzichten. Wenn ich den Weg rechts wähle, muss ich den linken Pfad liegen lassen und gleichzeitig die Kraft haben, das zu ertragen. Im Unterricht mit seiner Offenheit kann so manches eben auch ganz anders möglich sein.

Alle pädagogischen Lehren, alle fachbezogenen Unterrichtstheorien, alle methodischen Ratschläge können etwas Zentrales nicht verdrängen: Im pädagogischen Alltag bleibt stets ein Unverfügbares, Kontingentes übrig, etwas, das auf unvorhersehbare Weise in Erscheinung treten kann. Es ist das Unverfügbare. Vielleicht sensibilisiert uns die aktuelle Gegenwart für dieses Kontingente.

Kontingenztoleranz aus dem pädagogischen Berufsalltag

Mehr Kontingenztoleranz fordert die FAZ für diese verrückte Covid-19-Zeit – etwas, das für erfahrene Lehrerinnen, für versierte Lehrer eigentlich selbstverständlich sein sollte. Dieses Selbstverständliche resultiert aus der Erfahrung ihres pädagogischen Handelns: Der Ungewissheit können wir nicht entkommen, so wenig es uns gelingt, dem eigenen Schatten davonzulaufen. Wir können lediglich in dieser Hinsicht klüger werden. Das gilt auch für die Zukunft unserer Bildungsbemühungen.

[i] Thomas Kaufmann, Das Singen ist uns allen vergangen, in: FAZ, 24.12.2020, S. 7.

[ii] Andreas Gruschka 2018), Ungewissheit, der innere Feind für unterrichtliches Handeln, in: Ingrid Bähr et al. (Hrsg.), Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken, Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 162.

[iii] Arno Combe (2015), Schulkultur und Professionstheorie. Kontingenz als Handlungsproblem des Unterrichts, in: Jeanette Böhme et al. (Hrsg.), Schulkultur. Theoriebildung im Diskurs. Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 124.

[iv] Arno Combe/Fritz-Ulrich Kolbe (2004), Lehrerprofessionalität, in: Werner Helsper/Jeanette Böhme (Hg.), Handbuch der Schulforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 834.

 

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Sprachenlastige Stoffpläne und Lehrermangel wirken sich spürbar auf Buben aus https://condorcet.ch/2021/11/sprachenlastige-stoffplaene-und-lehrermangel-wirken-sich-spuerbar-auf-buben-aus/ https://condorcet.ch/2021/11/sprachenlastige-stoffplaene-und-lehrermangel-wirken-sich-spuerbar-auf-buben-aus/#comments Tue, 23 Nov 2021 17:28:34 +0000 https://condorcet.ch/?p=9890

Für die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm ist der Mangel an männlichen Lehrpersonen nicht ausschlaggebend für die offensichtlichen Probleme, welche die Knaben in unserer Schule haben. Sie sieht den Grund eher in den verfehlten Schulreformen (siehe: https://condorcet.ch/2021/11/knaben-als-bildungsverlierer-ist-die-feminisierung-dran-schuld/). Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz gibt ihr zwar in diesem Punkt recht, hält aber trotzdem daran fest, dass die Feminisierung der Schule auch ihren Anteil an der Misere hat.

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Hanspeter Amstutz:
Gerangel unter Buben sehen sie manchmal gelassener als ihre Kolleginnen.

Es ist bemerkenswert, dass eine anerkannte Erziehungswissenschafterin die Frage stellt, warum Knaben in unserem Schulsystem offensichtlich weniger Erfolg haben als Mädchen. Margrit Stamm hat den Mut, eine häufig verdrängte Frage anzusprechen und Ursachen zu benennen. Durch die Knappheit ihrer anregenden Stellungnahme bleibt die Autorin aber in ihren Aussagen teils auf halbem Weg stehen, indem erhebliche Konsequenzen für die Bildungspolitik unerwähnt bleiben.

