Heterogenität - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 01 Apr 2020 22:15:36 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Heterogenität - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Enorme Heterogenität an der Heilpädagogischen Sonderschule https://condorcet.ch/2020/03/enorme-heterogenitaet-an-der-heilpaedagogischen-sonderschul/ https://condorcet.ch/2020/03/enorme-heterogenitaet-an-der-heilpaedagogischen-sonderschul/#comments Tue, 31 Mar 2020 16:53:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=4496

Condorct-Autor Riccardo Bonfranchi erklärt, warum in Heilpädagogischen Sonderschulen immer mehr Schwerbehinderte, aber weniger Kinder mit Down-Syndrom betreut werden. Bauchschmerzen bereitet ihm insbesondere die zunehmende Durchmischung der Klassen mit schwer Geistig- und Mehrfachbehinderten, Lernbehinderten und Verhaltensauffälligen, in einer Bandbreite, der niemand gerecht werden kann.

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Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Supervisor

In vielen heilpädagogischen Sonderschulen des Kantons Zürich bietet sich heute folgendes Bild: Neben geistig behinderten Kindern, die schon immer diesen Schultyp besucht haben, finden sich häufig auch schwer geistig und mehrfachbehinderte Kinder. Dies ist grundsätzlich auch gut so; denn auch sie haben ein Recht auf Bildung und Förderung.

Verschiebungen durch pränatale Frühdiagnostik und medizinische Entwicklungen

Tatsache ist aber auch, dass diese Gruppe in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Es hat damit zu tun, dass heute weit häufiger schwerbehinderte Kinder überleben können, die früher gestorben wären. Auch die Zunahme der Überlebensmöglichkeit von Frühestgeburten hat deutlich zugenommen, nicht wenige davon mit einer schweren Behinderung. Gleichzeitig ist eine deutliche Abnahme von Kindern mit Down-Syndrom feststellbar, dies aufgrund der pränatalen Diagnostik, die heute in der überwiegenden Zahl der positiv diagnostizierten Fälle zu einer Abtreibung führt. Viele geistig behinderte Kinder, insbesondere solche mit Down-Syndrom, werden zunächst in die Regelschule integriert. Wenn sie etwas älter geworden sind, folgt häufig die Einschulung in eine heilpädagogische (Oberstufen-)Klasse.

Vermehrt Lernbehinderte und Verhaltensauffällige an Sonderschulen

Die Bandbreite an unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen in der heilpädagogischen Sonderschule hat sich in den letzten Jahren aber vor allem auch deshalb dramatisch vergrössert, weil auch sogenannt lernbehindert-verhaltensauffällige Schüler häufiger in diesen Schulen aufgenommen werden, die eigentlich für geistig behinderte Kinder und Jugendliche eingerichtet worden sind.

Extreme Heterogenität in der Durchmischung

Grosse Unterschiede auch in heilpädagogischen Klassen.

Eine Klasse an einer heilpädagogischen Schule im Kanton Zürich sieht heute also beispielsweise wie folgt aus. Gehen wir von einer Klasse mit acht Schülerinnen und Schülern aus: Zwei der acht Schüler sind schwer geistig und mehrfachbehindert, sie verfügen über keine Lautsprache und bewegen sich auf dem entwicklungspsychologischen Niveau eines Kleinkindes unter zwei Jahren. Zwei weitere Schülerinnen sind schwer geistig, aber nicht mehrfachbehindert. Ihr Entwicklungsniveau entspricht etwa der Kindergartenstufe. Zwei weitere Schüler sind nur leicht geistig behindert und wären früher vielleicht in eine Kleinklasse eingeschult worden. Die letzten zwei der acht Schüler sind nicht geistig behindert, aber verhaltensauffällig. Sie bewegen sich selbständig in der Gemeinde, benutzen öffentliche Verkehrsmittel, fahren vielleicht Mofa, hatten aber eventuell auch schon diverse Kontakte mit der Polizei wegen Vandalismus und Sachbeschädigung oder Ähnlichem. Diese acht Schüler besuchen nun also in unserem Beispiel die gleiche Klasse an einer heilpädagogischen Schule.

Es gibt wohl keinen anderen Schultyp in unserer Schullandschaft, der so heterogen zusammengesetzt ist wie eine Klasse an einer heilpädagogischen Sonderschule.

Wie aber sieht der Unterricht aus?

