Fortschritt - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Tue, 12 Mar 2024 17:43:35 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Fortschritt - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Eine 147-jährige Ära geht zu Ende https://condorcet.ch/2024/03/eine-147-jaehrige-aera-geht-zu-ende/ https://condorcet.ch/2024/03/eine-147-jaehrige-aera-geht-zu-ende/#respond Tue, 12 Mar 2024 17:43:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=16159

Mit dem Urnenentscheid am 3. März 2024 ist das Ende der Schulgemeinden in Nidwalden besiegelt. Am 31. Dezember ist Schluss. Geschaffen wurden die Schulgemeinden 1877 – im Zuge des eidgenössischen Schulobligatoriums von 1874. Ein schulgeschichtlicher Rückblick auf die aufreibende Anfangszeit der Schulgemeinden.

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Bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein haben es Schule und Unterricht schwer: Einen regelmässigen Schulbesuch gibt es nicht. In einer bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft besitzt Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger.

Condorcet-Autor Carl Bossard

Die Bevölkerung ist arm, das Leben vieler kärglich, der Unterricht darum schmal. Man braucht die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik von 1800 postuliert und der liberale Bundesstaat von 1848 vorsieht, ist darum schwierig zu konkretisieren. Auch im Kanton Nidwalden.

Schulgemeinde als Antwort auf Schulpflicht 

Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen. Die neue Bundesverfassung verordnet die allgemeine Schulpflicht. Der Primarunterricht wird für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Die revidierte Bundesverfassung führt drei Jahre später, 1877, zur neuen Nidwaldner Kantonsverfassung. Sie schafft eine kommunale Schulgemeinde als autonome Körperschaft.

“Ringelreihen” beim Landsgemeindeplatz: “Schulspaziergang” nach Wil/Oberdorf um 1900. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden)

Die neue Schulbehörde findet ein weites Feld vor. Sie ist gefordert. Zwar gibt es seit 1829 einen kantonalen Schulrat und das Schulinspektorat. Doch der Weg zu einer fundierten Bildung ist steil und steinig. Vieles liegt brach, manches im Argen. An den meisten Orten gibt es nur eine Winterschule, und zwar von Anfang November bis Ende April. Es fehlt an gut ausgebildeten Lehrpersonen, es fehlt an Raum, es fehlt an Lehrmitteln. Es fehlt an fast allem. Bildung muss mühsam aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreit und zeitgerecht institutionalisiert werden.

Das Schulhaus als stolzes Fortschrittszeichen

Doch es geht vorwärts. Der kantonale Schulrat und die neuen Schulgemeinden packen an, zuerst und allem voran mit neuen Schulhäusern. Der Bildungsaufbruch im jungen Bundesstaat ruft nach zusätzlichem Raum. Die baulichen Verhältnisse sind prekär. Der Unterricht findet nicht selten in der stickigen Enge einer Schulstube statt, manchmal in einer muffig-maroden Kammer. Jede Gemeinde baut nach und nach ihr eigenes Schulhaus.

Das Knabenschulhaus Stans, eingeweiht 1879, undatiert. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden – Fotosammlung Stans)

1879 zum Beispiel weiht die Schulgemeinde Stans das neue Knabenschulhaus auf der Tellenmatt ein – mit Pomp und Pathos, mit Weihwasser und Weihrauch, mit Lob und Lied. Der festlich-feierliche Akt vereint das kommunale und kirchliche Element. Der Bau sei ein Werk, das “der Gemeinde zur Ehre, der lieben Jugend zum Wohl und Heil gereicht […] für Zeit und Ewigkeit”, meint der Stanser Dorfpfarrer und Schulpräsident in seiner Rede. Jedes Schulzimmer bietet zwischen 64 und 72 Kindern Platz. Gross ist die Zuversicht und hoch sind die Erwartung, die Kirche und Behörde auf die Schule projizieren: “Gebt mir eine wahrhaft gute Schule, und ich verspreche Euch eine glückliche Gemeinde!” Das Schulhaus wird überall zum stolzen Fortschrittszeichen.

Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch.

 

Ähnlich klingt es bei der Einweihung vieler Gemeindeschulhäuser. In allen Nidwaldner Gemeinden wird das Schulhaus nach 1850 neben der Kirche zum zweiten Wahrzeichen. Entsprechend stolz präsentiert Nidwalden an der Schweizer Landesausstellung von 1914 seine Schulhäuser im Bild. Die Fotocollage sämtlicher 24 öffentlicher und privater Schulen hat der kantonale Schulrat speziell anfertigen lassen.