Die Autorin setzt ihre Kritik an einem Punkt an, der mit der Feminisierung der Schule wenig zu tun hat. Wie sie schreibt, hängt Bubenförderung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht davon ab, ob eine Lehrerin oder ein Lehrer eine Klasse unterrichtet. Die Autorin kritisiert jedoch, dass das aktuelle Bildungsprogramm mit seiner Sprachenlastigkeit und den oft weiblich geprägten Sozialisationsvorstellungen manchen Buben wenig entgegenkommt. Mit diesem Ansatz, der bei konsequentem Weiterdenken einigen Zündstoff in sich birgt, bringt Margrit Stamm ganz schön Bewegung in die Bubenpädagogik.

 

Margrit Stamm: Der Ruf nach mehr Männern in der Schule ist wahrscheinlich nicht die richtige Antwort.

Schüler erschliessen heute aus Quellentexten, wie Alfred Eschers Onkel von Sklavenarbeit profitierte, aber sie kennen die grandiose Geschichte des Baus des Gotthardtunnels nicht.

Bei vielen Knaben herrscht das Gefühl vor, die Schule biete kaum etwas, das auch nur annähernd so spannend wie das Geschehen in der Freizeit sei. Das Fussballspiel in der grossen Pause ist für sie oft das Wichtigste an einem Schulmorgen. Offenbar weist in manchen Klassen der tägliche Unterricht zu wenige Höhepunkte auf, um vom Schulstoff her Spannung aufkommen zu lassen. Der Geschichtsunterricht wurde streng nach heutigen moralischen Kriterien gereinigt und alles Heldenhafte stark relativiert. Lehrerinnen und Lehrer der Primarschule wagen es kaum noch die Phase der Sturm- und Drangzeit der Alten Eidgenossenschaft erzählerisch zu gestalten. In der Sekundarschule wiederum wird die neuere Schweizer Geschichte meist nur bruchstückhaft und ohne einen inneren Spannungsaufbau vermittelt. Schüler erschliessen heute aus Quellentexten, wie Alfred Eschers Onkel von Sklavenarbeit profitierte, aber sie kennen die grandiose Geschichte des Baus des Gotthardtunnels nicht.

Buben sind fasziniert, wenn mit einem lebendigen Realienunterricht ein Stück Welt ins Schulzimmer kommt.

Buben sind fasziniert, wenn mit einem lebendigen Realienunterricht ein Stück Welt ins Schulzimmer kommt. Doch genau Fächer wie Geschichte, Geografie und bis vor kurzem auch Natur und Technik sind von ihrer Bedeutung her abgewertet worden. Sie sind in den internationalen Vergleichstests schwer messbar und ihr Nutzen ist nicht unmittelbar zu erkennen. Was hat man beispielsweise mit dem Naturkundeunterricht nicht alles angestellt! Statt spannende Einblicke ins Leben am Weiher zu vermitteln, wurden die verschiedenen Amphibien auf Englisch oder Französisch beschrieben und für Sprachübungen verwendet. Zwar waren das extreme Auswüchse einer Didaktik, welche Vielsprachigkeit über tieferes Verstehen von Mensch und Umwelt setzte, doch durch den forcierten Spracherwerb kamen die spezifischen Interessen der Buben generell zu kurz.

Ähnliches gilt für das Fach Natur und Technik, wo Buben in der Regel ein brennendes Interesse an spannenden Experimenten und technischen Bastelarbeiten haben.

Die Aufwertung der formal stark prägenden Fremdsprachen gegenüber den lebensnahen Realienfächern hat ihren Preis. Ein grosser Teil der Schüler ist in der herrlichen Phase des Entdeckens der Welt wenig daran interessiert, sich gleich in drei Sprachen korrekt ausdrücken zu müssen. Viel lieber beschäftigen sie sich mit der Frage, welcher Saurier denn der gefährlichste war und warum die gewaltigen Tiere ausgestorben sind. Ähnliches gilt für das Fach Natur und Technik, wo Buben in der Regel ein brennendes Interesse an spannenden Experimenten und technischen Bastelarbeiten haben. Sie blühen auf, wenn sie das Rückstossprinzip einer mit Luftdruck angetriebenen Rakete erproben oder einen selber gebauten Wagnerschen Hammer in Betrieb setzen können. Mit solchen Elementen der Spannung kann man Buben abholen und sie auch fürs alltägliche schulische Lernen gewinnen.

