Individualisierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 27 Mar 2024 14:17:46 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Individualisierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Populäre Bildungsversprechungen mit grossem Schadenspotenzial https://condorcet.ch/2024/03/populaere-bildungsversprechungen-mit-grossem-schadenspotenzial/ https://condorcet.ch/2024/03/populaere-bildungsversprechungen-mit-grossem-schadenspotenzial/#respond Wed, 27 Mar 2024 14:17:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=16311

Wir schalten Ihnen den aktuellen Newsletter der "Starken Volksschule Zürich" auf. Er stammt aus der Feder unseres Condorcet-Autors Hanspeter Amstutz und geht unter anderem auf die Notendebatte ein.

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Forderung nach Abschaffung der Schulnoten ohne brauchbare Alternativen

Die Diskussionen um die Schulnoten gehen munter, teils gar heftig weiter. Nachdem der Schulleiterverband und die Präsidentin des LCH das bisherige Beurteilungssystem als unzweckmässig eingestuft haben, wird in vielen Kantonen konkret über die Abschaffung der Noten diskutiert. Die Stadt Luzern will dabei als Pionierin wirken. In den Primarschulen sollen ab 2026 Noten durch ein neues förderorientiertes Beurteilungsverfahren, dessen Modalitäten noch völlig offen sind, abgelöst werden. Anders im Kanton Zürich, wo der Kantonsrat bereits im letzten Sommer Noten ab der zweiten Klasse für verbindlich erklärt und deren Ersatz durch Wortzeugnisse gesetzlich untersagt hat.

Gastautor Hanspeter Amstutz, Starke Schule Zürich: Wortzeugnisse sind fast überall gescheitert .

Die Fakten zu den Nachteilen von Noten sind längst bekannt. Schulzeugnisse sind oft zu wenig objektiv im Hinblick auf eine generelle Vergleichbarkeit von Schulleistungen. Die Noten der einzelnen Schüler stehen in einem engen Bezug zur Klassengemeinschaft, in welcher sie ihre Leistungen erbringen. Dabei spielt es eine Rolle, ob ein eher strenger oder ein lockerer Notenmassstab in der Klasse gilt. Bekannt ist auch die deprimierende Wirkung chronisch tiefer Noten oder das allzu grosszügige Aufrunden von Noten vor wichtigen schulischen Übergängen. Die Aufzählung könnte noch um einige weitere negative Punkte ergänzt werden.

Doch wie sieht es mit den Alternativen aus? Wortzeugnisse sind fast überall gescheitert, da sie mehr oder weniger nur das umschreiben, was Ziffern auf einfachere Weise ausdrücken können. Ausführliche Lernberichte, die bezüglich der Persönlichkeitsrechte der Kinder viel heikler und bei der Leistungsbeurteilung oft unklar sind, bedeuten einen gewaltigen Aufwand für die Lehrkräfte. Man kann es drehen und wenden, wie man will, ein von Lehrpersonen mit fairer Grundhaltung ausgestelltes Notenzeugnis bleibt die beste aller praktikablen Lösungen, um den Lernstand der Schüler ermitteln zu können.

Das Lehrplankonzept des individuellen Lernens als Auslöser der Notendiskussion

Die heftige Notendiskussion ist keine Überraschung, sie ist vielmehr eine Spätfolge des auf starke Individualisierung angelegten Lehrplankonzepts. Die Bildungsexperten haben immer wieder betont, dass der neue Lehrplan ein massgeschneidertes Lernen für jedes Kind ermögliche. Ziel sind exakt beschriebene und gut messbare Kompetenzen, welche von den Kindern einer Klasse in unterschiedlichem Lerntempo erreicht werden. So kann es vorkommen, dass eine Sechstklässlerin im Englischunterricht bereits an einem Text mit Referenzniveau B1 arbeitet, während sich ihr Sitznachbar noch auf der Stufe A1 bewegt. Setzt man dieses Lernplankonzept konsequent um, beschäftigen sich schon bald alle Kinder mit einem digitalen Lernprogramm, da ein gemeinschaftlicher Unterricht mit individualisierten Zielsetzungen organisatorisch kaum zu bewältigen ist.

Die Aufsplitterung der Bildungsziele macht es fast unmöglich, ein auf Zahlen und Niveaustufen basiertes Zeugnis so zu gestalten, dass es noch einigermassen verständlich ist.

Die Aufsplitterung der Bildungsziele macht es fast unmöglich, ein auf Zahlen und Niveaustufen basiertes Zeugnis so zu gestalten, dass es noch einigermassen verständlich ist. Selbstverständlich kann man Kinder nach dem europäischen Referenzrahmen für Sprachleistungen beurteilen. Aber dieser ist nicht so differenziert, um Leistungen fein abgestuft auszudrücken und eignet sich für manche Fächer überhaupt nicht.

Wie sollen beispielsweise Kompetenzen in Fächern wie Geschichte oder Naturkunde in einem Lernbericht beurteilt werden? Vielleicht etwa so: «Versteht, welche Voraussetzungen zum Schweizer Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre geführt haben». Falls der Schüler die Sache nicht ganz begriffen hat, muss die Lehrerin wohl ein Kreuz im Feld «teilweise verstanden» machen. Nein, so kann das nicht funktionieren. Es bleiben Fragen über Fragen, die von Experten nur unbefriedigend beantwortet werden können. Im Newsletter präsentieren wir Ihnen ausgewählte Texte zur Notendiskussion und sind nicht überrascht, wenn sie beim Lesen öfters den Kopf schütteln.

Wir sind froh, dass Felix Schmutz, erfahrener Sekundarlehrer und Sprachwissenschafter, in seinem Beitrag aus dem Condorcet-Blog die Sache wieder ins Lot gestellt hat.

Strukturreformen der Sekundarschule bringen keine Leistungsverbesserungen

Neben der Notendiskussion wird zurzeit auch die Struktur der Oberstufe wieder grundlegend infrage gestellt. Studien dazu werden in Diskussionssendungen zuhauf zitiert und die wildesten Behauptungen aufgestellt. Wir sind froh, dass Felix Schmutz, erfahrener Sekundarlehrer und Sprachwissenschafter, in seinem Beitrag aus dem Condorcet-Blog die Sache wieder ins Lot gestellt hat. Er widerlegt eine der meistzitierten Studien. In einem seriösen Systemvergleich weist er nach, dass auf Leistungszüge aufgeteilte Sekundarschulen in der Regel erfolgreicher sind als Gesamtschulen.