Die 24 Nidwaldner Schulhäuser als Zeichen des Fortschritts und Aufbruchs in eine neue Zeit – auf einer Collage für die Landesausstellung 1914 in Bern. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden)

 

 Zur Bildung steigt man empor 

Wer ein Auge für Schweizer Schulhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhunderts hat, staunt über die architektonische Pracht dieser Gebäude. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie signalisieren Aufbruch und Fortschritt. Erinnert sei an das Kniri-Schulhaus in Stans oder an das majestätische Schulgebäude von Beckenried – eine Art Bildungstempel. Er signalisiert die neue Epoche und den Aufbruch in eine bessere Zeit: Bei manchen Bauten führt eine breite Treppe nach oben; die Kinder durchschreiten für den Unterricht die markante Eingangstüre. Sie steigen zur Bildung empor. Symbol und Auftrag zugleich.

Lernen für die Rekrutenprüfung 

Der bildungspolitische Fortschritt muss erkämpft werden. 1879 wird die Ganzjahresschule mit 42 Schulwochen eingeführt. Gemäss neuem Schuldekret sind “widersetzliche Kinder polizeilich in die Schule” zu führen. Das Gesetz erklärt sechs Primarschuljahre als Obligatorium, ebenso die Arbeitsschule für Mädchen. Die Sekundarschule bleibt fakultativ. Der Unterricht ist unentgeltlich, nicht aber das Schulmaterial.

Das Kniri-Schulhaus in Stans etwa im Jahr 1900, eingeweiht 1898 als Mädchenschule. (Bild: zvg/Staatsarchiv Nidwalden – Fotosammlung Franz Kaiser)

Verpflichtend ist auch die Wiederholungsschule für Knaben. Viel Arbeit für die einzelnen Schulgemeinden! Die Wiederholungsschule verschreibt sich vor allem dem Kampf gegen das Verlernen des Primarschulstoffes. Während zweier Jahre müssen die schulentlassenen Knaben, vorzugsweise im Winter, jeweils mindestens 96 Schulstunden besuchen. Der Grund dafür liegt in der Einführung der eidgenössischen Rekrutenprüfungen im Jahr 1875; die Resultate werden veröffentlicht. Kein Kanton will sich auf den hintersten Rängen wiederfinden. Darum veranstaltet der Kanton Nidwalden vor den offiziellen Prüfungen jeweils obligatorische Vorprüfungen. Schwänzer werden “strenge bestraft” und die ungenügend Gebildeten für Nachschulungen aufgeboten.

Die Schule ist früh weiblich 

Noch mangelt es an geeigneten Lehrerinnen und Lehrern. Wie ein Geschenk des Himmels erscheinen nach 1851 die ersten Lehrschwestern aus dem Kloster Menzingen, später von Ingenbohl und Baldegg. Keine Schulgemeinde kommt ohne sie aus. Die Ordensfrauen sind gut ausgebildet, einzig für die Schule da, katholisch und anspruchslos. Zudem arbeiten sie fast für Gotteslohn und kommen die armen Schulgemeinden billiger zu stehen als die weltlichen Lehrerinnen, die das Stanser Kapuzinerinnenkloster St. Klara ausbildet. Das entlastet das kärgliche Gemeindebudget und verbessert die Schulqualität, wie die Inspektoren erfreut feststellen. Die Lehrschwestern aus den drei Klöstern spielen im Nidwaldner Schulwesen während 150 Jahren eine wichtige Rolle.

Die Lehrschwestern tragen entscheidend dazu bei, den Bildungsnotstand der Zeit zu beheben.

 

Das wissen die Bildungsverantwortlichen. Die Lehrschwestern tragen entscheidend dazu bei, den Bildungsnotstand der Zeit zu beheben. Dank dieser pädagogischen Alltagsarbeit verfügt auch Nidwalden über eine zeitgemässe Ausbildung. Sie hält dem Vergleich mit den Schulsystemen aus protestantischem und liberalem Geist durchaus stand. Ja, “katholische Kantone [erzielen] dank ihren Lehrschwestern [in den eidgenössischen Rekrutenprüfungen] teilweise wesentlich bessere Ränge”, müssen liberal-radikale Bildungspolitiker wie beispielsweise der damalige Aargauer Regierungs- und Ständerat Augustin Keller um 1875 ernüchtert feststellen. Ein Kompliment von unerwarteter Seite! Es ist hart erkämpft. Mut und Weitsicht sind wegweisend.

Die politischen Schulgemeinden tragen viel zum Fortschritt bei. Nun sind sie Geschichte.

 

 Drei Vaterunser gegen das Schulschwänzen

Das wichtige Gut der Schulpflicht ist heute selbstverständlich. Das war nicht immer so. Im Gegenteil! Der obligatorische Unterrichtsbesuch für alle musste im 19. Jahrhundert hart erkämpft werden. Gegen den Willen mancher Eltern und über Jahrzehnte hinweg. Dabei stützten sich die staatlichen Behörden auch auf Polizei und Kirche. Mit ihrer Hilfe erzwangen sie den Gang in die Schulstube. Das zeigen Protokolle des Nidwaldner Polizeigerichts von 1850 bis 1877.

