Intelligenz - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 27 Dec 2022 15:29:45 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Intelligenz - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 „Spezielle Formen von Humor können auf Hochbegabung hinweisen“ https://condorcet.ch/2022/12/spezielle-formen-von-humor-koennen-auf-hochbegabung-hinweisen/ https://condorcet.ch/2022/12/spezielle-formen-von-humor-koennen-auf-hochbegabung-hinweisen/#respond Wed, 21 Dec 2022 06:33:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=12690

Wenn Kinder deutlich schneller lernen als andere oder in der Schule unterfordert sind, vermuten Eltern oft eine besondere Intelligenz. Echte Hochbegabung ist zwar sehr selten. Es gibt allerdings Hinweise, auf die Sie achten sollten. Wir schalten einen Berich von Annika Janssen hoch, der in der WELT erschienen ist.

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Annika Janßen ist eine deutsche Wirtschaftsjournalistin. Sie hat Politikwissenschaft an der Universität Zürich und Duisburg-Essen studiert.

Wenn Kinder schon mit drei Jahren zählen können, sich im Kindergartenalter lieber mit Dinosaurierarten als mit Bauklötzen beschäftigen und in der Grundschule zu den Überfliegern gehören, steht schnell ein Verdacht im Raum: Das Kind ist hochbegabt! Nicht selten vermuten Eltern auch dann eine überdurchschnittliche Begabung, wenn ihr Kind sich in der Schule und bei den Hausaufgaben langweilt oder den Unterricht stört, weil es anscheinend unterfordert ist.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Personen mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von 130 und mehr gelten als hochbegabt, ihre kognitive Leistungsfähigkeit ist also besonders hoch. Einen solch hohen IQ haben lediglich rund zwei Prozent der Bevölkerung. „Die Zahl 130 ist nicht in Stein gemeißelt, gilt aber als geläufige Definition einer Hochbegabung“, sagt Michael Wolf, fachlicher Leiter und Psychologe am Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland in Brühl.

Einen solch hohen IQ haben lediglich rund zwei Prozent der Bevölkerung.

Wie aber können Eltern erkennen, ob ihr Sprössling zu den wenigen Ausnahmen gehört, deren Gehirn zu ständigen Höchstleistungen in der Lage ist? „Um festzustellen, ob ein Kind besonders begabt ist, kommt man an einer ausführlichen Diagnostik inklusive wissenschaftlich-psychologischer Tests nicht vorbei“, erklärt Wolf.

Es gibt jedoch Merkmale, die, wenn sie sich häufen, auf eine Hochbegabung hinweisen können: Etwa wenn kleine Kinder einen deutlichen Entwicklungsvorsprung gegenüber ihren Altersgenossen haben und zum Beispiel ihr Wortschatz schon früh sehr groß ist. Oder wenn sie sich im Kleinkindalter selber Lesen und Schreiben beibringen, über eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe und ein ebenso gutes Gedächtnis verfügen und einen Hang zum Perfektionismus haben.

„Auch wenn Kinder sich schon früh für vermeintliche Erwachsenenthemen interessieren und spezielle Formen von Humor verstehen können, etwa Ironie und Sarkasmus, kann das auf eine Hochbegabung hinweisen“, sagt Wolf. Gleiches gelte für ein stark ausgeprägtes Interesse an bestimmten Themen – seien es Naturwissenschaften, Klassik-Kompositionen oder Automarken.

Die Tests sind aussagekräftig.

Der Psychologe warnt jedoch davor, überstürzt falsche Schlüsse zu ziehen. Insbesondere Checklisten im Internet führten schnell in die Irre – und seien meist vage formuliert. Bei Babys und Kleinkindern könne sich ein Entwicklungsvorsprung auch wieder „herauswachsen“, und selbst im Grundschulalter lasse sich nicht immer schon eine eindeutige Aussage zu einer eventuellen Hochbegabung eines Kindes treffen, sagt Wolf.

Tests sind aussagekräftig

„Im Alter von zwölf bis 14 Jahren ist die körperliche und geistige Entwicklung in der Regel so weit fortgeschritten, dass sich eine besonders hohe kognitive Leistungsfähigkeit valide feststellen lassen kann“, sagt Wolf. Kaum etwas lasse sich so gut messen wie Intelligenz, erklärt der Psychologe. Die Aussagekraft eines Intelligenztests sei entsprechend hoch. Aber: „Nur kombiniert mit umfassenden Beratungs- und Analysegesprächen mit Eltern und Kind, ergibt sich ein klares Bild.“

Viele Hochschulen bieten begabungspsychologische Beratungsstellen an.

Eltern, die bei ihrem Kind eine Hochbegabung vermuten, können sich bei verschiedenen Anlaufstellen beraten lassen. Oft können schon Kinderärzte erste Hinweise auf eine besondere Begabung geben und gegebenenfalls an einen spezialisierten Kinderpsychologen verweisen.

Auch Schulpsychologen eignen sich als Ansprechpartner, ebenso Universitäten: Viele Hochschulen bieten begabungspsychologische Beratungsstellen an. Der Verein Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) und die Karg-Stiftung haben sich die Förderung hochbegabter Kinder ebenso zur Aufgabe gemacht wie die Beratung von Eltern und Familien.

Etwa ein Drittel der Kinder, die im Hoch-Begabten-Zentrum Rheinland getestet und beraten werden, sind tatsächlich hochbegabt, schätzt Wolf. Ein konkreter Beratungsanlass bestehe aber in fast allen Fällen: Wenn ein Kind in der Schule Probleme habe, sei nicht immer klar erkennbar, woran das liegt – und ob das Kind vielleicht tatsächlich unterfordert sein könnte.