Ein grosser Teil der Reformer scheint noch immer nicht verstanden zu haben, dass Strukturreformen und rigorose didaktische Konzepte nicht der Schlüssel zu einer besseren Schule sind. Die überzogene schulische Integration mit der Abschaffung der Kleinklassen ist jämmerlich gescheitert und die Forderung nach sehr weitgehender Individualisierung der Lernprozesse erschwert eine kompetente Klassenführung. Es ist viel einfacher, ständig etwas umzubauen als dafür zu sorgen, dass vor jeder Klasse eine praxisnah ausgebildete und kompetente Lehrkraft steht.

Worauf es in einer guten Schule ankommt, ist im Schlussteil des NZZ-Gastbeitrags von Eliane Perret ausgezeichnet zusammengefasst. Sie hält fest, dass aufgrund langjähriger Forschungsergebnisse erwiesen ist, dass selbstorganisiertes Lernen viele Kinder entmutigt. Heranwachsende benötigen für eine gesunde Entwicklung vielmehr einen Unterricht, der durch eine fördernde und fair fordernde Lehrerpersönlichkeit geprägt ist.

Hanspeter Amstutz

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Eine Bildungsexpertin weiss Rat https://condorcet.ch/2024/02/eine-bildungsexpertin-weiss-rat/ https://condorcet.ch/2024/02/eine-bildungsexpertin-weiss-rat/#comments Sun, 11 Feb 2024 11:05:26 +0000 https://condorcet.ch/?p=15922

In einem fünfseitigen Interview im Magazin des Tages-Anzeigers entwirft eine ehemalige Institutsleiterin der Pädagogischen Hochschule Zürich ein Zukunftsmodell der Volksschule. Es sind kühne Vorstellungen, welche da skizziert werden. So fordert die Bildungsexpertin, dass die bisherige Klassenlehrerfunktion abzuschaffen sei und jeweils ein Team von vier Lehrpersonen eines Stockwerks die gemeinsame Verantwortung für gut sechzig Kinder tragen soll. Die Schüler seien individuell durch einfühlsame Coachs zu begleiten. Den Beitrag finden Sie hier (https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2024/02/Die-Schule-der-Zukunft.pdf). Condorcet-Autor Felix Schmutz zeigt sich amüsiert.

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Das Magazin vom 3. Februar 2024 gibt der «Bildungsexpertin» Rahel Tschopp viel Raum (8 Seiten), um ihre Vorstellungen von der «Schule der Zukunft» auszubreiten. Der Artikel von Ursina Haller erwähnt nicht, dass Rahel Tschopp ein eigenes Institut namens «Denkreise» leitet, das in grossem Stil und offenbar erfolgreich Schulentwicklungsprojekte durchführt, dass sie ferner mit weiteren Unternehmen und Stiftungen im IT-Bereich vernetzt ist. In ihren Gedanken zur Zukunft der Schule ist denn auch «Digitalisierung» eine unterschwellige Konstante.

Felix Schmutz, Baselland: Tönt etwas nach Mätzchenpädagogik

Wie muss denn nun die «Schule der Zukunft» aussehen?

Tschopp entwirft ihr Bild davon in 26 Stichworten. Ausgangspunkt ihrer Gedanken ist typischerweise das Unbehagen über die gegenwärtige Schule, die sie als rückständig einstuft: Die Gesellschaft entwickelt sich dauernd weiter, die Klassen werden heterogener, die Schule bleibt stehen. Dies unterstreicht sie mit einem negativ besetzten Reizwort: Die Schulen sind noch immer nach derselben alten «Grammatik» getaktet. Wer ist nicht gegen langweilige Grammatik?!

Es ist der alte Vorwurf, für den Lehrpersonen, Politiker, Eltern leicht empfänglich sind, weil Schule nie perfekt funktioniert, weil immer irgendwo etwas nicht gut läuft, Situationen unbefriedigend und Menschen überfordert sind. Der Wunsch nach Problemlösung, nach Erlösung von den irdischen Übeln des gewohnten Trotts ist deshalb in und ausserhalb der Schulen stets allgegenwärtig.

Hier ist eine Marktlücke, die von allerhand Prophetinnen und Propheten gewinnbringend bewirtschaftet werden kann. Werden sie als Beraterinnen angeheuert, bringen sie durch ihren Elan zunächst frischen Wind in die betreffenden Schulen. Es entsteht Aufbruchstimmung. Die Leute werden euphorisiert. Was sich sicher auch auf die Schülerinnen und Schüler überträgt, wenigstens für eine gewisse Zeit, bis sich Nachteile zeigen, Abgründe auftun, die nächsten PISA-Resultate bekannt werden oder unzufriedene Eltern auf die Barrikaden steigen und ihre Kinder von der Schule abziehen.

Rahel Tschopp, Primarlehrerin, schulische Heilpädagogin sowie Schulleiterin, später Studium im Business Coaching und Change Management (Master of Arts).

Was sind denn nun die Rezepte der Rahel Tschopp, wie sieht ihre neue «Schulgrammatik» aus? Kurz gesagt: Es sind die alten Ladenhüter, die ohne Evidenz einer nachhaltig erfolgreichen Umsetzung und ohne Diskussion der entsprechenden Forschung und Gegenargumente verkündet werden. Tschopp unterscheidet auch nicht nach Schulstufen, offenbar gelten ihre Vorschläge für die gesamte obligatorische Schulzeit:

  • Altersdurchmischung und Auflösung der Klassengemeinschaft
  • Grossraumbeschulung
  • kein Frontalunterricht
  • Digitalisierung, Lernen mit you tube-Tutorials
  • Individualisierung
  • Abschaffung der Aufgaben
  • Abschaffung der Noten und Zeugnisse, statt dessen Portfolios
  • Schaffung von gemütlichen Lernumgebungen
  • Abschaffung der Selektion
  • Einbeziehung der Eltern
  • Lehrpersonen als Coach, ja nicht «zeigen wies geht»
  • Einbezug der KI
  • Lehrpersonen nur noch als Team
  • Lernen in der Natur
  • Öffentlichkeitsarbeit durch Schulausstellungen

Wer den Überdruss überwindet und genau liest, merkt schnell, dass die Argumentation zu den erwähnten Punkten nicht ganz widerspruchsfrei ist. Beispielsweise wird die Bedeutung der Schüler-Lehrkraft-Beziehung hervorgehoben, gleichzeitig aber eine Lernumgebung propagiert, bei der diese Einzelbeziehung aufgehoben wird. Selbstorganisiertes Lernen wird angepriesen, gleichzeitig jedoch die Direktvermittlung durch Lehrpersonen in akademisch schwierigen Fächern verlangt. Soziales Lernen soll im Portfolio dokumentiert werden, obwohl der Unterricht aufs Äusserste individualisiert werden soll. Mit dieser Sowohl-als-Auch Pädagogik sichert sich die Beratung einen langanhaltenden Einsatz, weil die Schulen den widersprüchlichen Ansprüchen nie ganz gerecht werden können.