Wie aber sieht der Unterricht in einer solcherart durchmischten Klasse aus? Über welche Qualifikationen muss die verantwortliche Lehrkraft verfügen, um all den verschiedenen Bedürfnissen gerecht werden zu können? Ist dies überhaupt zu leisten? Und: Ist den verantwortlichen Stellen bei der Bildungsdirektion und in der Politik bekannt, dass hier solch massive Unterschiede in den Bildungsniveaus vorhanden sind, die ein befriedigendes Fordern und Fördern kaum noch möglich machen? Es gibt wohl keinen anderen Schultyp in unserer Schullandschaft, der so heterogen zusammengesetzt ist wie eine Klasse an einer heilpädagogischen Sonderschule.

Nimmt man diese Schüler noch für voll?

Geschieht hier nicht eine Bagatellisierung bzw. Trivialisierung von Behinderung? So werden sowohl die schwer geistig- und mehrfach behinderten Schüler wie auch die lernbehindert-verhaltensauffälligen nicht für voll genommen. Wie soll man als Heilpädagoge dieser Bandbreite gerecht werden können?

Sinnvoll wäre es, die sogenannten Kleinklassen wieder einzuführen, wie dies in den Kantonen Aargau und Graubünden erwogen und teilweise umgesetzt worden ist. Zwar gelten Klassen an heilpädagogischen Schulen auch als Kleinklassen, doch ist die derzeitige Heterogenität der Entwicklungs- und Bildungsniveaus didaktisch und bildungspolitisch so nicht akzeptabel und bedarf einer neuen Lösung.

Riccardo Bonfranchi ist als selbständiger Fachberater und Supervisor im heilpädagogischen Bereich tätig.

 

 

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Es braucht eine zeitgemässe Förderung https://condorcet.ch/2019/12/es-braucht-eine-zeitgemaesse-foerderung/ https://condorcet.ch/2019/12/es-braucht-eine-zeitgemaesse-foerderung/#comments Fri, 27 Dec 2019 15:36:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=3411

Dieter Baur und Doris Ilg, leitende Beamte des Erziehungsdepartements der Stadt Basel, haben den Artikel von Roland Stark und Riccardo Bonfranchi (Abschaffung der Kleinklassen - ein bildungspolitischer Irrweg, 11. Dez. 2019) nicht goutiert. In der BAZ ist ihre Antwort erschienen, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen.

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Dieter Baur, Leiter Volksschulen, Erziehungsde-partement der Stadt Basel
Doris Ilg, Stellverterin Leitung Volksschulen des Erziehungs-departements der Stadt Basel

Die integrative Schule lebt. Sie lebt durch das tägliche riesige Engagement unserer Lehr- und Fachpersonen und unserer Schulleitungen. Sie lebt auch dadurch, dass sie sich ständig neuen Herausforderungen anpasst. Diese Aufgabe ist äusserst anspruchsvoll. Die Volksschule hat den Auftrag, die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu erfüllen. Unsere Klassen sind meist sehr heterogen zusammengesetzt. Die Kinder und Jugendlichen bringen ganz unterschiedliche Erfahrungen mit in die Schule, sind nicht alle gleich weit in ihrer Entwicklung, haben unterschiedliche familiäre Hintergründe und nicht dieselben Lernvoraussetzungen.

Die Schule muss den gesellschaftlichen Wandel mitgehen

Das war schon früher so und ist es heute deutlich ausgeprägter. Die Volksschule kann nicht für jedes einzelne Kind zu jedem Zeitpunkt die perfekte Lösung anbieten. Sie bietet aber für alle Schülerinnen und Schüler ausgezeichnete förder- und leistungsorientierte Angebote, seien diese separativ oder integrativ. Die Volksschule muss den gesellschaftlichen Wandel mitgehen. Sie braucht immer wieder Lösungen für neue Herausforderungen wie etwa die deutliche Zunahme von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten oder mit Autismus. Sie braucht Lösungen für die Kinder und Jugendlichen, sie braucht aber auch genügend Ressourcen für die Lehrerinnen und Lehrer, damit sie ihren höchst anspruchsvollen Job jeden Tag aufs Neue meistern können.