Zumal nicht jeder Hochintelligente in der Lage sei, sein Potenzial vollumfänglich abzurufen. „Das trifft auf zehn bis zwölf Prozent der Hochbegabten zu. Sie sind sogenannte Underachiever, leisten in der Schule also weniger, als man angesichts ihres hohen IQs erwarten könnte.“

Hochbegabte sind meist keine Außenseiter

Damit Kinder ihr volles Potenzial abrufen können, spielen zum Beispiel eine gute Förderung in Kita und Schule und auch das soziale und familiäre Umfeld eine grosse Rolle.

Die Prozentzahl zeigt: Dass viele Hochbegabte sich in der Schule langweilen oder besonders anstrengend verhalten, ist ein Mythos. „Bei Hochbegabung denken viele an Nerds wie Sheldon Cooper aus der TV-Serie ‚The Big Bang Theory‘. Solche Charaktere gibt es unter Hochintelligenten, aber längst nicht so oft, wie viele glauben“, sagt Wolf.

Das Ergebnis: Die Kinder sind in der Regel keine Außenseiter, sondern sozial gut integriert und angepasst.

Das Sozialverhalten, die Kindheit, Schulzeit und das Berufsleben besonders begabter Menschen verliefen meist genauso wie bei durchschnittlich Intelligenten auch. Der Marburger Intelligenzforscher Detlef Rost hat das im „Marburger Hochbegabtenprojekt“ belegt: Rost beobachtete über 25 Jahre hinweg 151 hochbegabte Kinder vom dritten Schuljahr an.

Das Ergebnis: Die Kinder sind in der Regel keine Außenseiter, sondern sozial gut integriert und angepasst. Sie sind nicht ängstlicher oder viel sensibler als ihre Altersgenossen. Und die meisten von ihnen kommen auch in einer Regelschule gut zurecht.

Davon ist auch Birgit Lehfeldt überzeugt. Dass besonders intelligente Kinder immer besonders gute Schüler sind, hält sie jedoch für einen Mythos. Als Pädagogin und Beratungslehrkraft für Fragen der Begabtenförderung in Schleswig-Holstein hat Lehfeldt regelmäßig Kontakt mit begabten Kindern und deren Eltern. „Damit Kinder ihr volles Potenzial abrufen können, spielen viele Faktoren eine Rolle – natürlich eine gute Förderung in Kita und Schule und auch das soziale und familiäre Umfeld.“

Kostenlose Begabtenförderung

Denn damit hochbegabte Kinder sich bestmöglich entwickeln und ihr Potenzial abrufen können, ist Förderung essenziell, die zum Entwicklungsstand des Kindes passt. Eltern könnten abseits der Schule vieles tun, um den Wissensdurst ihres Kindes zu stillen, sagt Lehfeldt.

Sie könnten zum Beispiel mit ihrem Kind den Zoo oder Museen besuchen, den Sprössling in der Musikschule anmelden oder ihm Bücher kaufen, die seinen individuellen Interessen entsprechen. „Viele Eltern fördern ihr Kind ohnehin auf diese Weise“, weiß Lehfeldt.

„In der Lehrerausbildung spielt das Thema Hochbegabung immer noch eine viel zu kleine Rolle“, sagt Lehfeldt.

Bei hochbegabten Kindern sei es sinnvoll, ergänzende Angebote zu nutzen – auch, um sie mit Gleichgesinnten in Kontakt zu bringen. Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind zum Beispiel biete regelmäßig Gruppen für Kinder verschiedenen Alters an, in denen sich sowohl Kinder als auch Eltern austauschen können“, sagt die Pädagogin. „Auch Ferienfreizeiten und Sommerakademien für Hochbegabte sind eine sinnvolle Anlaufstelle.“ Für Kinder, deren Eltern dafür die finanziellen Mittel fehlen, gibt es auch einige kostenlose Angebote zur Begabtenförderung, etwa Stipendien. Eltern sollten in jedem Fall den Kindergarten oder die Schule einbeziehen, wenn bei ihrem Kind eine besondere Begabung festgestellt wurde. „In der Lehrerausbildung spielt das Thema Hochbegabung immer noch eine viel zu kleine Rolle“, sagt Lehfeldt. „Nicht jeder Pädagoge kann daher heute ein besonders begabtes Kind erkennen oder es optimal fördern.“

In Gesprächen mit Lehrern und Schulleitung können Eltern gemeinsam mit ihrem Kind überlegen, ob es zum Beispiel sinnvoll wäre, eine Klasse zu überspringen oder in bestimmten Fächern den Unterricht höherer Klassen zu besuchen. Auch Universitäten bieten leistungsstarken Schülern an, ihre Lehrveranstaltungen zu besuchen. Für die meisten Kurse gibt es sogar Leistungsnachweise, die sich auf das spätere, reguläre Studium anrechnen lassen.

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Die Lernforscherin Elsbeth Stern sagt: «Mindestens 30 Prozent der Mittelschüler gehören nicht ans Gymnasium – weil sie nicht übermässig intelligent sind» https://condorcet.ch/2021/11/die-lernforscherin-elsbeth-stern-sagt-mindestens-30-prozent-der-mittelschueler-gehoeren-nicht-ans-gymnasium-weil-sie-nicht-uebermaessig-intelligent-sind/ https://condorcet.ch/2021/11/die-lernforscherin-elsbeth-stern-sagt-mindestens-30-prozent-der-mittelschueler-gehoeren-nicht-ans-gymnasium-weil-sie-nicht-uebermaessig-intelligent-sind/#comments Thu, 25 Nov 2021 20:41:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=9916

Elsbeth Stern ,ordentliche Professorin für Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich, gab der NZZ ein Interview über Gymnasialquoten, die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Unterrichts und Frauenförderung. Dabei sprach sie äusserst umstrittene Tabuthemen an, wie zum Beispiel die Intelligenz der heutigen Gymnasiasten oder die unterschiedliche Unterrichtsqualität in den Gymnasien und der Volksschule.