Hier spricht jemand, der grundsätzliche Anliegen mit zweitrangigen Details vermischt, die schon längst in die Methodenkiste der Lehrpersonen gehören, die als «grammatikalische» Ausgestaltung einer «Schule der Zukunft» jedoch eher skurril wirken.

Mätzchenpädagogik

Viele der konkreten Vorschläge tönen etwas nach Mätzchenpädagogik: Am Boden liegend arbeiten, ein Schatzkästchen haben, in dem Lernbelege abgelegt werden, in einem Büchlein notieren, was man bereits kann, einzelne Kinder als Schutzengel einsetzen, etc. Hier spricht jemand, der grundsätzliche Anliegen mit zweitrangigen Details vermischt, die schon längst in die Methodenkiste der Lehrpersonen gehören, die als «grammatikalische» Ausgestaltung einer «Schule der Zukunft» jedoch eher skurril wirken.

 

Atelier Denkreise: . Soziales Lernen soll im Portfolio dokumentiert werden, obwohl der Unterricht aufs Äusserste individualisiert werden soll.

Warum ist es müssig, auf die einzelnen Punkte noch einzugehen? Weil all dies in den Schulen seit über 30 oder 40 Jahren ausprobiert worden ist, weil sich die Schule in dieser Zeit im Gegensatz zu Rahel Tschopps Meinung gewaltig verändert und den Bedürfnissen angepasst hat, weil sich gemäss PISA und anderen Evaluationen die Leistung aber nicht verbessert hat und weil die langfristige Zufriedenheit mit der Schule nicht zugenommen, sondern eher abgenommen hat.

Wie Schule organisiert wird, welche Mittel eingesetzt werden, sollte diesem Ziel nachgeordnet werden.

Allerdings gibt es Aufgaben, denen sich die Schule nicht entziehen kann, weil die späteren Bildungswege und die Gesellschaft dies nun einmal verlangen. Dazu gehören Zeugnisse und die Selektion. Dazu gehören verbindliche Bildungsziele. Dazu gehören Lehrpersonen, die bereit sind, die Verantwortung für die Vermittlung zu übernehmen und sich nicht im Team hinter andern zu verstecken und die Schüler(innen) die komplizierten Kommaregeln selbst entdecken zu lassen.

Es ist das alte Lied: Bei Missständen im Schulbereich müsste vorurteilsfrei nach den Ursachen geforscht und entsprechend gehandelt werden. Das eigentlich aufklärerische Ziel der Volksschule, nämlich die Vermittlung von Grundwissen und die Förderung der wesentlichen Fähigkeiten, muss prioritär gewahrt bleiben. Es ist heute so aktuell wie vor hundert Jahren und ist genau so in den Kantonsverfassungen verankert. Dabei steht das Lernen im Zentrum. Fachlich gut ausgebildete Lehrpersonen mit Einfühlungsvermögen sind gefragt, die den Kindern und Jugendlichen die Dinge im direkten menschlichen Bezug vermitteln können. Wie Schule organisiert wird, welche Mittel eingesetzt werden, sollte diesem Ziel nachgeordnet werden.

 

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Klassenzimmer sind keine Therapieanstalt https://condorcet.ch/2023/11/klassenzimmer-sind-keine-therapieanstalt/ https://condorcet.ch/2023/11/klassenzimmer-sind-keine-therapieanstalt/#respond Wed, 01 Nov 2023 21:32:54 +0000 https://condorcet.ch/?p=15241

Die integrative Schule ist gescheitert. Das lässt sich nicht mit kostspieliger Pflästerlipolitik ändern. Es braucht mehr Separation. Der BAZ-Journalist Sebastian Briellmann bringt in seinem Artikel vieles auf den Punkt.

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Im Kanton Basel-Stadt, dieser vermeintlichen Insel der Glückseligkeit, wo alle Probleme scheinbar störungsfrei gelöst werden können, dank des schier unendlichen Ideenreichtums unserer Politiker – oder, etwas weniger romantisch, mit immer noch viel mehr Steuergeld –, gibt man sich gern Illusionen hin.

Wohin das führen kann, lässt sich am Zustand der Basler Schulen, leider, ganz hervorragend aufzeigen. Obschon sie sich so rühmen für ihren integrativen Charakter, den man unbedingt beibehalten will, egal, wie gross die Kritik ist, wie miserabel das Ergebnis.

Sebastian Briellmann, Journalist bei der BaZ:

Die Basler Schüler sind gemäss Bundesamt für Statistik pro Kopf die teuersten im kantonalen Vergleich – und, quasi als Dank dafür, auch die schlechtesten schweizweit. Der Stadtkanton leistet sich dennoch eine Mega-Maturitätsquote (2023: 35,5 Prozent); mit dem Ergebnis, dass die meisten Studienabbrecher – Überraschung, Überraschung – in Basler Gymnasien ausgebildet worden sind.

Und die Misere beginnt schon viel früher: Fast die Hälfte der Dreijährigen muss in die Frühförderung, weil sie kaum (oder kein) Deutsch sprechen. Dass gefühlt jedem Kind noch die eine oder andere Verhaltensauffälligkeit, eine Lernschwäche, eine kognitive Störung diagnostiziert wird: Es passt zum pitoyablen Zustand der Basler Bildungsinstitutionen.

Grenzen des Systems

Ein Vergleich: Während heute die meisten Kinder ein Sondersetting haben, konnten gemäss Bildungsbericht 2010 noch 93 Prozent in einer Regelklasse unterrichtet werden. Nur 7 Prozent wurden in eine Kleinklasse, Sonderschule oder Einführungsklasse eingeteilt.

Gewiss, dieses Malaise ist nicht die alleinige Schuld des Erziehungsdepartements (ED) und dessen Vorstehers Conradin Cramer, aber wie darauf zu reagieren ist: Das liegt durchaus in der Verantwortung des LDP-Regierungsrats.

Und Cramer hat es ja in der BaZ im September selbst gesagt: “Wir müssen handeln. Und zwar schnell.”

Darum hat er diese Woche ein grosses «Massnahmenpaket zur Verbesserung der integrativen Schule» präsentiert. Für 13,7 Millionen zusätzliche Franken im Jahr will das ED für die Primarschulen “teilseparative” Angebote schaffen und auch bisherige Instrumente weiter ausbauen. Weil auch er zugibt, dass das jetzige System «an Grenzen gestossen» ist.