Es gibt keinen Zwang zur Integration

Die Volksschule in Basel ist eine integrative Schule, soweit dies im jeweiligen Fall sinnvoll und möglich ist. Es gibt aber keinen Zwang zur Integration. Unseren Schülerinnen und Schülern stehen sowohl integrative als auch separative Angebote zur Verfügung. Denn es gibt in der Tat Situationen, in denen ein Kind in einem separativen Angebot besser lernen kann und sich wohler fühlt als in einer Regelklasse.

Kleinklassen sind keine zeitgemässe Lösung

Es gibt auch Situationen, in denen ein Kind mit einer massiven Verhaltensauffälligkeit den Unterricht in einer Regelklasse stört oder gar verunmöglicht. Auch in diesem Fall ist ein separatives Angebot sinnvoll. Kleinklassen, wie es sie früher gab, sind dafür aber keine zeitgemässe Lösung. Gegen Ende ihres Bestehens konnten die Kleinklassen schon damals nicht mehr angemessen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen reagieren. Denn die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler in den Kleinklassen hatte sich deutlich verändert. Zusehends intensivere Förderung in noch kleineren Klassen wurde nötig und wurde von den Lehrpersonen auch eingefordert. Diese Entwicklung hat sich fortgesetzt.

Verbesserte personelle Ausstattung

Fakt ist aber: Basel-Stadt führt nach wie vor speziell kleine Klassen mit einer gegenüber den früheren Kleinklassen sehr stark verbesserten personellen Ausstattung. Es sind die Klassen der sogenannten Spezialangebote. Die Spezialangebote sind als separatives Angebot an verschiedenen Schulstandorten und für alle Schulstufen in der Volksschule ein wichtiger Teil der integrativen Schule. Sie entsprechen den Bedürfnissen der heutigen Gesellschaft. Wir entwickeln die Spezialangebote laufend weiter. Dasselbe tun wir mit den vielen integrativen Förderangeboten. Ein Zurück in frühere, oft auch leicht glorifizierte Zeiten wäre ein massiver Rückschritt. Das wollen wir nicht.

Die Gesellschaft entwickelt sich rasch und stetig. Dasselbe gilt für unsere Schülerinnen und Schüler. Die Schule hat die spannende, aber anspruchsvolle Aufgabe, mit all diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Lassen Sie uns unsere integrativen und separativen Lösungen weiterentwickeln. Lassen Sie uns mit einer etablierten und zeitgemässen Vorgehensweise die bestmögliche Förderung für unsere Kinder und Jugendlichen finden und umsetzen. Unsere Lehrerinnen und Lehrer setzen sich mit grossem Engagement und Wissen mit immer komplexer werdenden Beeinträchtigungen und Ansprüchen auseinander. Sie geben dabei täglich ihr Bestes. Dafür gebührt ihnen grosser Respekt. Unsere Anerkennung hilft ihnen mehr als der rückwärtsgerichtete Blick in vergangene Zeiten. Es braucht eine zeitgemässe Förderung. Kleinklassen werden den gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen nicht gerecht.

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Einsam lernen: 30 Schüler und kein Lehrer https://condorcet.ch/2019/10/einsam-lernen-30-schueler-und-kein-lehrer/ https://condorcet.ch/2019/10/einsam-lernen-30-schueler-und-kein-lehrer/#comments Tue, 22 Oct 2019 20:31:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=2533

Der Condorcet-Blog hat eine doppelte Premiere. Einerseits schreibt eine junge 21-jährige zukünftige Lehrerin aus Deutschland für unseren Blog, was wir sehr begrüssen. Andererseits möchte sie dies nur unter einem Pseudonym tun, was uns sehr leid tut. Der Text entfaltet zwar eine äusserst kritische Sicht auf den heutigen Unterricht und damit auch auf die Ausbildung der zukünftigen LehrerInnengeneration, verstösst aber keineswegs gegen irgendwelche Vertraulichkeitsprinzipien, wodurch sich hier die Behörden gezwungen sähen, Massnahmen gegen die Autorin zu ergreifen. Es ist zweifelsohne besorgniserregend und sagt viel über den heutigen Zeitgeist aus, wenn sich junge Lehramtsabsolventinnen gezwungen sehen, kritische Texte nur anonym zu veröffentlichen. Der richtige Name und die Person sind der Redaktion bekannt.