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Die Lernforscherin Elsbeth Stern: Man kann sich seinen Primarlehrer nicht aussuchen.

Frau Stern, Sie sind auf einem Bauernhof in Hessen aufgewachsen, heute sind Sie Professorin an der ETH Zürich. Wäre ein solcher Werdegang weiterhin möglich?

Möglich schon, aber weniger wahrscheinlich. Ich bin in einer Zeit der Bildungsexpansion gross geworden. Der Anteil der Gymnasiasten nahm jedes Jahr zu. Da war es kein Problem, dass leistungsfähige Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern ans Gymnasium kamen.

Ist das heute anders?

Es ist Konsens, dass die Gymnasialquoten in Deutschland und in der Schweiz

Zürcher Gymmerquote: Das Boot ist voll!

nicht erhöht werden sollen. Das Boot ist voll. Doch für Akademikereltern ist es schwer zu akzeptieren, dass ihre Kinder nicht ans Gymnasium gehen sollen. Also unternehmen sie sehr viel, damit es trotzdem klappt. Das kann zulasten von jenen Kindern gehen, die die Intelligenz eigentlich mitbringen, deren Eltern aber nicht den Hintergrund haben, um sie zu unterstützen.

Sie haben die Mathematikaufgaben der Zürcher Gymiprüfung einmal als willkürlich und zu anspruchsvoll kritisiert. Eine Aufgabe fürs Langgymnasium vom vergangenen Frühling lautet: 125 × 6,408. Ist das derart schwierig, dass man dafür einen teuren Vorbereitungskurs braucht?*

Hier ist geschicktes Rechnen gefragt. Dazu muss man verstanden haben, wie man Zahlen zerlegt. Viele der Textaufgaben, die ich gesehen habe, sind sehr verschlungen. Intelligente Kinder, die guten Mathematikunterricht hatten und so etwas einmal geübt haben, können das lösen. Aber wenn man Mathematikunterricht hatte, der nicht darauf angelegt war, einen vernetzten Zahlenraum aufzubauen, ist man benachteiligt.

Und so gibt es immer wieder Kinder, die die Aufnahmeprüfung nicht schaffen, obwohl sie das Zeug fürs Gymnasium hätten. Und es gibt Kinder, die so getrimmt werden, dass sie durchkommen, obwohl sie nicht übermässig intelligent sind.

Die Prüfungskommission stellt sich auf den Standpunkt, dass die Aufnahmeprüfung auf Primarschulstoff beruhe. Man könne sie auch ohne spezielles Training bestehen.

Theoretisch ist das so – wenn alle Kinder gute Lerngelegenheiten hätten. Aber die Kollegen wissen auch, dass es im Mathematikunterricht grosse Unterschiede gibt. Einer der Verantwortlichen hat mir vor einem Jahr gesagt: «Wir müssen sicherstellen, dass die Kinder solche Aufgaben einmal gesehen haben in der Schule.» Und so gibt es immer wieder Kinder, die die Aufnahmeprüfung nicht schaffen, obwohl sie das Zeug fürs Gymnasium hätten. Und es gibt Kinder, die so getrimmt werden, dass sie durchkommen, obwohl sie nicht übermässig intelligent sind.

Akademikereltern sehen, wenn in der Schule wenig anregende Aufgaben durchgenommen werden – und sorgen rechtzeitig dafür, dass das Kind zusätzliches Training erhält.

Dann liegt das Problem eher am Mathematikunterricht und weniger an der Prüfung?

Genau. Man kann sich seinen Primarlehrer nicht aussuchen. Akademikereltern sehen, wenn in der Schule wenig anregende Aufgaben durchgenommen werden – und sorgen rechtzeitig dafür, dass das Kind zusätzliches Training erhält. Nichtakademikereltern können das vielleicht nicht erkennen. Sie sehen nur die guten Noten und sind dann erstaunt, wenn ihr Kind durch die Prüfung fällt.

Dieses Jahr haben es in Zürich 4661 Schülerinnen und Schüler versucht, 8 Prozent mehr als 2020. Bestanden haben 48,7 Prozent – 3 Prozent weniger als im Jahr davor. Mehr Prüflinge, mehr Durchgefallene: Das spricht für die Gymiprüfung.

Die Prüfung muss schwer sein. Aber schwierige Aufgaben allein sind kein Indikator für einen guten Test. Wenn die Hälfte der Kinder einen Test besteht und die andere Hälfte nicht, hängt viel vom Zufall ab, ob man die Hürde gerade so überspringt oder nicht. Die Gymiprüfung sollte die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Kandidaten vorhersagen, die alle die gleichen Lerngelegenheiten hatten.

Die Prüfungen müssen schwierig sein.

Und wenn eine Schülerin besonders fleissig ist und vor allem deswegen durchkommt?