Pflästerlipolitik

Fördergruppen sollen etwa neu dazukommen, mit einer maximalen Anzahl von 12 Schülerinnen und Schülern, die bei Lernschwierigkeiten partiell aus der Klasse herausgenommen werden – den Rest der Zeit jedoch in ihrem angestammten Verbund verbleiben können. Zudem soll es Lerninseln geben, also kürzere Time-outs von der Klasse, und die Förderung von Psychomotorik, Logopädie und des Zentrums für Frühförderung sollen ausgebaut werden.

Das ist jedoch nur Pflästerlipolitik, eine kostspielige noch dazu. Weil sich das ED offensichtlich keine Systemabkehr vorstellen kann. Und obschon mit der Förderklasseninitiative, die mehr Separation fordert, eine Volksabstimmung zustande gekommen ist, die Cramer gern zurückgezogen sähe. Die wichtigste Forderung der Initianten – eben: die Förderklassen – kommt in seinem Massnahmenpaket nicht vor.

Das ist ein Versäumnis, weil es so ein Paket bleibt, das mehr vom Immergleichen bietet für immer noch mehr Geld.

“Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.”

Christine Staehelin, Lehrerin

 

Das Chaos wird bestehen bleiben, wenn viele Schüler ständig die Klasse verlassen, in Fördergruppen gehen müssen und auf Lerninseln verteilt werden, in die Logopädie, in die Psychomotorik. Es entsteht eine Unruhe, Lärm, Stress – und wohl auch bei den Kindern das Gefühl, dass sie den Ansprüchen in einer “normalen” Klasse nicht genügen. Ist ihnen damit wirklich geholfen? (Wer diese Settings braucht, soll sie selbstverständlich erhalten, aber nicht während des regulären Unterrichts.)

Das Gegenteil der Absicht bewirkt

Die erfahrene Lehrerin Christine Staehelin, seit 36 Jahren im Beruf, hat es in der BaZ zuletzt auf den Punkt gebracht: “Die Gesellschaft wird pädagogisiert, aber an der Schule verschwindet das Pädagogische. Das Kind soll selbst entscheiden, selbst aussuchen, selbst organisieren, selbstständig lernen, die Lehrperson höchstens noch als Coach und Beobachterin wirken.”

Damit hat die sogenannte integrative Schule das Gegenteil ihrer Absicht bewirkt, wie Staehelin schlussfolgert, sie ist nicht für alle da, sondern für immer weniger, denn immer mehr Kinder brauchen Unterstützung, um dort zu bestehen.

Es ist ein Gang in die Individualisierung, in die Isolierung auch. Staehelin, die Frontfrau, nennt diesen Zustand mittlerweile “tragisch”, die “oberflächlichen Reformen”, die die heutige Lage verursacht hätten, hätten “das Selbstverständnis der Schule erschüttert”.

Christine Staehelin hat recht

Wie kann ein Primarschüler, gerade ein schulisch schwacher, nicht verzweifeln, wenn er ständig das Klassenzimmer wechseln muss, immer andere Fächer unterrichtet bekommt als seine Gspänli? Soll er sich mit acht Jahren schon selbst organisieren?

Und wie sollen die Lehrpersonen das managen? Mit einer voluminösen HR-Abteilung wie in einem Grossunternehmen? Das System wankt schon jetzt, mit einer weiteren Verästelung wird es kollabieren.

Es ist deshalb entscheidend, dass das Komitee der Förderklasseninitiative standhaft bleibt und nicht von der Hauptforderung – separative Förderklassen – abweicht. Vor allem noch nicht jetzt, bevor überhaupt die politische Debatte im Grossen Rat stattgefunden hat. Da ist insbesondere die Freiwillige Schulsynode, die Basler Lehrergewerkschaft, gefordert. Auch das Parlament muss genau hinsehen. Es ist begrüssenswert, dass die FDP bereits öffentlich den Vorschlag Cramers kritisiert hat.

Neuerliches Schreibtischwerk

Das ist die nötige Aussensicht, aber man müsste den Technokraten im ED noch viel mehr auf die Finger schauen. Das Massnahmenpaket ist ein neuerliches Schreibtischwerk, auch wenn Cramer das Gegenteil behauptet.

Ein passendes Beispiel dafür hat in dieser Woche Gaby Hintermann, Leiterin Primarschulen im ED, vor der Presse geliefert. Sie nennt die Lerninseln ein “heil- und sozialpädagogisches Angebot”, wo Kinder eine “Auszeit” erhalten, um “eine Krise lösen zu können”, ein “Ventil” also, bevor sie wieder in die Stammklasse zurückkehren können. Diese Inseln seien weiter “keine Bedrohung für Eltern und Kinder”, sondern ein “Rückzugsort”.

Muss man sich da wundern, wenn Kritiker nicht mehr von einer Schule als Hort des Lehrens und Lernens sprechen, sondern von einer Therapieanstalt?

 

Es braucht deswegen fixe Schulklassen, mit einer Lehrerin als Chefin. Für eine Mehrheit wird das noch immer die Regelklasse sein. Wer jedoch in einer solchen überfordert ist, soll künftig – wie von der Initiative gefordert – in eine Förderklasse gehen, wo man dem Potenzial entsprechend gefördert und gefordert wird. Aber eben nicht überfordert.

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Integration und Individualisierung des Unterrichts passen nicht zusammen https://condorcet.ch/2023/08/integration-und-individualisierung-des-unterrichts-passen-nicht-zusammen/ https://condorcet.ch/2023/08/integration-und-individualisierung-des-unterrichts-passen-nicht-zusammen/#respond Thu, 17 Aug 2023 05:07:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=14827

Dr. Beat Kissling, pens. Gymnasiallehrer , Psychologe und Buchautor, widerspricht der Montessori-Kindergärtnerin, Clarita Kunz Matossi (https://condorcet.ch/2023/08/schulen-vergeuden-zu-viel-potenzial/), wenn sie behauptet, dass die totale Individualisierung sei die Lösung bei der Integrationsproblematik. Er verweist auch auf die Hattie-Studie.

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Mit ihrem Gastkommentar profiliert sich Clarita Kunz Matossi ganz im Sinne des Zeitgeistes mit dem aktuell gängigen Schulmotto der individuellen Selbstoptimierungsideologie (NZZ 7. 8. 23). Sie lobt Lehrer und Schulen, die mit «konsequent individualisierenden Unterrichtsformen wie etwa der Montessori-Methode arbeiten», als besonders innovativ, dies ganz im Gegensatz zu den Vertretern des «veralteten Systems» mit der engagierten Lehrperson als wichtigstem Medium für guten Unterricht und gutes Vorankommen der Schülerinnen und Schüler.