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Modernes Klassenzimmer
Bild: api

Frontal ausgerichtete Bankreihen, eine Kreidetafel, der allseits gefürchtete Lehrerkalender mit den Notenlisten – all diese Erinnerungen werden geweckt, wenn ich nach Jahren wieder einen Grundschulklassenraum betrete. Das dachte ich zumindest, als ich, Lehramtsstudentin, den ersten Schritt in meine Hospitationsklasse setzte. Doch in Wahrheit waren alle diese Dinge aus dem modernen Klassenzimmer verschwunden. Die Kreidetafel ist einer hochmodernen interaktiven Tafel gewichen. Noten gibt es in den ersten zwei Jahren auch keine mehr und die Schulbänke stehen nicht mehr frontal zur Tafel, sondern verteilt im Raum und heißen nun „Lernbüros“.

Sofort werde ich von Lena angesprochen, die im gleichen Moment wie ich den Klassenraum betritt. Nach der Begrüßung geht sie zielstrebig zu ihrem Lernbüro. Aufmerksam beobachte ich, wie sie ihren Wochenplanhefter herausnimmt. „Hier sind alle Aufgaben drin, die ich diese Woche in Deutsch und Mathe machen muss“, erklärt sie mir geduldig. Timo am Nachbartisch setzt gerade einen dicken Haken hinter seine abgearbeitete Aufgabe im Arbeitsheft.

Arbeitsblätter abarbeiten
Bild: AdobeStock

Die früher selbstverständlichen Tätigkeiten des Lehrers, nämlich Lernbegeisterung und Wissen zu vermitteln, rücken durch dieses neue Selbstverständnis der Lehrkraft in den Hintergrund. Getreu der konstruktivistischen Sichtweise auf die Kindheit ist das erklärte Ziel, dass die Kinder zunehmend ihr Lernen selbst steuern sollen. Dies bedeutet, dass der Lernbegleiter im Gegensatz zum Lehrer eine vorrangig betreuende Funktion einnimmt. Er stellt für die Kinder eine Lernumgebung in Form von Materialien bereit, in der sich die Kinder vorwiegend selbst mit den Themen beschäftigen sollen. Nicht der Lernbegleiter gibt allumfassend vor, was im Unterricht gemacht werden soll, sondern er bespricht mit dem jeweiligen Kind die nächsten Schritte auf dem individuellen Lernweg.

Offener Unterricht, Wochenplanarbeit und Lernwerkstätten lauten die verheißungsvollen Elemente des individualisierten Unterrichts, der bereits die bundesdeutschen Klassenzimmer erobert. Dank dieser Unterrichtsform soll jedes Kind die Möglichkeit bekommen, auf seinem Niveau und in seinem Tempo die Aufgaben zu erledigen, ohne dabei dem Zwang und dem Druck des gemeinschaftlichen Klassenunterrichts ausgesetzt zu sein. Das Kind mit seinen individuellen Stärken und Schwächen soll verstärkt in den Vordergrund schulischen Lernens rücken. Genährt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Heterogenität der Schulklassen, die angeblich nur durch eine Individualisierung des Lernprozesses zu bewältigen sei.

Horizonterweiterung durch vereinzeltes Lernen?

Bild: Spiegel

Wenn ich mich umblicke und die ganz alleine mit unterschiedlichen Dingen beschäftigten Kinder betrachte, dann ist die Schlussfolgerung simpel, dass das individualisierte Lernen einen Unterricht im Klassenverband unmöglich macht. Vielmehr sollen die mit dem Lernbegleiter besprochenen Arbeitspläne erledigt werden. In der Realität führt der Weg konsequenterweise zu einem starren Abarbeiten von stupiden und auf das Nötigste reduzierten Arbeitsheften, Arbeitsblättern, Karteien und Spielchen. Es ist allerdings fraglich, ob solche für den Zweck der selbstständigen Bearbeitung nivellierten Materialien einen lebendigen Unterricht durch die Lehrkraft ersetzen können.

 

Werden die Arbeitsblätter zu kritischem Hinterfragen anleiten und ganz andere, abstrakte Horizonte eröffnen können?