Mit Fleiss allein funktioniert das nur bis zu einem gewissen Alter. Je anspruchsvoller der Schulstoff wird, desto weniger kann man später kompensieren. Das sehen wir auch in den ersten Semestern an der ETH. Für die Prüfungen muss man gute geistige Voraussetzungen mitbringen. Wir müssen dafür sorgen, dass beim Zugang zum Gymnasium Intelligenz und Begabung zählen und nicht die soziale Herkunft.

Ein bekanntes Problem. Haben Sie eine Lösung dafür?

Ein guter Ansatz wäre: keine kommerziellen Kurse mehr – dafür bekommen alle Kinder mit guten Leistungen in der Primarschule die Gelegenheit, mit dafür ausgebildeten Lehrpersonen für die Gymiprüfung zu lernen. Dafür sollte man Geld in die Hand nehmen.

Und bei Zweifelsfällen, wenn die Lehrerin ein Kind nicht für geeignet hält, die Eltern hingegen schon oder umgekehrt: was dann?

Dann sollte man einen Intelligenztest machen. Das wäre eine Entscheidungshilfe.

Was bedeutet Intelligenz?

Geistige Flexibilität, schlussfolgerndes Denken, sich auf ein Ziel konzentrieren können. Irrelevante Informationen ausblenden, relevante aktivieren.

Es gibt auch intelligente Jugendliche, die Lust auf eine Lehre haben.

Solange sie das freiwillig machen, gerne. Aber ist es richtig, wenn kluge Köpfe Gymnasium, Matura und Studium gar nicht erst in Erwägung ziehen? Und wenn sich stattdessen andere durch Mittelschule und Uni schleppen und am Ende in einem Job landen, für den sie nicht geeignet sind? Die Schweiz kann sich den Luxus der tiefen Maturandenquote nur leisten, weil sie fehlende Akademiker im Bedarfsfall aus dem Ausland holen kann.

Wie viele Schüler sind im Gymnasium, die nicht dahin gehören?

Eine konservative Schätzung lautet: 30 Prozent.

30% gehören nicht ans Gymnasium.

Und an den Universitäten? An der ETH Zürich gibt es Brückenkurse für Studienanfänger in Mathematik und Programmieren und vielleicht bald in Chemie und Physik.

Das ist etwas anderes. Die Kurse sollen Defizite aus dem Gymnasium beheben, die auf einen schlechten Unterricht zurückzuführen sind, nicht auf mangelnde Intelligenz. Lehrermangel in Mathematik und Physik ist ein grosses Problem. Die Leute haben Alternativen. Viele Absolventen unserer Lehrerausbildung sagen mir im Abschlussgespräch: «Vielleicht unterrichte ich später mal, aber zuerst gehe ich in die Industrie.» Die Schulen müssen häufig Behelfslösungen finden mit Leuten, die noch nicht einmal einen Abschluss haben.

Was wäre zu tun, damit die besten Köpfe trotzdem Gymnasiallehrer würden?

Es kann sehr befriedigend sein, ein Fach weiterzugeben, das man mag. Forschung ist wichtig, aber Lehrer leisten einen genauso wichtigen Beitrag in der Gesellschaft. Das versuchen wir an der ETH zu vermitteln.

Es geht darum, Konzepte so zu erläutern, dass sie verstanden werden.

Was macht guten Unterricht aus in diesen Fächern?

Es geht darum, Konzepte so zu erläutern, dass sie verstanden werden. Also nicht einfach mit Formeln wie «Kraft = Masse × Beschleunigung» operieren, sondern ausgiebig besprechen, wie sich der Kraftbegriff in der Physik vom Kraftbegriff im Alltag unterscheidet. Oder dass jede Kraft eine Gegenkraft hat – eine abstrakte Vorstellung, die man der Klasse trotzdem näherbringen sollte, anstatt einfach zu sagen: «Das ist nun mal so.» Sonst verlieren intelligente Schüler das Interesse. Vor allem junge Frauen wollen verstehen und wenden sich dann anderen Fächern zu.

Das heisst, man sollte mit anschaulichen Beispielen arbeiten – wie bei der Frage, warum ein schweres Schiff aus Stahl schwimmt?

Das ist Primarschulstoff, am Gymnasium muss man abstrakte Konzepte vermitteln, die sehr erklärungsmächtig sind, aber keine Eigenschaften unserer wahrnehmbaren Welt haben. Gold hat die Farbe Gelb, aber das Goldatom hat keine Farbe. Minus mal minus ist plus. Das ist nicht intuitiv, aber Maturanden sollten verstanden haben, dass es eine innermathematische Logik gibt, die keine Alternative zulässt.

Das ist Primarschulstoff, am Gymnasium muss man abstrakte Konzepte vermitteln, die sehr erklärungsmächtig sind, aber keine Eigenschaften unserer wahrnehmbaren Welt haben.

Logik klingt gut. Aber wie berechnet man die Steigung einer linearen Funktion schon wieder?

Die Steigung des Graphen einer linearen Funktion ist der Quotient aus der Differenz der Koordinaten auf der y-Achse und jener der Koordinaten auf der x-Achse – für zwei beliebige Punkte auf dem Graphen. Klingt kompliziert. Aber das Entscheidende ist: Es geht um die Rate der Veränderung. Wenn man dieses Konzept verstanden hat, kann man es auf Stückpreise, Geschwindigkeit, Beschleunigung oder alles Mögliche anwenden.

Aber ein Text aus Wörtern und Sätzen hat schon Vorteile, weil er leichter zu verstehen ist als Formeln und mathematische oder physikalische Gesetze.

Das kommt auf den Text an. Lesen Sie mal einen Text zur Relativitätstheorie.

Touché. Aber auch da geht es um Physik!