Beat Kissling, Erziehungswissenschaftler, Psychologe, und pens. Gymnasiallehrer: Der Mensch ist ein ultrasoziales Wesen.

Im Brustton der Überzeugung – gänzlich ohne Beleg oder Veranschaulichung – behauptet sie, es sei «schlicht falsch», zu meinen, Lehrpersonen seien wichtiger für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode. Man müsse lediglich den Kindern und Jugendlichen mehr Freiheit und Verantwortung beim Lernen übergeben, dann würden sie gut arbeiten können – da kann man nur staunen.

Arrangeure der Lernumgebung?

Historisch gesehen gab es die romantisierende reformpädagogische Vorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Kind würden sich die individuellen kreativen Keime von selbst entfalten, wenn man ihm nur die Gelegenheit dazu gäbe. Schon damals sollten die Erwachsenen ausschliesslich Arrangeure einer funktionalen Lernumgebung zur Selbstbedienung der Kinder sein.

In Wirklichkeit zeigen die heutigen sozial- und humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen bei Kindern und Jugendlichen unmissverständlich auf, dass der Mensch ein «ultrasoziales» Wesen ist.

Dementsprechend ist auch die Beziehung der Schülerinnen und Schüler zur Lehrperson und untereinander wesentlich dafür verantwortlich, wie der Umgang und die emotionale Atmosphäre innerhalb einer Klasse sind und wie sich aufgrund dessen das allgemeine Niveau des Lernens bei jedem Kind positiv entwickeln kann.

Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.

Gerade die langjährige Erfahrung in den Primarschulen mit den sehr unterschiedlichen Leistungsvermögen und Voraussetzungen innerhalb einer Klasse (im Prinzip handelte es sich bei einer klassischen Volksschulklasse stets um gelebte Integration) hat uns immer veranschaulicht, dass erfolgreicher Unterricht auf Dauer nur dann möglich ist, wenn es der Lehrperson gelingt, die teilweise äusserst heterogen zusammengesetzte Klasse als Gemeinschaft zu fördern, in der ein Klima der Freundschaft, der gegenseitige Rücksichtnahme und des Respekts lebt.

Echte Integration ist pädagogisch und psychologisch gesehen im Grunde eben das Gegenteil von der Individualisierung des Unterrichts, weil Letzteres auf ein rein organisatorisches Geschehen, also die Anwendung von Management-Tools, hinausläuft und nichts dazu beiträgt, den Schülerinnen und Schülern Formen gemeinsamen Denkens und menschlicher Zusammenarbeit zu vermitteln.

Das anregende Unterrichtsgespräch

«Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik.

Mit der Individualisierung des Unterrichts kommen nur die sehr vifen, von zu Hause sehr gut geförderten und begleiteten Schülerinnen und Schüler zurecht, während die meisten Lernenden, ganz besonders die schwachen, zwangsläufig auf sich selbst zurückgeworfen sind und im Lernen resignieren.

Da wir Europäer uns so gerne am grossen Vorbild USA orientieren, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sich in der angelsächsischen Welt in den letzten bald zwanzig Jahren ein wirklich innovativer Forschungszweig zur Unterrichtsgestaltung entwickelt hat, bei dem von «Socializing Intelligence Through Academic Talk and Dialogue» als zukunftsweisender Orientierung in der Schulpädagogik gesprochen wird.

Das anregende Unterrichtsgespräch wird in sehr differenzierter Weise analysiert, stets vertiefend weiterentwickelt und den Lehrpersonen als zentrales Instrumentarium vermittelt. Befasst man sich näher damit, realisiert man, dass sehr vieles an das interpersonale Verständnis jedes Bildungsprozesses erinnert, das viele Pädagogenpersönlichkeiten der europäischen (humanistischen) Bildungstradition aus unterschiedlicher Perspektive schon länger beschrieben haben.

Beat Kissling war Lehrer und später als Erziehungswissenschafter und Psychologe lange Jahre in der Lehrerbildung tätig. Er ist Autor von «Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung» (2021).

 

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Wie viel darf’s denn sein? https://condorcet.ch/2023/05/wie-viel-darfs-denn-sein/ https://condorcet.ch/2023/05/wie-viel-darfs-denn-sein/#comments Mon, 08 May 2023 05:00:28 +0000 https://condorcet.ch/?p=13839

Seit geraumer Zeit wird den Lehrkräften dieses Landes ein neues Instrument in Kampf gegen Ungleichheit und für mehr Chancengerechtigkeit aufgedrängt. Pikant: Niemand weiss, wie viele Schüler von diesen Erleichterungen profitieren. Condorcet-Autor Alain Pichard über eine Illusion im Zeitalter der Grundkompetenzen.

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Es geschah bei einem Übergabegespräch zwischen den Lehrkräften der 6. Klässler und den Kolleginnen der Oberstufe. Eine jüngere Kollegin monierte bei einem ihrer Abgänger eine eklatante Leseschwäche. Man müsse, so die besorgte Lehrerin, dem Jungen auch im Fach Mathematik die Testaufgaben vorlesen. Denn nur so könne er im Sekundarniveau bleiben.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission.

Die designierte Klassenlehrerin entgegnete, das werde sie sicher nicht machen. «Dann», so die sichtlich verärgerte Junglehrerin, «müsse er an eine andere Schule gehen.» Der Klassenlehrerin fiel in Anbetracht der bevorstehenden Klassengrösse nichts weiter ein, als mit «Viel Glück» zu antworten.

Natürlich kam der Junge zu ihr, und natürlich gab es kein Vorlesen während des Matheunterrichts und, wie von der Junglehrerin vorausgesagt, wechselte der vermeintlich geschützte Jüngling ins Realniveau. «Dort», so meinte die Klassenlehrerin, «gedeiht er recht gut und erreicht die minimalen Kompetenzen». Auch seine Lesefertigkeit verbessere sich. Er müsse halt daran arbeiten, und das tue er auch.