Wenn Kinder sich selbstständig mit dem zu erlernenden Stoff auseinandersetzen, werden sie dann größere Bezüge herstellen, als es ihr bisheriger Horizont zulässt? Werden die Arbeitsblätter zu kritischem Hinterfragen anleiten und ganz andere, abstrakte Horizonte eröffnen können? Ist es nicht der Lehrer, der durch seinen Wissensvorsprung und das Gespräch mit den Kindern in der Lage ist, den Stoff in einen viel breiteren Sinnkontext einzubetten, als es die Kinder je mit Hilfe der Arbeitsblätter können? Lehren bedeutet, sein Wissen zu nutzen, um Neues hervorzuheben, in neue Zusammenhänge und zur Diskussion zu stellen. Gerade diese Aufgaben des Lehrers wurden im Zuge der Umetikettierung zum Lernbegleiter wegrationalisiert!

Lernunterschiede verstärken sich

Mein Blick fällt auf Julian, der nun schon seit gefühlten zehn Minuten resigniert sein Dasein vor seinem Arbeitsblatt fristet. Julian ist verzweifelt, denn er versteht das Arbeitsblatt nicht. Wenn er nicht weiter weiß, soll er sich an ein anderes Kind wenden, das diese Aufgabe schon gelöst hat. Doch das Kind konnte ihm auch nicht helfen. Nun sitzt er da und macht nichts. Die Lernbegleiterin scheint noch mit anderen Schülern beschäftigt zu sein.

Individualisierter Unterricht
Bild: LP BW

„Jeden Schüler mit seinen eigenen Stärken und Schwächen wertschätzen, fordern und fördern“, heißt das chorische Narrativ der harmonischen Imagefilme, die für „individualisiertes Lernen“ werben. Die Frage drängt sich auf, ob dieses ambitionierte Ziel in Hinblick auf die äußerst große Heterogenität überhaupt erreichbar ist. Stimmt es wirklich, dass diese Art des Unterrichts, wie so oft behauptet, zu mehr Gerechtigkeit führt? Eher scheint es der Fall zu sein, dass sich die Leistungsunterschiede der Kinder immer weiter verstärken. Kinder, die über die nötige Selbstbeherrschung und Konzentration sowie Intelligenz zum Abarbeiten der Aufgaben verfügen, können deutlich mehr erreichen, als ein Kind mit Konzentrationsstörungen.

Schleichender Sinkflug

Gerade bei schwächeren oder langsameren Schülern besteht die Gefahr, dass sie bei selbstständiger Arbeit nicht motiviert werden, schneller oder mit größerer Bereitschaft zu arbeiten.Kann die Resignation der Umgebung vor dem derzeitigen Leistungsvermögen des Kindes als unterlassene Hilfeleistung interpretiert werden? Kann sich so das individualisierte Lernen wegen mangelnder Zuwendung und Druckes von außen in mancher Hinsicht als Grund für einen schleichender Sinkflug von Schülerleistungen enttarnen?

Aufbewahrende Beschäftigung

Julian hat sich in der Zwischenzeit doch noch einmal an ein anderes Kind gewandt. Geduldig diktiert Fritz ihm nun die Lösungen. Ist es wirklich der beste Weg, dass Kinder in ihrer eigenen Lernzeit andere Kinder unterrichten? Die Leistungsspitze der Klasse wird beim eigenen Arbeiten gestört, weil sie in ihrer eigenen, dringend benötigten Lernzeit andere Schüler unterrichten muss. Des Weiteren werden sie aufbewahrend beschäftigt, wenn sie ihr Aufgabenpensum erledigt haben.

Leistungsstarke Schüler als Lehrerersatz

Gegenseitige Unterstützung kann und soll – dosiert eingesetzt – durchaus zur Vertiefung und Festigung eines Themas beitragen. Zu sehr scheint hier jedoch die systemimmanent notwendige Entlastung des Lernbegleiters sowie die Beschäftigung leistungsstarker Schüler im Fokus zu stehen. Ist es dann sogar möglich, dass unter dem Deckmantel der Förderung von angeblich so wichtigen sozialen Kompetenzen bei Gruppenarbeiten und Projekten eher versucht wird, die Leistungsunterschiede (besonders durch deren Benotung) wieder zu vereinheitlichen?

Die freie Arbeitszeit neigt sich dem Ende zu, und die Kinder finden sich im Sitzkreis zusammen, um ihre Aufgaben zu präsentieren und über ihre Arbeit zu reflektieren. Während Lena stolz ihre Geschichte vorliest, ist Julian mit seinen Gedanken ganz woanders. Wie viel er wohl heute gelernt hat?