Mathematik und Physik sind schwierig – auch weil die Inhalte in diesen Fächern stark aufeinander aufbauen. In Geschichte etwa kann man sich auf die Neuzeit konzentrieren, ohne alle anderen Epochen im Detail zu kennen. Man kann schlecht in Englisch sein und sich im Alltag trotzdem einigermassen verständigen. Aber wenn man in Mathematik und Physik bestimmte Konzepte nicht verstanden hat, hat man eigentlich gar nichts verstanden.

Die Schweiz braucht Fachkräfte. Wird es mit den zahlreichen Initiativen für guten Unterricht in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (Mint) eines Tages gelingen, diesen Mangel zu entschärfen?

Das ist ein Motiv, es ist aber längst nicht das einzige. Schule soll vor allem helfen, die Welt zu verstehen. Aber die ETH hat natürlich nichts dagegen, wenn ihre Studenten bereit sind fürs Studium. Auch deshalb investieren wir in die Lehrerbildung. Wir möchten nicht, dass Maturanden bestimmte Optionen von vornherein ausschliessen, weil sie falsche Vorstellungen davon haben. Wir haben aber auch den Anspruch, dass Leute, die nicht Naturwissenschaften und Mathematik studieren, eine Idee davon haben, wie ein iPhone funktioniert und was alles passiert, bis der Strom aus der Steckdose kommt. Oder was exponentielles Wachstum ist. Das sollte man wissen, gerade in einer Pandemie, um Entwicklungen der Fallzahlen einordnen zu können.

Sollte man mit diesen Grundlagen schon in der Primarschule ansetzen?

Naturwissenschaftliche Themen unbedingt auf der Primarstufe behandeln.

Unbedingt. Eine Langzeitstudie unseres Lernzentrums an der ETH hat gezeigt, dass Achtjährige physikalische Fragen deutlich besser verstehen als Zwölfjährige, wenn sie altersgerechten naturwissenschaftlichen Unterricht bereits gehabt haben.

Darf man von einer Primarlehrerin erwarten, dass sie ihren Schülern neben Schreiben, Rechnen, Englisch, Französisch, Natur, Mensch, Gesellschaft auch Physik beibringt?

Man muss. Man kann sich auf wenige Themen beschränken wie Schwimmen und Sinken. Oder dass Schall ein Medium braucht, um sich auszubreiten. Dafür gibt es gute Unterrichtsmaterialien, die man allerdings einüben muss in der Aus- oder der Weiterbildung. Das geht nicht von allein im Unterricht.

Ist es sinnvoll, dass Primar- und Sekundarlehrer an den PH und Gymnasiallehrer weiterhin vor allem an Universitäten ausgebildet werden?

Diese riesige Diskrepanz ist ein Problem. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Gymnasiallehrer haben sehr viel Fachwissen, lernen aber relativ wenig über Pädagogik. Und an den PH ist es genau umgekehrt. Das führt zu Berührungsängsten und manchmal auch zu einer Arroganz bei Gymnasiallehrern, die sagen: «Volksschullehrer können ja nix.» Dagegen kämpfen wir an.

Wie?

Eine meiner Mitarbeiterinnen macht gerade ein Seminar, wo Lehrerstudenten Sekundar- und Primarschulen besuchen und dort auch unterrichten müssen. Auch um zu sehen, was die Kinder bereits können und was die Kollegen dort mit ihnen machen.

Solange wir Defizite haben in Mathematik und Naturwissenschaften, sollte man nicht noch mehr Fächer ins Gymnasium packen.

Ein Ansatz für die Zukunft?

Ja, Gymnasiallehrer sollten vermehrt über die eigene Schulstufe hinausblicken.

Psychologie soll zusammen mit Philosophie und Pädagogik bald auch in Zürich zu einem neuen Schwerpunkt für Maturanden werden. Eine gute Idee?

Nein. Da ist noch zu viel im Wandel. Solange wir Defizite haben in Mathematik und Naturwissenschaften, sollte man nicht noch mehr Fächer ins Gymnasium packen.

Sind Gymnasiasten in der Lage, interdisziplinär zu denken – so wie sich die Hochschulen das von ihren künftigen Studierenden wünschen?

Alle Menschen neigen dazu, Wissen so zu nutzen, wie sie es erworben haben – und nicht in einem anderen Kontext. Dabei ist Schulwissen dazu da, um breit aufgestellt zu sein.

Bildung ist wie ein Garten – er kann im Frühjahr noch so schön gewesen sein, die Arbeit dazu muss bereits im Herbst gemacht werden, immer wieder.

Ist das schlimm?

Nein, man muss nur daran arbeiten. Im Übrigen stehen Gymnasien in der Schweiz viel besser da als in vielen anderen Ländern. Der Punkt ist: Bildung ist wie ein Garten – er kann im Frühjahr noch so schön gewesen sein, die Arbeit dazu muss bereits im Herbst gemacht werden, immer wieder. Es braucht Zeit, bis etwas Neues wächst. Und man muss sich immer überlegen, was man besser machen kann.

Was zum Beispiel?

Man sollte die jungen Leute nicht so früh dazu zwingen, sich entweder für Sprachen oder für Mathematik zu entscheiden. Diese Glaubensfrage führt dazu, dass sich gerade junge Frauen von Mathematik und Naturwissenschaften abwenden und andere Interessen entwickeln.

Auch an den Universitäten werden Mathematik und Technik weiterhin von Männern dominiert. Das ist auch ein kulturelles Problem.