Seit einiger Zeit müssen wir auch bei unserer Empfehlung fürs Gymnasium der dortigen Aufnahmebehörde mitteilen, wenn ein Nachteilsausgleich vorliegt. Das tat eine sehr beflissene Kollegin im Falle von Marco G.*, dessen Rechtschreibung nie bewertet wurde. Diagnose: Legasthenie. Marco erhielt die Gymnasialempfehlung und trat in die Quarta ein. Als der erste schriftliche Test anstand, nahm Marco seinen ganzen Mut zusammen und wies auf seine Diagnose hin. Der verdutzte Gymnasiallehrer sah ihn an und fragte: «Und jetzt?» Marco meinte, er dürfe nicht wie die anderen bewertet werden, weil er ja eine ausgewiesene Rechtschreibeschwäche hätte. «Aha», antwortete sein Lehrer, «okay, dann nimm mal den Duden, du darfst ihn benutzen.» Marco trat nach einem Jahr aus dem Gymnasium aus und absolviert zurzeit eine Elektronikerlehre. Die Rechtschreibeschwäche wird ihn wohl immer noch begleiten, aber an seinem Bestehen der Abschlussprüfung besteht kein Zweifel. Er ist ein guter Lehrling glücklich mit seinem Lebensentscheid. Dieser Nachteilsausgleich, sagte er mir vor Kurzem, sei nur wegen der Intervention seines Vaters erfolgt. Aber der sei jetzt auch zufrieden.

Wurde Marco um seine Lebenschancen gebracht? Wenn man den Tenor der gegenwärtigen Bildungsdiskussion verfolgt, ist dem sicher so: Dort wird die Matur als der allein seligmachende Olymp des Lebensglücks gesehen.

Eine Recherche des Nebelspalters liefert uns ein vielfältiges Panoptikum des holistischen Entlastungsprogramms.

  • Zeitverlängerung bei Prüfungen 10 Minuten, 15 Minuten, 20 Minuten (der Zeitzuschlag darf maximal ein Drittel der offiziellen Prüfungszeit betragen)
  •  Prüfungen nur mündlich, statt schriftlich
  •  Keine Prüfungen in den Fächern X, Y, Z
  •  Keine Bewertung der Rechtschreibung
  •  Keine Bewertung der Rechtschreibung mit Ausnahme von Fachbegriffen
  •  Diktate ab Diktiergerät
  •  Zugeschnittene Präsentation von Aufgaben und Ergebnissen, a) visuell b) auditiv
  •   Prüfung in Begleitung einer Assistenzperson
  •   Prüfung mit technischem Hilfsmittel (IPad, Taschenrechner)
  •   Prüfungsdurchführung im separaten Zimmer
  •   Prüfungsdurchführung mit individuell angepasstem Sitzplatz / Ruheplatz / im Nebenraum
  •   Prüfung mit Ohrenstöpsel / Pamir
  •   Prüfung hinter dem Paravent / hinter den Ordnern
  •   diverse Pausen während der Prüfungen

Es wird aber gemahnt, diese in einem Zusatzbericht zu dokumentieren, ein behördliches Anliegen, dem die chronisch unterbeschäftigten Lehrkräfte natürlich mit Begeisterung nachkommen.

Die Behörden wissen nicht, wie viele Nachteilsausgleiche zurzeit bewilligt werden. Und nicht zu vergessen: Es gibt ja auch noch die reduzierten Lernziele (rILZ). Im Gegensatz zu ihnen werden die Nachteilsausgleiche in den Zeugnissen nicht vermerkt. Es wird aber gemahnt, diese in einem Zusatzbericht zu dokumentieren, ein behördliches Anliegen, dem die chronisch unterbeschäftigten Lehrkräfte natürlich mit Begeisterung nachkommen. Und mit wie viel Transparenz die so Beurteilten diese Zusatzberichte, sofern sie denn überhaupt vorhanden sind, in ihren jeweiligen Bewerbungsverfahren vorlegen werden, kann nur vermutet werden.

Und da sind ja noch die Grundkompetenzen, die ein Schüler erfüllen sollte. Es war nicht die Idee der Lehrkräfte, diese Standards einzuführen. Aber jetzt haben wir sie, und sie werden geprüft. An diesen Testen werden keine Nachteilsausgleiche gewährt, wie auch später nicht in all den Herausforderungen der beruflichen Bildung.

Die weltfremde Totalindividualisierung, wie sie in den Sandkastenspielen unserer Bildungsforscher ausgedacht werden, negiere ich natürlich.

Viele erfahrene Lehrkräfte, die ihre Lernenden kennen, können abschätzen, wo diese gefordert, gefördert, belastet und eventuell auch geschont werden. Es ist mir als Lehrkraft nie in den Sinn gekommen, einem Schüler, der beim Bruchrechnen das «Gleichnamigmachen» nicht begreift, mit Doppelbrüchen zu quälen. Ich passe die Lernziele an, gewähre mehr Zeit, lasse Prüfungen wiederholen und helfe den Schwächeren, wenn sie Probleme haben. Die weltfremde Totalindividualisierung, wie sie in den Sandkastenspielen unserer Bildungsforscher ausgedacht werden, negiere ich natürlich. Wenn ein Schüler die Grundkompetenzen nicht erreicht, dann hat er sie nicht erfüllt und muss mit einer ungenügenden Note rechnen. Der Autor dieses Artikels hat als Schüler des Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasiums im Fach Mathematik etwas mehr ungenügende als genügende Noten erzielt. Er litt allerdings nicht unter Dyskalkulie, sondern unter Faulheit.

Wenn man mit diesen Nachteilsausgleichen erreichen will, dass kein Schüler mehr ungenügend ist, dann soll man lieber die Noten abschaffen. Das ist billiger, unkomplizierter und wird die Südkoreaner freuen.

 

 

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Lehrermangel als Quittung für übersteigerte gesellschaftliche Erwartungen an die Volksschule https://condorcet.ch/2022/09/lehrermangel-als-quittung-fuer-uebersteigerte-gesellschaftliche-erwartungen-an-die-volksschule/ https://condorcet.ch/2022/09/lehrermangel-als-quittung-fuer-uebersteigerte-gesellschaftliche-erwartungen-an-die-volksschule/#comments Sun, 18 Sep 2022 18:52:43 +0000 https://condorcet.ch/?p=11631

Auch unser Doyen, Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz, beschäftigt sich mit den tieferen Ursachen des Lehrkräftemangels. Er kommt zum Schluss, dass nicht nur die Demographie eine Rolle spielt, sondern die verfehlte Reformpolitik der vergangenen Jahre.

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Hanspeter Amstutz: In den vergangenen gut zwei Jahrzehnten sind die Erwartungen an die Volksschule stetig hochgeschraubt worden.

Man kann den aktuellen Lehrermangel mit den steigenden Schülerzahlen und der fehlenden Bereitschaft der jüngeren Lehrerschaft zu Vollzeitarbeit begründen. Doch das greift zu kurz. Die im Vordergrund stehenden Gründe verstellen den Blick auf die tieferen Ursachen des Lehrermangels. Dieser ist keine nur temporäre Personalknappheit, sondern Ausdruck einer nicht länger zu beschönigenden Krise der Volksschule.