Den Technikunterricht ausbauen

Ausgehend vom erkannten Nutzen einer Frühförderung in den Naturwissenschaften wird zurzeit versucht, den Technikunterricht auszubauen. Erfreulicherweise stehen bereits attraktive Lehrmittel zur Verfügung. Doch es ist noch ein weiter Weg, um den gewünschten Paradigmenwechsel herbeizuführen. Will man einen qualitativ hochstehenden Technikunterricht erreichen, braucht es den sorgfältigen Aufbau einer Physiksammlung und gezielte Weiterbildung. Um Erfolg zu haben, sind pädagogische Grundsatzdiskussionen über gemeinsame Bildungsziele und das Engagement eines schulinternen Fachteams notwendig. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Grundinteresse für technische Experimente auf Seiten der männlichen Mitglieder eines Schulteams oft höher ist als bei ihren Kolleginnen.

Bereits das Berner Kantonsparlament kritisierte die Sprachlastigkeit bei den Übertrittsprüfungen.

Eine grosse Zahl der Lehrerinnen  investiert sehr viel in die sprachliche Weiterbildung und setzt entsprechend im Sprachenunterricht gewisse Prioritäten. Das ist keinesfalls schlecht, solange in einem Schulteam eine einigermassen vernünftige Durchmischung der Geschlechter besteht. Fehlen jedoch in den Mittelstufenteams die Männer, besteht die Tendenz, dass in der schulinternen Weiterbildung und in fachlichen Teamgesprächen eine Einseitigkeit der Themen vorherrscht.

Was engagierte Lehrer neben ihren anders gelagerten Grundinteressen in ein Schulteam einfliessen lassen können, sind oft andere Arten der Konfliktbewältigung. Gerangel unter Buben sehen sie manchmal gelassener als ihre Kolleginnen. Der alltägliche Wettbewerb unter Buben ist ihnen vertraut und es fällt ihnen vielleicht leichter, im richtigen Moment einzugreifen. In einer Schulkultur des offenen Gedankenaustauschs in den Lehrerzimmern profitieren alle davon, wenn auch die eher männliche Art des Umgangs mit Buben thematisiert wird. Wo dies nicht der Fall ist, haben couragierte Lehrerinnen mit klarer Linie meist einen schwereren Stand.

Offensichtlich ist ein ganzes Segment fähiger Pädagogen weggebrochen, weil ihre Berufsvorstellungen nicht mehr mit dem neuen Lehrerbild übereinstimmen. Sie möchten als Kapitäne mit grosser sozialer Kompetenz eine Klasse führen und beim Bildungsprogramm ein gewichtiges Wort mitreden.

Ausgerechnet im Schulbereich melden sich die Männer ab.

Zweifellos die heikelste Frage ist, wieweit sich das aktuelle Männerbild auf die Bubenpädagogik auswirkt. Da sticht man sofort in ein ideologisches Wespennest, wenn man versucht, das Ganze ein wenig zu typisieren. Margrit Stamm weist nur am Rand  darauf hin, dass die gesellschaftlichen Normen zur Männlichkeit im Wandel sind. Und doch ist die Frage zentral, wieweit die teils neue Rolle des Lehrers als Begleiter überhaupt noch Männer mit pädagogischen Führungsqualitäten anspricht. Die Zahlen in der Primarschule sprechen eigentlich eine deutliche Sprache. Offensichtlich ist ein ganzes Segment fähiger Pädagogen weggebrochen, weil ihre Berufsvorstellungen nicht mehr mit dem neuen Lehrerbild übereinstimmen. Sie möchten als Kapitäne mit grosser sozialer Kompetenz eine Klasse führen und beim Bildungsprogramm ein gewichtiges Wort mitreden. Ihre Stimme fehlt in der Bildungspolitik. Der Wegfall dieser positiven Identifikationsfiguren ist zweifellos auch ein Rückschlag für die Bubenpädagogik.

Das Ziel einer Durchmischung der Schulteams auf der Mittelstufe muss ernst genommen werden. Buben sollen im Schulhaus erleben, wie Männer in gewissen Situationen reagieren. Überall wird heute gefordert, dass sich die Männer mehr in der Erziehung engagieren und sich mit Buben auseinandersetzen. Doch ausgerechnet im Schulbereich melden sich die Männer ab und tragen zu einem gravierenden Lehrermangel bei. Dessen belastende Nebenwirkungen sind bestens bekannt. So können manche Schulen einen Teil der Klassenpensen nur noch mit aufgesplitterten Teilzeitstellen abdecken. Das ist besonders in Klassen mit quirligen Buben eine Überforderung für alle Beteiligten. Margrit Stamm hat den Ball aufgenommen und ihn in die Runde gespielt. Jetzt liegt es an uns weiterzumachen.