Ja. Wie sind Höchstleistungen zu erklären? Frauen gelten als fleissig, Männer hingegen als brillant. Das Stereotyp, dass Frauen halt doch nicht ganz so intelligent sind wie die besten Männer und es deshalb nicht bis ganz nach oben schaffen, ist ausgeprägt. Und so werden die Leistungen von Frauen häufig übersehen. Das haben alle Frauen erlebt, die akademische Karriere machen. Und alle haben es irgendwann überwunden.

Wie war das bei Ihnen?

Ich hatte Förderer. Aber wenn ein Männergremium eine begehrte Stelle neu besetzen muss, geschieht das oft nach dem «Similar to me»-Prinzip: Männer wählen Männer, weil sie glauben, in ihnen weiterzuleben oder was auch immer. Kandidatinnen, die genauso gut sind, müssen sich nach der Absage dann Unverschämtheiten anhören wie, man sei halt eine schwierige Person. Auch das haben alle Frauen in Spitzenposition erlebt, auch ich. Und ich bin bestimmt nicht schwierig.

Sehen Sie sich als Vorbild für andere Frauen?

Ich weiss nicht, ich habe keine Kinder. Das macht vieles leichter. Aber ich habe schon relativ viele Frauen zu Professorinnen gemacht, die bereits Kinder hatten . . . Ich habe mich selber glaub nicht als Vorbild gesehen, aber vielleicht war ich’s manchmal.

Ihre wichtigste Botschaft für junge Wissenschafterinnen?

Lasst euch nicht entmutigen. Viele Frauen können nicht mit unangenehmen Situationen umgehen. Sie waren sehr gute Schülerinnen, sie hatten wenig Widerstand. Und wenn sie später mit «bösen» Männern zu tun haben, kommen sie nicht damit zurecht. Oder wenn eine Publikation abgelehnt wurde. Da gibt es nur eines: weitermachen!

Warum wollten Sie Professorin werden und nicht Lehrerin? In einem Klassenzimmer wären Sie viel näher dran am Lernen.

Ich wusste schon mit 16 Jahren, dass ich Psychologieprofessorin werden wollte. Ich wollte etwas über Intelligenz und das menschliche Denken herausfinden. Das ist der Vorteil von nichtakademischen Elternhäusern: Es redet einem niemand drein.

Lernforschung für die Lehrer

R. Sc. · Elsbeth Stern ist ordentliche Professorin für Lehr- und Lernforschung der ETH Zürich und Leiterin des Instituts für Verhaltenswissenschaften am dortigen Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften. Die Psychologin beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit didaktischen und lerntechnischen Fragen im Mathematikunterricht und in den Naturwissenschaften. Dies unter anderem auch in einem Studiengang für angehende Gymnasiallehrer an der ETH. Am Mint-Lernzentrum der Hochschule können sich Lehrerinnen und Lehrer auch punktuell weiterbilden lassen.

Ein weiterer Schwerpunkt der 63-jährigen Deutschen ist die Intelligenzforschung. Ihr Buch «Intelligenz: Grosse Unterschiede und ihre Folgen» aus dem Jahr 2013 enthält einige deutliche Botschaften. Zum Beispiel diese: Fleiss, Disziplin und Kreativität sind kein Ersatz für Intelligenz.

* Für die zitierte Mathematikaufgabe 125 × 6,408 gibt es einen Trick. 125 = 1000 : 8, also kann man rechnen: 6,408 × 1000 : 8 = 801. Für diesen Weg gab es an der Gymiprüfung die volle Punktzahl.

Dieser Artikel istzuerst  in der NZZ erschienen (24.11.21)

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Kühnels Sonntagszwischenruf – Der unbekannte Weinert oder die Sache mit der sozialen Herkunft https://condorcet.ch/2021/06/kuehnelts-sonntagseinspruch-der-unbekannte-weinert-oder-die-sache-mit-der-sozialen-herkunft/ https://condorcet.ch/2021/06/kuehnelts-sonntagseinspruch-der-unbekannte-weinert-oder-die-sache-mit-der-sozialen-herkunft/#comments Sun, 13 Jun 2021 16:26:38 +0000 https://condorcet.ch/?p=8773

Professor Franz Weinert gilt als Vater der Kompetenzorientierung, zu unrecht, wie man heute weiss. Nun hat Professor Wolfgang Kühnel einen Beitrag des verstorbenen Professor Weinert entdeckt, der einigen Zündstoff birgt und die ideologielastigen Interpretationen der heutigen PISA-Forscher in Bedrängnis bringen könnte.

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Prof. Dr. Wolfgang Kühnel, Stuttgart: Weinert hätte heute grösste Probleme bekommen.

Liebe Condorcet-Leserinnen und -Leser,

Heute geht es um ein Thema mit Zündstoff und Explosionsgefahr, fast wie im Nahost-Konflikt. Vorsicht! Vordergründig geht es um Franz Weinert, den früheren Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, inzwischen allgemein bekannt durch seine Kompetenz-Definition, die offenbar besser ist als das, was man später daraus gemacht hat.

Ebenso geht es aber auch um gewisse Grundfesten politischer Überzeugungen gerade im pädagogischen Bereich. Mir fiel vor einiger Zeit der folgende Artikel von Weinert in die Hände, der als Festvortrag 1999 vor der Max-Planck-Gesellschaft gehalten wurde:

https://www.pedocs.de/volltexte/2014/9029/pdf/Karg_Hefte_4_Weinert_Begabung_und_Lernen.pdf

Franz Weinert: Ideologieanfälligkeit der ganzen Forschungsrichtung.