In den vergangenen gut zwei Jahrzehnten sind die Erwartungen an die Volksschule stetig hochgeschraubt worden. Im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten hat der Stellenwert guter Bildung enorm an Bedeutung gewonnen. Die gestiegenen Anforderungen in der modernen Wirtschaft führten unweigerlich zur Frage, ob die Volksschule mit ihren bisherigen Lernkonzepten und ihrem traditionellen Bildungskanon den neuen Herausforderungen gewachsen sei.

Bildungsexperten lösten mit grossen Versprechungen eine Reformflut aus

Die Unruhe wuchs, als unserer Volksschule beim internationalen Pisa-Ranking in einigen Bereichen nur durchschnittlich Leistungen bescheinigt wurden. Geradezu panikartig riefen einige Bildungspolitiker nun dazu auf, die Volksschule gründlich umzubauen. Man überbot sich mit Reformideen, die rasche Erfolge versprachen. In den neu gegründeten Forschungsabteilungen der Pädagogischen Hochschulen wurden unzählige Reformprojekte entwickelt, die mit hohen Erwartungen verknüpft waren. Die neuen Ideen wurden von umtriebigen Bildungspolitikern dankbar aufgenommen und ungeprüft als grosser Fortschritt gepriesen. Wer nicht freudig mitmachte oder sich gar kritisch äusserte, wurde als hoffnungslos rückständig eingestuft.

Kaum jemand fragte, wie es um die Praxistauglichkeit der Reformprojekte stand.

Die Versprechungen der Bildungsexperten blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Eltern. Die Vorstellung, dass eine modernisierte Schule sehr viel mehr als bisher erreichen könnte, befeuerte die Schuldiskussionen im ganzen Land. Fortschrittliche Gemeinden führten neue Schulmodelle ein und die Zürcher Bildungspolitik mit Ernst Buschor an der Spitze liess keinen Stein mehr auf dem andern. Die Presse berichtete von grossartigen ersten Resultaten beim frühen Fremdsprachenunterricht, auch wenn die Schüler erst zwei Wochen Englischunterricht hatten. Die Dynamik des Fortschrittglaubens hatte die Volksschule erfasst, doch kaum jemand fragte, wie es um die Praxistauglichkeit der Reformprojekte stand. Überprüft wurde wenig, und dort, wo sich negative Befunde zeigten, verschwanden die unerfreulichen Resultate in den tiefen Schubladen der Bildungsbürokratie.

Es ist Zeit, eine unbeschönigte Bilanz zu ziehen

Es dürfte aufschlussreich sein, eine kurze Bilanz der Reformvorhaben im Licht der Gegenwart zu ziehen. Haben die einzelnen Reformen die Erwartungen erfüllt? Und welche bedeutenden Nebenwirkungen auf das gesamte Schulsystem sind feststellbar? Viele der umstrittenen Reformen sind im neuen Lehrplan verankert worden, deshalb kommt diesem sogenannten Jahrhundertwerk eine Ausnahmestellung in der Schulgeschichte zu. Wieweit diese Reformen die aktuelle Schulkrise mitverursacht haben, wird in der nachfolgenden Übersicht erläutert.

Zentralistische Steuerung des Bildungsprogramms erweist sich als ineffizient

Die Schwierigkeit liegt nicht im Erfassen von Daten zu den Schülerleistungen, sondern im Umsetzen von nötigen Konsequenzen.

Kompetenzraster: Mehr Wunschdenken

Die Vorstellung, man könne durch eine regelmässige Überprüfung von festgelegten Bildungsstandards die Qualität unserer Volksschule heben, ist mehr Wunschdenken als Realität. Sicher ist es aufschlussreich, durch wissenschaftliche Erhebungen in ausgewählten Schulen einen Überblick über den Bildungsstand in einzelnen Fächern zu erhalten. Doch wie sich deutlich abzeichnet, ist es einfacher, Schwächen aufzudecken als diese nachher zu beheben. Dass ein Fünftel unserer Schulabgänger kaum einfachste Texte versteht, war das Resultat einer der zentralen Erhebungen. Doch ein Monitoring bleibt ohne grossen Nutzen, wenn eine Studie wie in diesem Fall weitgehend totgeschwiegen wird.

Bildungssteuerung lässt sich nicht durch Knopfdruck von oben bewerkstelligen. Die Schwierigkeit liegt nicht im Erfassen von Daten zu den Schülerleistungen, sondern im Umsetzen von nötigen Konsequenzen. Doch da fehlt den Planungsstäben meist der Mut, die eigenen Fehler einzugestehen und gescheiterte Vorhaben abzubrechen. Lehrpersonen sehen meist sehr deutlich, wo Änderungen nötig sind. Ihr Engagement für praxisnahe Reformen wäre der effizienteste Weg, um Fehler zu korrigieren. Wird diese Initiative aber durch ein unnötiges Gängelband einer obrigkeitlichen Steuerung eingeschränkt, geht viel pädagogische Initiative verloren.

Der Lehrplan als wegweisender Bildungskompass sorgt für Frustration

Rückmeldungen aus den Schulen zeigen, dass das umfangreiche Werk des neuen Lehrplans seine Funktion als Orientierungshilfe bei der Jahresplanung nicht erfüllt. Der Lehrplan mit seiner Fülle an Kompetenzzielen ist überladen und erschwert die Vertiefung wesentlicher Bildungsinhalte. Es ist den Lehrplanverantwortlichen nicht gelungen, sich auf Kernanliegen der Bildung zu einigen und den Lehrpersonen genug Freiheit für ihr Unterrichtsprogramm zu gewähren. Lehrinnen und Lehrer benötigen klare Bildungsziele, eine Unmenge an detaillierten Vorgaben jedoch ist nur hinderlich und sorgt für Frustration.

Hauptvorwurf bleibt, dass beim Lehrplan der Faktor Zeit in der Pädagogik unterschätzt wurde. Mit unzähligen Bildungsversprechungen hat man den Karren überladen und die Illusion genährt, mit einer leicht erhöhter Lektionenzahl bewältige die Schule das Programm schon. Dies hat dazu geführt, dass in manchen Schulzimmern unnötige Hektik Einzug gehalten hat.

Zur Schadensbegrenzung mussten Lehrmittel mit umstrittenen Methoden entsorgt und durch Bücher mit klar strukturierten Lernkonzepten ersetzt werden.

Die abenteuerliche Didaktik der frühen Mehrsprachigkeit ist gescheitert

Manche Schüler haben die Freude am Sprachenlernen verloren, und bei den Grundkenntnissen im Deutsch wachsen die Defizite.

