Hans Aebli - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 20 May 2021 04:16:23 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Hans Aebli - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ludwig XIV. oder Ludwig 14? https://condorcet.ch/2021/05/ludwig-xiv-oder-ludwig-14/ https://condorcet.ch/2021/05/ludwig-xiv-oder-ludwig-14/#respond Thu, 20 May 2021 04:16:23 +0000 https://condorcet.ch/?p=8622

Vereinfachen, um besser zu verstehen. Das ist vielerorts die Devise. Auch im Louvre zu Paris. Notwendig oder zeittrendig? Unzeitgemässe Gedanken zum Verstehen-Lehren.

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Carl Bossard: Menschen zu Verstehenden machen.

Unser Viertklasslehrer liebte die Geschichte, und als Freund der Muse Klio bewunderte er die historische Tradition und die Antike. Auch in diese Welt wollte er uns 50 Primarschüler führen – unter anderem über das römische Zahlensystem mit seinen sieben Symbolen. Er erklärte sie uns; wir verstanden das Prinzip und gewannen Einsicht in etwas Fremdes; mit Üben festigten wir das Gelernte. Beim mündlichen Rechentraining liess er uns das Resultat meist in dieser Zahlschrift notieren: 622 als DCXXII. Das bereitete spielerisches Vergnügen – und gespannt warteten wir auf die gemeinsame Lösung. Hatten wir richtig gerechnet? Und konnten wir das Resultat auch korrekt festhalten? Eben in einer anderen Schrift.

Römische Zahlen als Hindernis fürs Verstehen

Musée Carnavalet in Paris: Römische Zahlen als Hindernis?

Wir spürten: Da gibt es eine (Zahlen-)Welt ausserhalb unserer eigenen Zeichen, zusätzlich zur arabischen Zählweise – anders konstruiert, aber mit dem gleichen Ziel: richtig rechnen und notieren. Diese Zeichen verschwinden nun aus dem Musée Carnavalet in Paris und teilweise aus dem Louvre. Römische Zahlen und Ziffern seien „un ostacolo alla comprensione“, ein Hindernis fürs Verständnis, begründet ein Museumsverantwortlicher.[1] Besucherinnen und Besucher verstünden sie schlicht nicht mehr. Gefordert wäre ein Museumsrundgang „senza ostacoli“. Ein „Kannitverstan“ dürfe es in diesem Haus keinesfalls geben. Darum wird aus Louis XIV nun Louis 14.

„la tête bien faite“ – und nicht „bien pleine“

Immer wieder stehen wir vor Verstehensfragen – in der Schule und im Lebensalltag. Zwar können wir heute alles googeln. Aber verstehen wir es auch? Und werden wir zum Verstehen geführt? Systematisch und konsequent? Die Frage stellt sich, wenn fast ein Viertel unserer 15-jährigen Schülerinnen und Schüler den Inhalt eines durchschnittlichen Textes nicht versteht, wie die PISA-Studie 2019 gezeigt hat. Und das nach neun Schuljahren!

Er soll verstehen, was er sagen und tun lernt

Hans Aebli: Unterricht muss befähigen, selbst nachzudenken.

Seit es Schulen gibt, steht die didaktische Prämisse im Raum: Die Schule soll den jungen Menschen denken lehren. Er soll verstehen, was er sagen und tun lernt. So lautete die unerbittliche Devise unseres Berner Hochschullehrers Hans Aebli; er war Schüler und Assistent von Jean Piaget und Kognitionspsychologe. Mehr als einmal hat er uns auf einen lapidaren Satz von Montaigne hingewiesen. Der französische Denker und Essayist meinte 1580 ganz lapidar: Lehrpersonen wie Schülerinnen und Schüler sollen „la tête bien faite“, nicht „bien pleine“ haben, wohlgeformte, nicht vollgefüllte Köpfe. Die Schule als Prozess des Denkens und Verstehens. Sie war Aeblis Kernanliegen.[2] Sein Erziehungsziel: Kinder zu Personen heranreifen lassen. Der Unterricht muss sie darum befähigen, selbständig nachzudenken, etwas Vielschichtiges zu verstehen, Probleme zu lösen, zu argumentieren und sich zu artikulieren.

Für vieles fehlt die Zeit, vor allem fürs Nach-Denken und Üben.