Darin wagt Weinert Thesen, für die heutzutage ein Normalbürger auf politischen Versammlungen progressiver Parteien wohl Schwierigkeiten bekäme. Er spricht von den Ursachen von Leistungs-unterschieden zwischen verschiedenen Individuen. Einerseits werden diese Leistungsunterschiede ja ständig betont durch Tests wie PISA & Co, andererseits gibt es das neue Credo, in der “inklusiven Bildung” dürfe es eigentlich gar keine Disparitäten mehr geben, denn sie seien vorwiegend auf soziale Ursachen zurückzuführen und folglich zu beseitigen.

Zu Beginn stellt er fest: “‘Man ist nicht begabt, sondern man wird begabt’, wurde zur hoffnungsvollen Maxime, später zur verzweifelten Hoffnung ungezählter Lehrer; die Egalisierung der geistigen Entwicklung unterschiedlicher Menschen durch kompensatorische Bildung wurde zum fundamentalen Ziel vieler Politiker.”

Hält man bei unterschiedlich begabten Schülern die Lernzeit konstant, so ergeben sich große Leistungsunterschiede.

Das heißt natürlich nicht, dass kompensatorische Maßnahmen keinen Sinn ergeben. Gewiss muss denjenigen geholfen werden, die eben schwache Lerner sind. Aber im Gegensatz zu vielen anderen weist Weinert auch auf den Faktor “Zeit” hin, den man nicht einfach vernachlässigen sollte: “Wer weniger kann und weniger weiß als andere, muss eben mehr Zeit für zusätzliche, nachholende und ergänzende Lernschritte investieren, um jene Aufgaben meistern zu können, die bessere Schüler bereits früher beherrschen. […] Ein statistischer Witzbold hatte deshalb schon früh errechnet, dass man die Schulzeit einfach auf einhundertzwanzig Jahre verlängern müsste, damit jeder und jede Heranwachsende einen universitären Abschluss erreicht.”

Zur Präzisierung schreibt Weinert: “Auch unter optimalen schulischen Bedingungen gilt: Hält man bei unterschiedlich begabten Schülern die Lernzeit konstant, so ergeben sich große Leistungsunterschiede; will man die gleichen anspruchsvollen Schulleistungen erreichen, so sind – wenn es überhaupt gelingt – extreme Differenzen der Lernzeit zu erwarten.”

Die Unterschiede der Lerngeschwindigkeiten sind vom ersten Schuljahr an (oder noch davor) bis hin zur Universität erheblich, und sie scheinen über längere Zeiträume bei Individuen konstant zu bleiben.

Eigentlich müsste das jeder schon gemerkt haben, der im Bildungsbereich tätig ist: Die Unterschiede  der Lerngeschwindigkeiten sind vom ersten Schuljahr an (oder noch davor) bis hin zur Universität erheblich, und sie scheinen über längere Zeiträume bei Individuen konstant zu bleiben.

Wie Weinert berichtet, entwickelte sich nach Veröffentlichung eines Buches von Herrnstein und Murray in den USA ein regelrechter “Krieg” zwischen den Anhängern unterschiedlicher Theorien beim Thema “kompensatorische schulische Maßnahmen zur Chancengleichheit”. Dieser Krieg habe “zur Bildung sozialanthropologischer Profilierungsneurosen” beigetragen.

Theoretische Voreingenommenheit

“Eine Durchsicht der wissenschaftlichen wie der populärwissenschaftlichen Literatur zeigt aber, dass sich die radikalen Standpunkte in vielfältigen Schattierungen als mehr oder minder einseitige theoretische Voreingenommenheiten in vielen humanbiologischen und pädagogisch-psychologischen Arbeiten wiederfinden.”

Wir kennen das ja auch bei uns aus jüngster Zeit. Erst werden in großen Tests wie PISA Leistungsunterschiede gemessen, und dann fragt man, woher die wohl kommen und ob das so hingenommen werden kann. Die einen (heutzutage vermutlich eine Mehrheitsfraktion) propagieren dann die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit durch kompensatorische Maßnahmen und suchen die Schuld für alle Unterschiede immer in der Gesellschaft, die anderen beharren auf individuelle Leistungsunterschiede, die man halt zum Teil so nehmen müsse, wie sie sich darstellen. Diese verbissene Diskussion findet sich praktisch überall, wo schulische Leistungsunterschiede überhaupt thematisiert werden. Weinert stellt dazu fest:

Daraus ergibt sich eine erhebliche Ideologieanfälligkeit der ganzen Forschungsrichtung.

“Das Fatale am gegenwärtigen Erkenntnisstand ist, dass sowohl erb- als auch umwelttheoretische Deutungen der individuellen Entwicklung möglich sind. Daraus ergibt sich eine erhebliche Ideologieanfälligkeit der ganzen Forschungsrichtung.”

Pädagogische Egalisierungsillusion

Das sagt jemand, der noch vor 20 Jahren als “Psychologie-Papst” gelten konnte. Das Wort “Ideologieanfälligkeit” in Bezug auf eine Forschungsrichtung (!) muss man sich dabei auf der Zunge zergehen lassen, ebenso wie die o.g. “Profiliserungsneurosen”. Bei Weinert fällt sogar das Wort “pädagogische Egalisierungsillusion”. Manche Forscher werden das gar nicht gerne hören. Spötter könnten zudem auf die Idee kommen, das zerklüftete föderale Schulsystem in Deutschland würde diese ganze Auseinandersetzung praktisch widerspiegeln, auch durch parteipolitisch motivierte Schulreformen im Rhythmus von Landtagswahlen. Ein Thema für Satiriker und Karikaturisten.