Hanspeter Amstutz

 

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Überrollt uns nun eine unreflektierte Digitalisierungswelle? https://condorcet.ch/2020/03/ueberrollt-uns-nun-eine-unreflektierte-digitalisierungswelle/ https://condorcet.ch/2020/03/ueberrollt-uns-nun-eine-unreflektierte-digitalisierungswelle/#respond Wed, 25 Mar 2020 21:48:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=4427

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz warnt vor der nun möglichen erzwungenen Digitalisierung und preist die Vorzüge eines Schulunterrichts im Klassenverband und mit einer Lehrperson.

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Hanspeter Amstutz
Bild: Fabü

Ob digital oder analog, Lehrpersonen versuchen zurzeit mit viel Engagement mit ihren Schülerinnen und Schülern in gutem Kontakt zu bleiben. Doch immer lauter taucht in der Presse der Vorwurf auf, die Schule habe die Digitalisierung verschlafen und sei für einen modernen Unterricht schlecht gerüstet. In vielen Berichten wird die Überzeugung geäussert, dass die Corona-Krise die künftige Schule grundlegend verändern werde.

Neues Lernen mit digitalen Lehrpräsentationen

 Geschichtsphilosoph Hegel ist überzeugt, dass der Mensch nur am Menschen zum Menschen werde. Diese pädagogische Leitidee gilt auch  in Zeiten des Corona-Virus. Nur ist es schwierig, bei einer vorgeschriebenen räumlichen Distanz diese unmittelbare Präsenz beim Unterrichten zu erreichen. Digital bietet sich eine durch eine sympathische Person präsentierte Lektion geradezu als Ersatz an. Didaktisch gut aufbereitet, kameratechnisch geschickt aufgenommen und inhaltlich solid kann ein Ersatz-Unterricht digital eine Weile lang ganz gut gelingen. Diese Einsicht ist nicht neu, denn schon früher waren spannende Schulfernseh-Sendungen eine Bereicherung im Biologie- und Geografieunterricht. Dass ein seriöser Mathe-Youtuber wie Daniel Jung mit gut präsentierten Mathe-Lektionen viele Schüler anspricht, ist nicht von der Hand zu weisen. In Zeiten des Corona-Virus können solche Lektionsreihen helfen, das schulische Angebot teilweise aufrechtzuerhalten. Aber ein vollwertiger Ersatz für einen lebendigen Klassenunterricht ist dies wirklich nicht.

Der Mensch wird nur am Menschen zum Menschen. Hegel. 

Der lebendige Dialog bleibt die pädagogische Basis

Der Mensch wird nur am Menschen zum Mensch

Im realen Unterricht ist eine Lehrperson da, welche mit den Kindern im Dialog steht und spürt durch deren Körpersprache, was sie jetzt gerade brauchen. Kinder können mit Fragen direkt intervenieren, wenn sie etwas nicht verstehen und die Lehrerin weiss so, wo sie etwas vertieft erklären muss. Eine Youtuber-Beziehung im Einbahnverkehr lässt sich deshalb nicht mit einer guten Lehrer-Schüler-Beziehung vergleichen. Wenn jetzt einige Digital-Turbos glauben, den Mathematik- und Deutschunterricht der Volksschule könne man mittels hervorragender Präsentatoren und individualisierter Lernsoftware auch weitgehend ohne gestaltende Lehrpersonen durchführen, dann begibt sich die Pädagogik auf einen Holzweg. Wer auf dieses falsche Pferd der Digitalisierung setzt, wird sich gewaltig verrennen.