Verstehen lehren als Unterrichtsziel

Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe – heute nicht weniger als früher. Und verwirklicht wird sie nur in der vielfach aufreibenden Praxis des Schulalltags, im pädagogischen Parterre. In jeder Unterrichtsstunde und mit jedem Unterrichtsgegenstand muss dieses Postulat neu realisiert werden. Immer an einem Inhalt. Und es sind deren viele. „Das Ganze ist nicht mehr als die Summe seiner Teile, aber es hat sehr viele Teile.“ Und diese Teile sind vielfältig verknüpft. So lautet ein Befund des Kognitionspsychologen John R. Anderson.[3] Das gilt ganz besonders für die Schule und ihre überlasteten Lehrpläne und überfrachteten Lehrbücher. Für vieles fehlt die Zeit, vor allem fürs Nach-Denken und Üben.

Die Fähigkeit, denken zu können und zu verstehen, Zusammenhänge zu verdeutlichen und Probleme zu lösen, ist von einem Unterricht abhängig, der an einem Gegenstand, an einem Sachgebiet oder einem Phänomen spezifisches Vermögen schult. Das kann auf verschiedene Arten erfolgen. Der unvergessliche Hans Aebli unterschied einen Unterricht als „Antwortorientierung“ und einen als „Denkorientierung“.[4] „Denken: das Ordnen des Tuns“ heisst darum eines seiner Bücher. Unerbittlich fragte er: Geben wir als Lehrerinnen und Lehrer den Schülern im hektischen Alltag überhaupt Zeit und Gelegenheit, den Prozess des Verstehens kennenzulernen, und kommen die Schülerinnen auch zum richtigen Nachdenken? An echten Problemen, an wissens- und objektgebundenen Operationen.

Darüber müsste die Schule immer wieder nachdenken.

Römische Zahlen waren für ihn wichtig.

Erkenntnis lässt sich nur am vertieften Einzelfall bilden

„Die Menschen zu Verstehenden machen!“ Der Satz stammt vom Medienethiker Hermann Boventer. Er ist Auftrag für den Journalisten, er ist Aufgabe für die Lehrerin, er ist Leitmotiv für den Unterrichtsalltag. Es braucht nicht das Zahlensystem der Römer zu sein. Das ist für viele ein unbedeutendes Nebengelände. Grundlegend aber ist die Einsicht: Erkenntnis lässt sich nur am vertieften Einzelfall bilden – in einem sorgsamen Lernvorgang.

Die römischen Zahlen und Ziffern waren für unseren Primarlehrer wichtig. Er wollte sie uns verstehen lehren. Das bedeutete ihm ein echtes Anliegen – so wichtig wie ihm unsere soliden Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen waren – als Teilhabenlassen am Verstehen der Welt. Und dazu gehörte für ihn auch die römische Zahlenwelt.

 

[1] Stefano Montefiori, Luigi XIV diventa Luigi 14, in: Corriere della Sera, 16.03.2021.

[2] Hans Aebli (19769, 1983), Zwölf Grundformen des Lehrens. Stuttgart: Ernst Klett.

[3] Zit. nach: Jürgen Kaube (2019), Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Berlin: Rowohlt, S. 107.

[4] Vgl. Urs Aeschbacher (1986), Unterrichtsziel: Verstehen. Über die psychischen Prozesse beim Denken, Lernen und Verstehen. Stuttgart: Ernst Klett, S. 5.

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Sie hat sich in kurzer Zeit radikal gewandelt, die Schule. Wegleitend waren oft theoretische Postulate und Konzepte. Die Praxis konnte sich nicht wirklich verlässliche Ziele setzen. Im Gegenteil: Sie musste sich vielfach als pädagogische Querdenkerin zeigen. Carl Bossards Zwischenruf zum Schuljahresende lesen Sie im Condorcet-Blog.

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„Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen!“ Unter diesem Titel erzählt der evangelische Theologe Jörg Zink (1922 – 2016) sein Leben. Die Überschrift erinnert an die Geschichte einer thrakischen Magd. Vor ihren Augen stürzt der Philosoph und Astronom Thales in eine Zisterne, als er spät abends, den Blick fest auf die Sterne gerichtet, gedankenverloren durch die Strassen von Milet geht. „Die Geheimnisse des Himmels willst du erforschen und siehst nicht einmal, was vor deinen Füssen liegt!“, spottet die witzige Magd.

Bild: Adobe Stock

Weitblick und Nahblick, Theorie und Praxis

Eine Anekdote vielleicht – mindestens so gut erfunden, dass es spitzer gar nicht ginge. Und seither tönt das schallende Gelächter hörbar fort.[1] Die Geschichte der thrakischen Magd und des ehrwürdigen Philosophen im Brunnenloch kommt Lehrerinnen und Lehrern vielleicht in den Sinn, wenn sie am Ende des Schuljahres auf die vielfältigen Unterrichtsansprüche zurückblicken und das bildungspolitische Geschehen betrachten – und dabei zu spüren bekommen, dass theoretische Höhenflüge meist mehr gelten als solide Gassenarbeit.

 

 

Nicht über das Eigentliche hinwegschlittern

Wie das gehen kann, zeigte Lorenz Pauli, langjähriger Kindergärtner, im Rahmen seiner Diplomrede 2019 an der Pädagogischen Hochschule Zug.[2] Der Schriftsteller und Schausteller, Geschichtenerzähler und Liedermacher erinnerte an Kernsätze, die er während seiner Ausbildung gerne gehört hätte, die er aber nie vernommen hat. Es sind Grundsätze für das Konkret-Operative, Leitsätze für die pädagogische Gasse.

“Wir müssen fördern, indem wir bremsen. Was bei Autoreifen gilt, gilt auch für den Unterricht. Ein Autoreifen hat Profil. Die Vertiefungen verhindern ein Schlittern und ermöglichen einen kürzeren Bremsweg bis zum Halt. In der Schule heisst das: Wir haben ein Profil, wir vertiefen, damit wir nicht über das Eigentliche hinwegschlittern, und das gibt den Kindern Halt.“

Und diese pädagogische Gasse kann man nicht im Schnellzugstempo durchfahren – mit Hektik und Hetze. Das Lernen lässt sich nicht beschleunigen. Schulen sind keine auf Tempo und Effizienz getrimmten Firmen. Sie wären Orte der Ruhe. Der inneren Ruhe, die unsere Kinder dringend brauchen, und der äusseren Ruhe, die das Lernen zwingend braucht. Dazu Lorenz Pauli zu den jungen Lehrerinnen und Lehrern: „Seien Sie einen Tick langsamer! Bremsen Sie. […] Wir müssen fördern, indem wir bremsen. Was bei Autoreifen gilt, gilt auch für den Unterricht. Ein Autoreifen hat Profil. Die Vertiefungen verhindern ein Schlittern und ermöglichen einen kürzeren Bremsweg bis zum Halt. In der Schule heisst das: Wir haben ein Profil, wir vertiefen, damit wir nicht über das Eigentliche hinwegschlittern, und das gibt den Kindern Halt.“

Erkenntnis hat nicht Format A4

Jungen Menschen Halt geben heisst auch, stabile Beziehungen aufbauen. Das erfordert einen ruhigen Raum, eine Atmosphäre, in der die Kinder nicht zu autonomen Selbstlernern hochstilisiert werden und der Unterricht den Apparaten und Arbeitsblättern überlassen wird. Jugendliche müssen sich angenommen und ernstgenommen fühlen und so erfahren, dass sie „somebody, not nobody“ sind, wie es der Philosoph Isaiah Berlin formuliert hat.[3]

Ein solcher Unterricht verläuft alles andere als kanalisiert. Gutes Lehren und Lernen ist ein Geschehen jenseits der Erledigungsmentalität und des zügigen stofflichen Abhandelns mit dem Gehabe: „Das haben wir durchgenommen!“ Kinder sind keine Aktenordner. Paulis Aufruf an die künftigen Pädagogen: „Bäche renaturiert man. Renaturieren Sie den Unterricht! […] Meiden Sie den Kopierapparat! Erkenntnis hat – zumindest auf Stufe Kindergarten und Primarschule – nicht Format A4.“ Sie entsteht aus der reflektierten Begegnung mit der sinnlich-konkreten Wirklichkeit, aus Aha-Erlebnissen. Darum: „Öffnen Sie die Tür! Gehen Sie hinaus!“