Immer mehr ertappe ich mich dabei, ein Bereitschaftswächter zu werden, der sicherstellt, dass die Kinder sich ohne Widerspruch dem Sachzwang der Arbeitsblätter unterwerfen. Begeisterung und Leidenschaft sind nur störend in der Kompetenzarena, in der es vorrangig auf die einmalig geleistete Handlung ankommt.

Ich nutze die Zeit, um meine Eindrücke zu verarbeiten. So richtig wohl fühle ich mich in meiner neuen Rolle als Mini-Lernbegleiter nicht. Immer mehr ertappe ich mich dabei, ein Bereitschaftswächter zu werden, der sicherstellt, dass die Kinder sich ohne Widerspruch dem Sachzwang der Arbeitsblätter unterwerfen. Begeisterung und Leidenschaft sind nur störend in der Kompetenzarena, in der es vorrangig auf die einmalig geleistete Handlung ankommt. Dass dieses Können nicht nachhaltig gelernt ist, scheint in einer Welt, in der alles Wissen im Internet verfügbar ist, nicht zu stören. Wissen ist überall – auf den Charakter kommt es an. Sich Wissen zu eigen machen, Emotionen und Leidenschaft damit zu verbinden, all das stört die trostlose Welt der Output-Orientierung. Gefragt sind sozial kompetente Wesen, die sich anpassungsfähig und hoch motiviert, jedoch ohne Reflexion, auf die ihnen auferlegten Aufgaben stürzen. Weshalb beschäftige ich mich mit diesem Gegenstand? Mit welchem Ziel? Wahrscheinlich wird hier nicht der gelernte Inhalt für die Kinder zum Ziel, sondern das abgearbeitete Arbeitsblatt.

Von der Autoritätsperson zum Arbeitsblatt

Das eigentliche Ziel von Schule sollte es sein, den Menschen zum selbstständigen Denken und Handeln zu befähigen. Doch auch hier liegt der Teufel im Detail. Selbstständigkeit wird bei dieser Form des Lernens in gewissem Maße vorausgesetzt. Individuelles Lernen verlangt Selbstregulation und das Treffen von Entscheidungen. Die Frage bleibt, ob die Kinder in diesem Alter dazu schon in der Lage sind. Können die Kinder entscheiden, wann sie ein Thema verstanden haben? Werden den Kindern selbst Details auffallen, und werden sie diese hinterfragen?

Lehren bedeutet für mich unter anderem, mein Wissen zu nutzen, um anleitend Neues hervorzuheben, auf Details aufmerksam zu machen, Widersprüche aufzuzeigen und Kinder zum Nachdenken anzuregen. Wurden nicht gerade diese Aufgaben des Lehrers im Zuge der Umetikettierung zum Lernbegleiter wegrationalisiert? Und dies vor allem deswegen, weil der Lehrer als Autoritätsperson verschwinden soll? Doch wurde die Autorität nicht ausgelöscht, sondern einfach nur verlagert? Weg von einer greifbaren, realen Person, einem Vorbild, hin zu einem neutralen, versteckten Zwang von Arbeitsblatt und Wochenplan?

Frei und selbstständig sind die Kinder kaum mehr als früher, denn anstatt den Anweisungen der Lehrer zu folgen, folgen sie nun den Anweisungen der Arbeitsblätter, die wertneutral und ohne Vorbildfunktion daherkommen. Unterricht lebt von Anspannung und Entspannung, von Staunen und Üben sowie Anleitung und Selbstständigkeit. Es ist dieses Wechselspiel, das Unterricht spannend und bedeutsam macht. Kann man einfach so ein Element aus dem Gefüge nehmen, ohne dass dem Unterricht eine wichtige Säule genommen wird? Schule sollte jungen Menschen „die Augen für das [öffnen], was sie noch nicht sehen“ (Hans Schmid). Wird die Schule dieser Aufgabe nicht mehr gerecht, dann verliert sie erst recht an Bedeutung für die junge Generation.

Mir hat diese Reflexion gezeigt, dass ich für meine Schüler eine Identifikationsfigur werden möchte, die nachhaltig Sachinteresse, Faszination und Begeisterung wecken kann, aber auch Halt und Orientierung vermittelt. Ich möchte Lehrerin werden – kein Lernbegleiter.

 

Anna Stahl ist 21 Jahre alt und studiert Grundschullehramt in Deutschland. Sie schreibt unter einem Pseudonym. Ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

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