Forcierte Digitalisierung verbessert die Chancengerechtigkeit nicht

Bereits ist der laute Vorwurf zu hören, dass die unterschiedliche Ausrüstung der Primarschulen mit digitalen Geräten nun zu einer starken Verzerrung der Chancengerechtigkeit führe. Glauben diese Kritiker allen Ernstes, dass sich mit einem breit installierten digitalen Fernunterricht die volle schulische Leistung über Monate hinweg aufrechterhalten liesse? Kann mit einer analogen Unterstützung mit Arbeitsmaterialien und Telefonkontakten nicht auch einiges erreicht werden?

Die Schere des Lernerfolgs zwischen geförderten und ungenügend betreuten Kindern wird im Fernunterricht noch viel weiter auseinandergehen.

Droht uns nach der Corona-Krise die totale Digitalisierung?

Doch letztlich geht es gar nicht darum, In welcher Form die Lernappelle und Aufträge an die Schüler zuhause gelangen. Wer nur einigermassen Einblick in die unterschiedlichen Rahmenbedingen in den Familien bezüglich elterlicher Lernunterstützung hat, wird im Zusammenhang mit dem Fernunterricht das Wort Chancengleichheit kaum noch verwenden. Die Schere des Lernerfolgs zwischen geförderten und ungenügend betreuten Kindern wird im Fernunterricht noch viel weiter auseinandergehen.

Eine forcierte Digitalisierung löst die schulischen Herausforderungen der Corona-Krise nur zu einem begrenzten Teil. Gar nicht zum Vorteil der Schule wäre es, wenn die Krise als Auslöser für einen Paradigmenwechsel hin zu einer totalen Digitalisierung des Mathematik- und Deutschunterrichts benützt würde. Für einen solchen schulischen Umbau fehlen die überzeugenden pädagogischen Argumente.

Behalten wir einen kühlen Kopf und ziehen wir für die  Schulentwicklung die richtigen Schlüsse:

  • Digitale Lehrpräsentationen sind nützlich, wenn Notsituationen überbrückt werden müssen oder Kinder Musse zum freien Lernen haben.
  • Lehrpersonen sollten Zugriff auf qualitativ gute Lernsoftware haben und nicht ihre Zeit mit dem Aussortieren ungenügender Präsentationen und Programme vergeuden müssen.
  • Gute Präsentationen mit anschaulichem Bild- und Filmmaterial können den täglichen Unterricht bereichern, aber nicht ersetzen.
  • Digitalisierte Lehrpräsentationen sollen als positive Herausforderung für die Verbesserung der realen Fachdidaktiken verstanden werden.
  • Die Lehrerinnen und Lehrer sind in den verschiedenen Fachdidaktiken so aus- und weiterzubilden, dass sie selber einen ausgezeichneten lebendigen Unterricht gestalten können.
  • Der Wert des gemeinsamen Klassenunterrichts als Zentrum der Schullebens muss wieder ins richtige Licht gerückt werden.
  • Die finanziellen Mittel für die Schulentwicklung dürfen nicht einseitig für die schulische Digitalisierung verwendet werden. Vielmehr sollen die Schulen mehr in die interne fachliche Weiterbildung investieren.

Unterricht in Schulklassen schafft Geborgenheit

 Die aktuelle Krise zeigt, dass die Kinder den unmittelbaren Kontakt zu ihren Mitschülern und zu ihren Lehrpersonen schon nach wenigen Tagen am meisten vermissen. Pädagogik in gut geführten Klassen vollzieht sich im Miteinander, im Zuhören, im lebendigen Mitdiskutieren und Miterleben.

Digitalisierung mit Mass
Bild: Pietro Masztalerz aus Schlaue Bilder, Lappan

Ich teile in Übereinstimmung mit Condorcet-Autor Carl Bossard die Auffassung, dass die Frage der Menschenbildung in der Pädagogik eine zentrale Rolle spielt. Der anerkannte Pädagoge hält den lebendigen Dialog im Klassenzimmer im Ganzen gesehen für nachhaltiger als die Einbahn-Kommunikation in einer Fernseh-Lektionsreihe. Diese kann zwar durchaus einige Lernfortschritte bringen, vor allem dann, wenn die Schüler das Lernen bereits als etwas Positives erfahren haben. Aber es ist gefährlich zu glauben, auch ohne hervorragende Lehrerinnen und Lehrer könne man dank der Digitalisierung unsere Volksschule einen grossen Schritt voranbringen.

 

 

 

 

 

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