Fragen als Stimulans guten Unterrichts

Unterricht ist kein Start-Ziel-Schnelllauf, Erkenntnisgewinn kein konvergent geplanter und linearer Vorgang. Denken geht immer auch nebenhinaus. Das weiss jede gute Lehrerin. Darum der Ratschlag des pädagogischen Praktikers Pauli an die kommenden Kolleginnen und Kollegen: „Bereiten Sie sich sorgfältig vor. […] Tun Sie es nicht zu exzessiv! Eine zu saubere Planung ist der Tod eines lebendigen Unterrichts. Die Inhalte, die von draussen und vom Kind kommen, finden nur dann Eingang in einen Unterricht, wenn dieser nicht schon überquillt vor lauter Planung. Und genau diese Inhalte, die aufgrund von ECHTEN Fragen und echten Anknüpfungen entstehen, sind die wichtigen. Die machen die Kinder kompetent. Denn Kompetenz heisst – zumindest für mich – fähig sein, mit dem Leben umzugehen.“

Und dazu zählt das Fragenstellen. „Nur mit unser aller Grundhaltung im Unterricht, dass Fragen ein Geschenk sind, lassen sich Zusammenhänge begreifen.“ Fragen sind die Vorstube der Erkenntnis. Lorenz Pauli erinnerte damit an den Berner Hochschullehrer Hans Aebli und sein didaktisches Wort: „Une leçon doit être une réponse.“[4]

Scheitern gehört zum Lernen und zum Leben

Unterricht enthält die Sogkraft nach beiden Seiten: Er ist planbar und treibt zugleich ins Unvorhersehbare. „Da gerät man ins Stolpern.“ Lorenz Paulis tröstender Tipp: „[…] das liegt daran, dass der Tag, jeder Tag, nur einmal stattfindet. Wir haben immer nur einen Versuch, ihn zu meistern.“ Pädagogisches Handeln ist eben immer konkret und immer einmalig. Darum kann man scheitern.

Scheitern, das kennen auch die Kinder. Es sei, sagte Pauli, „ein probates Mittel, um vorwärts zu kommen. Seine Erkenntnis aus dem Praxisalltag: „Irgendwann in der Schulkarriere beginnen Kinder, sich für ihre Misserfolge zu schämen. Zögern Sie das möglichst lange hinaus! Scheitern gehört dazu. Aber nicht nur bei den Kindern. Auch bei Ihnen. Die Kinder sollen sehen, dass das Scheitern auch bei Erwachsenen dazugehört. […] Sie leben damit eine Haltung vor, die entlastend wirkt auf das Schulklima.“

Thales von Milet als Vorbild

In der Theorie funktioniere vieles, der pädagogische Alltag relativiere. Die Praxis sei eben zäher als die Theorie – und „näher am konkreten Leben“, so Pauli. Doch beides gehört zusammen.

Wer in der Schule tätig ist, der muss darum nach den Sternen schauen und gleichzeitig achtgeben auf die Gassen – genau wie es die witzige Magd Thales von Milet nahelegte. Doch der griechische Philosoph war nicht nur Denker im Grundsätzlichen, er war auch Pragmatiker im Tatsächlichen. Er durchmass die Höhen des Himmels und war gleichzeitig gewiefter Ökonom. Dieser Thales sollte in allen Pädagogen stecken: die schulischen Zusammenhänge im Blick haben und gleichzeitig den Alltag meistern. Lorenz Paulis Leitgedanken bewahren vor dem Sturz in die Zisterne.

 

Carl Bossard

[1] Hans Blumenberg (1987), Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

[2] Laura Sibold, „Scheitern Sie in Schönheit, scheitern Sie krachend“, in: Zuger Zeitung, 28.06.2019, S. 29; die Diplomrede ist auf der Website der PH Zug abrufbar: www.phzg.ch

(3) Julian Nida-Rümelin, Elif Özmen (Hrsg..) (2013), Welt der Gründe: XXII. Deutscher Kongress für Philosophie. 11.-15. September 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität Münschen. Kolloquienbeiträge. Hamburg: Felix Meiner Verlag GmbH S. 149, Fussnote 41

[4] Hans Aebli (2011), Zwölf Grundformen des Lehrens. 14. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 279.

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