Das frühe Erlernen zweier Fremdsprachen ist zu einer grossen Belastung in der Mittelstufe geworden. Viele Schüler haben in mindestens einer der beiden Fremdsprachen längst abgehängt, wenn sie in die Sekundarschule übertreten. Seriöse Erhebungen deckten auf, dass ein Grossteil der Primarschüler durch die vielgerühmte immersive Didaktik und das sprachliche Nebeneinander im Unterricht stark verunsichert ist. Zur Schadensbegrenzung mussten Lehrmittel mit umstrittenen Methoden entsorgt und durch Bücher mit klar strukturierten Lernkonzepten ersetzt werden.

Der Preis für den Tanz auf drei Hochzeiten beim frühen Sprachenlernen ist hoch. Neben der ernüchternden Leistungsbilanz vor allem im Französisch gibt es erhebliche Nebenwirkungen. Manche Schüler haben die Freude am Sprachenlernen verloren und bei den Grundkenntnissen im Deutsch wachsen die Defizite. Völlig ausgeblendet wurde der grosse zeitliche Aufwand für die Ausbildung der Primarlehrkräfte in den beiden Fremdsprachen. Die Zeche dafür bezahlt die Realiendidaktik, wo kulturbildende Fächer wie Geschichte oder Geografie klar zu kurz kommen.

Das überstrapazierte Integrationsmodell ist der grösste Belastungsfaktor

Wohl die grösste Belastung für Schulklassen und deren Lehrkräfte sind Schüler, welche über jedes erträgliche Mass hinaus den Unterricht stören. Bei der vorschnellen Abschaffung der Kleinklassen haben die Bildungsexperten nicht einkalkuliert, dass der Betreuungsaufwand für verhaltensauffällige Schüler sehr hoch ist. Es genügt bei weitem nicht, einen schwierigen Schüler während drei Stunden pro Woche durch eine Heilpädagogin zu betreuen und die restliche Zeit der Klassenlehrerin zu überlassen.

Die Politik glaubte, aus dem Ruder gelaufene Klassen durch den Einsatz zusätzlicher Fachlehrpersonen stabilisieren zu können.

Die Ankündigung, das neue Integrationsmodell grenze niemanden mehr aus und schaffe mehr Gerechtigkeit, kam anfänglich in der Bevölkerung gut an. Doch schon bald stellte sich heraus, dass einzelne Schüler es schafften, ganze Klassen durcheinanderzubringen. Die Politik glaubte, aus dem Ruder gelaufene Klassen durch den Einsatz zusätzlicher Fachlehrpersonen stabilisieren zu können. Doch Personalmangel, dogmatisches Festhalten am Integrationskonzept und viel bürokratischer Aufwand verhinderten akzeptable Lösungen.

Die Frage der Chancengerechtigkeit ist zweifellos ein zentrales Anliegen der Volksschule. Es führt aber entschieden zu weit, wenn von den Klassenlehrkräften erwartet wird, sie hätten auch schwerste Erziehungsdefizite einzelner Schüler zu korrigieren. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass solche Aufträge die Lehrpersonen überfordern und zu heillos langen Diskussionen mit Eltern führen.

Individualisierungsträume erschweren die Organisierbarkeit des Unterrichts

Massgeschneiderte Lernprogramme weckten die Hoffnung, dass auch Schüler mit mittelmässigen Leistungen ans Gymnasium übertreten könnten.

Das gemeinsame Lernen unter Führung einer empathischen Lehrperson bleibt von zentraler Bedeutung.

Der neue Lehrplan erachtet eine individualisierte Lerngestaltung als zentrales Element einer modernen Schule. Schülerinnen und Schüler sollten möglichst in ihrem eigenen Lerntempo vorankommen und eine breite Grundbildung erhalten. Individualisierung war das Zauberwort, um mehr Chancengerechtigkeit erreichen zu können. Viele waren überzeugt, dass eine Schule mit einem fortschrittlicheren Bildungskonzept mehr aus den Kindern «herausholen» könne. Entsprechend hoch war der Druck auf die Lehrpersonen, den Unterricht grundlegend zu individualisieren. Massgeschneiderte Lernprogramme weckten die Hoffnung, dass auch Schüler mit mittelmässigen Leistungen ans Gymnasium übertreten könnten. Dabei sollte das Spielerische im Unterricht selbstverständlich nicht zu kurz kommen.

Das Vermitteln von Bildungsinhalten in parallellaufenden individuellen Lernprozessen ist organisatorisch aufwändig. Wer glaubt, der Verzicht auf kollektives Lernen mache die Schule erfolgreicher, täuscht sich. Die bekannte Hattie-Studie hat eindrücklich bewiesen, dass direkte Instruktion im gemeinsamen Klassenunterricht gegenüber individualisierten Lernformen effizienter ist. An dieser Feststellung werden auch neue digitale Lernprogramme kaum viel ändern, da das gemeinsame Lernen unter Führung einer empathischen Lehrperson von zentraler Bedeutung bleibt.

Das neue Lehrerbild von der betreuenden Lehrperson hat einen hohen Preis

Heute sehen sich viele Lehrerinnen primär als eine Lernbegleiterin, die sich selbst stark zurücknimmt und so den Kindern mehr Spielraum geben möchte. Diese Haltung steht in diametralem Gegensatz zur Vorstellung, Lehrerinnen würden durch begeisterte Stoffvermittlung und klare Führung den Unterricht in ihrer Klasse prägen. Der in der Lehrerbildung empfohlene Rollenwechsel von der Stoffvermittlerin zur Lernbegleiterin ist in der Praxis äusserst umstritten. Vor allem Männer scheinen sich mit der Vorstellung, ein Lehrer sei in erster Linie ein einfühlsamer Lernbegleiter, schwer zu tun. Die Zahlen bei den männlichen Stellenbewerbern für die Primarschule sprechen da eine deutliche Sprache. Das Wegbrechen fast einer ganzen Generation junger Lehrer trifft die Primarschule in ihrer Gesamtentwicklung empfindlich und verschärft den Lehrermangel in hohem Mass.

Gesellschaftliche Forderungen nach einer Volksschule mit erweiterter Betreuungsfunktion haben nicht nur auf das Lehrerbild Auswirkungen. Lektionenzahlen wurden erhöht, damit die Kinder in garantierten Präsenzzeiten gut betreut werden. Meist werden in den zusätzlichen Randstunden voll ausgebildete Lehrpersonen eingesetzt, was zu einer Verknappung des Lehrpersonals in den Hauptfächern führt. Wenn nun auch noch gefordert wird, es seien mehr Lehrpersonen mit professioneller Ausbildung zur Schülerbetreuung beim Mittagstisch einzusetzen, wird sich die Situation bei der Unterrichtsverpflichtung sicher nicht verbessern.

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