Die Akten legen beredtes Zeugnis über Väter und Mütter ab, die “wegen ihrer pflichtvergessenen Nachlässigkeit hinsichtlich schuldiger Schulbildung” ihrer Kinder bestraft wurden. Viele Eltern schickten ihre Söhne und Töchter “höchst unfleissig in die Schule”, heisst es in den Akten. “Eines kömt heut, das andere morgen.” In Oberdorf besuchten 1854 nur die Hälfte der Knaben den Unterricht. Man brauchte die Kinder für die Mithilfe auf Feld und Hof. Sie waren Arbeitspotenzial. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik (1798–1803) postulierte und der liberale Bundesstaat in der Verfassung von 1874 für alle anordnete, war darum schwierig zu konkretisieren. So ist es verständlich, dass es Schüler gab, die “ohne Entschuldigung die Schule bis 100 Male versäumten”.

Eltern solcher Kinder werden vor den örtlichen Pfarrer geladen oder zu Geldstrafen verurteilt; sie müssen bei den Behörden Abbitte leisten oder “unter polizeilicher Aufsicht zwei Monate mit ihren Kindern die Christenlehre besuchen. “Selbst Gebete werden Fehlbaren als Busse aufgetragen, beispielsweise drei Vaterunser. Gesetzliche Vorschriften stehen auf der einen, materielle Not und Unverständnis auf der anderen Seite. Bildung und Schule haben es lange schwer. Die neuen Schulgemeinden sind gefordert.

 

* Der Autor Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden, des «Kollegi» in Stans, und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Er beschäftigt sich ausserdem mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

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Der Angst vor dem Fertigen mit permanentem Umbau steht der Mut zu pädagogischen Konstanten gegenüber. Bildung oszilliert zwischen diesen beiden Polen. Ein Zwischenruf von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Kein Entweder-Oder.

„Das haben wir immer so gemacht! Und es hat sich bewährt; das wissen wir. Was wollen wir ändern?“ Sätze wie diese kennt man – und ihre Absender auch. Es sind die ewig Gestrigen – resistent gegen Wandel, immun gegen Kritik. Sie wissen, was richtig ist und wie’s geht. Und zwar ganz genau! Ihre Standardfloskeln gehören ins Repertoire der drei Todesgefahren: „sicher sein, fertig sein, wissen“. Formuliert und ins Logbuch dieser Ewiggestrigen geschrieben hat sie der grosse Germanist, politische Denker und ETH-Rektor Karl Schmid (1907 – 1974).[i]

Die Sprache spiegelt den radikalen Wandel

Doch „es gibt nicht nur die ewig Gestrigen, es gibt auch die ewig Morgigen“, bemerkte der Dresdner Dichter Erich Kästner spitzzüngig. Damit nahm er wohl jene Kräfte aufs Korn, die das Neue unkritisch verherrlichen und das Alte, das Bewährte, mitleidig belächeln, es gar auf den „Müllhaufen der Geschichte“ wünschen, um Leo Trotzkis berühmtes Revolutionswort von 1917 zu zitieren. Auch sie stört kein Zweifel. Sie sind ihrer Sache sicher.

Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Innovation und Implementation von Neuem.

Resolute Modernisierer und forsche Veränderer kennt auch die Schule. Das Neue wurde zum Magnet ihres bildungspolitischen Denkens. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Innovation und Implementation von Neuem. Die Sprache spiegelt den radikalen Wandel: Aus Lehrern wurden „Lernbegleiter“ und „Coachs“, aus Schülerinnen und Schülern „Lernpartner“, aus Erziehungswissenschaftlern empirische Bildungsforscher. Aus dem traditionellen Begriffspaar „Wissen und Können“ wurde Kompetenz, aus gemeinsamem Unterricht autonomes und selbstorientiertes Lernen. Pädagogisches Erfahrungswissen wich einer permanenten Evaluation, Gespräche mit Eltern mutierten zum Durchchecken mehrseitiger Kompetenzenraster, aus Bildung wurden messbare Tests.

Aus dem traditionellen Begriffspaar „Wissen und Können“ wurde Kompetenz, aus gemeinsamem Unterricht autonomes und selbstorientiertes Lernen. Pädagogisches Erfahrungswissen wich einer permanenten Evaluation, Gespräche mit Eltern mutierten zum Durchchecken mehrseitiger Kompetenzenraster, aus Bildung wurden messbare Tests.

 

Ohne Fortschritt verödet Tradition

Niemand will einen Aschehaufen hüten.

Stillstand bedeutet Rückschritt. Da sind sich alle einig. Die Wege enden bekanntlich dort, wo ich stehen bleibe. Und alte Pfade öffnen keine neuen Türen. Das will niemand. Das Leben besteht aus Fortschreiten. Schritt für Schritt, Tritt für Tritt – Fortschritt aus dem Bestehenden und meist auch Bewährten heraus. Der Weg in die Zukunft wird so zu einer Resultante aus den Kräften der Tradition und der Innovation. Ohne Fortschritt verödet Tradition. Und niemand möchte einen Aschehaufen hüten. