KMU - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 27 Jan 2022 13:52:47 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png KMU - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Eine Bieler Erfolgsgeschichte – von kaum jemandem wahrgenommen https://condorcet.ch/2022/01/eine-bieler-erfolgsgeschichte-von-kaum-jemandem-wahrgenommen/ https://condorcet.ch/2022/01/eine-bieler-erfolgsgeschichte-von-kaum-jemandem-wahrgenommen/#comments Sat, 22 Jan 2022 15:28:50 +0000 https://condorcet.ch/?p=10381

Condorcet-Autor Alain Pichard stellt einen Ex-Schüler vor, der sich für eine Lehre entschieden hat und heute ein erfolgreicher Unternehmer ist. Seine Geschichte zeigt, dass der Königsweg in den Diskursen über Chancengerechtigkeit nicht immer das Gymnasium und die Universität sein müssen.

The post Eine Bieler Erfolgsgeschichte – von kaum jemandem wahrgenommen first appeared on Condorcet.

]]>
Alain Pichard: Neben dem gymnasialen Weg noch viele Möglichkeiten, seine Lebensziele zu erreichen.
Oliver Muttscheller: 2006 machte er sich selbständig.

Oliver Muttscheller verliess die Schule, die damals noch Primarschule Sahligut hiess, im Jahre 1996 und machte eine Lehre als Metallbauschlosser. Er gehörte zum letzten Jahrgang, bevor das Berner Schulsystem auf das Modell 6/3 umgestellt wurde. Die älteren Semester werden sich wohl noch erinnern, dass die Schüler, welche es nicht in die Sekundarschule schafften, weiterhin in der Primaroberstufe unterrichtet wurden. Das waren damals rund 60 % aller Schüler.  Keine Frage – im heutigen 6/3 Modell wäre er sein Sekundarschüler gewesen, wie heute 70 % aller Schüler.

Nach der Lehre bei der Firma Hartmann, die es heute nicht mehr gibt, arbeitete er in verschiedenen kleineren Schlossereien, um sich den einen oder anderen speziellen Handwerkergriff anzueignen und seine Ausbildung zu komplettieren. 2006 machte er sich selbständig. Über mangelnde Aufträge konnte sich mein Ex-Schüler nicht beklagen. Die Auftragsbücher waren prall gefüllt und das kleine Atelier in Bözingen litt bald einmal unter Platznot. 2012 tat sich Oliver Mutscheller mit  seinem Jugendfreund und gelerntem Elektroniker Daniel Bickel zusammen. Sie beiden wurden zu einem Dreamteam. 2013 wurde die Metallbaufirma Mutscheller GmbH gegründet. Die Jungunternehmer suchten zunächst Bauland im Industriegebiet Bözingenmoos. Sie blitzten aber bei den Behörden ab, die sich vor allem für die grossen renommierten Betriebe der Uhrenwirtschaft interessierten.

So mieteten sie sich in einem Atelier von rund 200m2 hinter dem Hirschensaal ein. Die Firma war äusserst erfolgreich und stellte bald einmal die ersten Mitarbeiter ein. Die Platzprobleme aber blieben, an eine vernünftige Produktion war kaum noch zu denken.

Erwerb des Fabrikgebäudes nur mit Übernahme der Giesserei Benoit

Schliesslich meldete sich ein gewisser Herr Benoit bei den beiden. Er lud sie in seine Metallgiesserei ein, die in die Jahre gekommen war. Herr Benoit machte Muttscheller ein Angebot.  Er bot ihm das Gebäude zum Verkauf an, unter der Bedingung, dass die Firma Muttscheller auch die Giesserei mitsamt den 8 Angestellten übernähme. 2018 kam der Deal zustande und die Firma Benoit GmbH wurde von Muttscheller und seinem Geschäftspartner Bickel gegründet. Was jetzt folgte, war eine äusserst erstaunliche Erfolgsstory inmitten von Biel. Die Firma Mutscheller GmbH erwarb das riesige Gebäude am Ausgang der Mattenstrasse kurz vor Unterführung in die Mettstrasse. Die beiden Startupper sanierten mit dem Gewinn ihrer erfolgreichen Metallbaufirma das Gebäude und vermieteten die freien Lokalitäten an Kulturschaffende, einem Crossfit-Zentrum, zwei kleineren Schlossereien, dem Kinderzirkus, dem Loco-Club, einem Physioatelier und einem Kryptostartup. Den eben erst umgebauten obersten Stock haben jetzt vier Künstlerinnen und Künstler aus Zürich gemietet. In deren Metroole sind solche Räume zu diesen Preisen reines Wunschdenken. Die vier werden im Frühjahr nach Biel ziehen. Ein Gang durch das riesige Gebäude offenbart die unglaubliche Kreativtät, Vielfältigkeit und Schaffenskraft der Menschen, die hier arbeiten. Viele Kredite konnten mittlerweile zurückbezahlt werden. Und die Auftragsbücher bleiben prall gefüllt.

Oliver Muttscheller zeigt, dass es neben dem gymnasialen Weg noch viele Möglichkeiten gibt, seine Lebensziele zu erreichen und ein glückliches Leben zu führen.

Ein Fabrikgebäude voller Kreativität

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, nächstens einmal einen der neuen Aufzüge im Insel-Spital benutzen, werfen sie einen Blick auf die wunderbare Verschalung, made in Biel by Mutscheller Metallbau GmbH.

Mittlerweile ist der 42-jährige Familienvater Besitzer eines Einfamilienhauses in Orpund, bezahlt pünktlich seine Steuern und hat insgesamt 38 Angestellte.

Finden keine Lehrlinge!

In intellektuellen Kreisen wird oft über die Chancengleichheit bzw. unser ungerechtes Bildungssystem geplaudert. Der Königsweg in diesen Diskursen ist dabei immer das Gymnasium und die Universität. Oliver Muttscheller zeigt, dass es neben dem gymnasialen Weg noch viele Möglichkeiten gibt, seine Lebensziele zu erreichen und ein glückliches Leben zu führen. Was fehlt Muttscheller noch zu seinem Glück? «Lehrlinge. Wir finden keine Lehrlinge mehr», meint der Unternehmer, «wir haben einige Lehrstellen anzubieten, doch niemand will sie. Ein Metallbauer kann heute fast alles machen und überall arbeiten. Und auch die Löhne stimmen.»

Oliver Mutscheller wäre für mich ein Kandidat für den Bieler des Jahres, der jedes Jahr von der zweisprachigen Zeitung Biel-Bienne vergeben wird.

 

 

 

The post Eine Bieler Erfolgsgeschichte – von kaum jemandem wahrgenommen first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/01/eine-bieler-erfolgsgeschichte-von-kaum-jemandem-wahrgenommen/feed/ 1
KV-Reform: «Eine Ausbildung muss machbar sein.» https://condorcet.ch/2021/04/kv-reform-eine-ausbildung-muss-machbar-sein/ https://condorcet.ch/2021/04/kv-reform-eine-ausbildung-muss-machbar-sein/#comments Wed, 28 Apr 2021 08:43:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=8385

BERUFSBILDUNG – Die beliebte KV-Lehre soll mit der Reform «Kaufleute 2022» neu konzipiert werden. Allerdings schiesst die Projektgruppe mit ihren Vorschlägen im Alleingang am Ziel vorbei und sieht ein viel zu kurzes Zeitfenster vor. Es regt sich Widerstand.

The post KV-Reform: «Eine Ausbildung muss machbar sein.» first appeared on Condorcet.

]]>
Urs Berger, Leiter Berufsbildung bei der Wirtschaftskammer Baselland: Es droht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.

Urs Berger, Leiter Berufsbildung bei der Wirtschaftskammer Baselland, ist skeptisch gegenüber der geplanten Reform der KV-Lehre. «Mit dieser Reform wird das weltweit geschätzte Schweizer Bildungssystem aufs Spiel gesetzt», sagt er. Die Reform berücksichtige die Bedürfnisse der Wirtschaft nicht, nehme zu wenig Rücksicht auf die digitalen Anforderungen, die in den nächsten Jahren wachsen würden, und führe zu einer Zwei- Klassen-Gesellschaft, sagt Berger.

Ausserdem verfolge die Reform, die seit 2018 von der Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB) vorbereitet wird, einen viel zu engen Zeit- plan. Die Einführung der Neuerungen ist, wie der Arbeitstitel des Reformpakets «Kaufleute 2022» ankündigt, bereits auf das Schuljahr 2022/2023 geplant. «Für eine solide Überarbeitung müssen mindestens fünf Jahre eingeplant werden. So etwas macht man nicht einfach so im Schnellzugstempo und mit der Dampfwalze», findet Berger.

«Vor den Kopf gestossen»

Ihn stört auch, dass die Reform «in der stillen Kammer» erarbeitet wird und komplett an den Bedürfnissen der Wirtschaft vorbeiführt. «Die Ausbildungsverantwortlichen und ihre Betriebe sowie die Lernenden fühlen sich vor den Kopf gestossen.» Bis am Dienstag dieser Woche konnten interessierte Kreise gegenüber der SKKAB Rückmeldungen zur geplanten Reform geben. Die negativen Reaktionen sind dabei kaum zu überhören. Auch das Baselbiet hat sich innerhalb des Bildungsrates und der zuständigen Regierungsrätin und Bildungsdirektorin Monica Gschwind kritisch geäussert.

So etwas macht man nicht einfach so im Schnellzugstempo und mit der Dampfwalze.