PISA: Was und wie wird da gemessen?

Bei PISA 2015 war es beispielsweise so (laut Tabelle 8.2 im Langbericht), dass in der Rubrik “soziale Disparitäten” in Deutschland 15,8 % der Leistungsunterschiede durch die soziale Herkunft erklärt werden konnten, in der Schweiz 15,6 % und im OECD-Durchschnitt 12,9 %. Das bedeutet aber eben auch, dass 84 % bzw. 87 % der Unterschiede andere Ursachen haben müssen, über die gleichwohl nie gesprochen wird. Die scheinen völlig uninteressant zu sein, obwohl sie natürlich weit überwiegen. Dass die Differenz von 3 Prozentpunkten hier geradezu unerträglich sein soll, scheint eine Erfindung interessierter Kreise zu sein. Es sollte wohl andere, wichtigere Ungerechtigkeiten in diesem Land geben.

Am Schluss stellt Weinert klar, “dass etwa 50 Prozent der geistigen Unterschiede zwischen Menschen genetisch determiniert sind, ungefähr ein Viertel durch die kollektive Umwelt und ein weiteres Viertel durch die individuelle, zum Teil selbst geschaffene Umwelt erklärbar sind.”

Dieses Statement sollte man vielleicht vergrößern, vervielfältigen, einrahmen und dann in unzähligen Exemplaren in den Schreibstuben der Schulministerien, Schulverwaltungen, Landesinstituten für Schulentwicklung, pädagogischen und didaktischen Fachbereichen und Forschungsinstituten, in den GEW-Niederlassugen und auch in den Parteizentralen so aushängen, dass die in den Büros arbeitenden Leute den Text gar nicht ignorieren können.

Elsbeth Stern: Intelligenz zur Hälfte genetisch bedingt

Auch Elsbeth Stern schreibt in ihrem Buch “Intelligenz” (mit A. Neubauer), Intelligenz sei zur Hälfte genetisch bedingt. Egal wie man dies nun interpretiert und wie das genau vor sich geht, der Anteil der Gene kann jedenfalls nicht vernachlässigt werden. Ebenso kann man auch den Einfluss der Umwelt (in den zwei Versionen “kollektiv” und “individuell”) nicht vernachlässigen, alles korreliert dann auch noch miteinander: Die individuell gewählte Umwelt hängt natürlich auch von den anderen Faktoren ab.

Wikipedia schreibt: “Die Korrelationen zwischen Intelligenz und Schulerfolg gehören zu den höchsten in der psychologischen Diagnostik.” Dazu ist allerdings in den PISA-Berichten nichts zu finden, das Wort “Intelligenz” scheint dort nicht vorzukommen. Für viel wichtiger scheint  man Korrelationen zwischen Schul- bzw. Testerfolg und sozialer bzw. ethnischer Herkunft zu halten, von denen man implizit und aus einer rein theoretischen Sicht zu glauben scheint, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte.

PISA Studie: Schulpolitiker werden
nie zufrieden sein, solange noch irgendwelche Disparitäten vorhanden sind.

Bei PISA 2015 liest sich das dann so: “Auch wenn die Abstände im Kompetenzniveau zwischen sozialen Schichten in den letzten Jahren kleiner geworden sind, bleibt das Bemühen um eine Verringerung der Disparitäten beim Kompetenzerwerb und bei der Bildungsbeteiligung nach wie vor eine der vorrangigen bildungspolitischen Aufgaben.”

Das ist natürlich eine wahre Sisyphus-Aufgabe, denn die PISA-Macher und Schulpolitiker werden nie zufrieden sein, solange noch irgendwelche Disparitäten vorhanden sind. Eine Bagatellgrenze, ab der solche Disparitäten als tolerabel gelten könnten, wird nie diskutiert, obwohl PISA sich selbst die Kompetenz zutraut, “bildungspolitische Aufgaben” nach offenbar absoluten Maßstäben zu definieren. Andererseits ist PISA natürlich nur eine reine Wissenschaft und hat mit Politik oder Interessen NICHTS zu tun, so wird es dem einfachen Volke jedenfalls erzählt.

Und wieder sind es 3 Prozentpunkte, über die man sich aufregt.

Und dann hat Herr Schleicher in Interviews immer noch Salz in diese vermeintliche Wunde geschüttet: Deutschland stand wiederholt am Pranger wegen des angeblich zu hohen Zusammenhangs zwischen PISA-Testerfolg und sozialer Herkunft. Allerdings wurde dies für die Schweiz auch gesagt.

Schulische Ungleichheit in der Schweiz

 

Da wird genüsslich vorgerechnet, dass es Unterschiede zwischen den Kantonen gibt, die es nach Meinung der Autoren offenbar nicht geben dürfte. Und wieder sind es 3 Prozentpunkte, über die man sich aufregt: In zwei Kantonen (Aargau und Waadt) erklären sich 14 % der Unterschiede bei den Leistungen in Mathematik durch den sozialen Status gegenüber nur 11 % im schweizerischen Durchschnitt. Ein riesiger Skandal, der unmöglich hingenommen werden kann! Einfach schrecklich, das liegt an einer “schulischen Segregation”! Dafür lohnt es sich gewiss, das gesamte Schulsystem von Grund auf umzukrempeln mit dem Risiko, die chaotischen deutschen Verhältnisse zu bekommen. Das nimmt man dafür bestimmt gerne in Kauf.

Loriot lässt grüßen: “Das Bild hängt schief.”

In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag

Wolfgang Kühnel

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