Der Gegenwind bläst durchaus aus der ganzen Schweiz. Der Aargauer Regierungsrat Alex Hürzeler erachtet einige angedachte Reformpunkte als «nicht haltbar», grosse Skepsis kommt auch aus den Reihen von Zürcher Wirtschafts- und KV- Schulen. «Die Reform ist ein Lehrstellen-Killer», sagte jüngst eine Fachfrau der betrieblichen Ausbildung, die nicht namentlich genannt werden wollte, gegenüber dem Portal «Watson». Dass sie sich anonym äussert, habe mit einem Maulkorb zu tun, der den Lehrkräften der Zürcher KV-Schulen in dieser Problematik offenbar angehängt worden sei, wie «Watson» berichtet.

Erschwerter Zugang

KV-Reform: Zu wenig Rücksicht auf die schwächeren Schülerinnen und Schüler.

Störend an der Reform ist einerseits der erschwerte schulische Zugang zu einer dreijährigen KV-Lehre, da die Anforderungen an die Minimalnoten erhöht werden. Daniela Schüpbach, Leiterin der KMU Lehr- betriebsverbund AG, erachtet diese Schwelle als problematisch. «Es gibt neben den Noten andere Kriterien wie die Sozialkompetenz oder die praktischen Fähigkeiten, die es zu berücksichtigen gilt.» Berger ergänzt, dass die Reform zu einer «Zwei-Klassen-Gesellschaft» führen wird und es schulisch schwächeren Kandidaten oder «Spätzündern» künftig kaum mehr möglich sein würde, überhaupt eine Ausbildung «Kaufmann/frau» mit EFZ-Abschluss zu starten. Es müsse möglich bleiben, dass sich die Jugendlichen innerhalb ihrer Ausbildung entwickeln können. «Eine Lehre muss machbar bleiben und beidseitig zu einem Erfolgserlebnis führen.»

Kompetenzen statt Fachwissen

Kritik gibt es auch am Vorhaben, wichtige Kernfächer einer KV-Ausbildung künftig durch sogenannte Handlungskompetenzen zu ersetzen, die sich zum Beispiel «Gestalten von Kunden- und Lieferantenbeziehungen» oder «Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld» nennen. Das Finanz- und Rechnungswesen jedoch soll künftig kein Pflichtfach mehr sein, und nur noch eine Fremdsprache wäre obligatorisch.

Deutsch steht gar nicht mehr auf dem Lernplan, dafür wird bei den Zulassungsvoraussetzungen «sehr gutes Deutsch» verlangt. Diese Entwicklung wird von vielen skeptisch beäugt, da sie die eigentlichen Grundbedürfnisse im kaufmännischen Bereich in den Hintergrund rückt. «90 Prozent der Ausbildungs- betriebe sind einfache KMU, deren Anforderungen es zu berücksichtigen gilt», sagt Urs Berger. Er fordert deshalb einen viel umfassenderen und vertieften Reformentwicklungsprozess unter Einbezug aller Player, der auch die stärkeren Anforderungen an die digitalen Kompetenzen berücksichtigt.

Im Jahr 2019 haben gesamtschweizerisch rund 13 000 Lernende in 21 verschiedenen KV-Berufen eine Ausbildung in Angriff genommen, dieser Ausbildungsweg ist nach wie vor äusserst beliebt.

Einfluss auf Ausbildungsbetriebe

Klar ist für ihn, dass selbst ein auf 2023 verschobenes Reformziel zu knapp bemessen ist. Neben der Wirtschaft ist, nimmt man das bisherige mediale Echo wahr, auch die Lehrerschaft im KV-Bereich kaum in den Reformprozess einbezogen worden.

Im Jahr 2019 haben gesamtschweizerisch rund 13 000 Lernende in 21 verschiedenen KV-Berufen eine Ausbildung in Angriff genommen, dieser Ausbildungsweg ist nach wie vor äusserst beliebt. «Die Ideen der Reform würden die KV-Lehre erheblich abwerten», ist Urs Berger überzeugt. Und die aktuellen Unsicherheiten könnten auch auf die Lehrbetriebe den negativen Einfluss ausüben, dass diese eher auf KV-Lernende verzichten würden, wenn sie die Rahmenbedingungen nicht genau kennen und ihre eigenen Bedürfnisse zu wenig gut abgedeckt sind. Die Baselbieter Wirtschaft habe trotz Coronakrise ihre Verantwortung wahr- genommen und bietet auch 2021 genügend Lehrstellen an. Dies aufs Spiel zu setzen, sei unverständlich, findet Berger. «Die Reformgruppe hat die aktuelle Situation nicht erkannt.»

Daniel Schaub

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst im «Standpunkt der Wirtschaft», der Zeitung für KMU erschienen (Standpunkt-Ausgabe Nr. 520 vom 23. April 2021)
https://publikationen.kmu.org/standpunkt-520-23-april-2021/65550899

The post KV-Reform: «Eine Ausbildung muss machbar sein.» first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2021/04/kv-reform-eine-ausbildung-muss-machbar-sein/feed/ 1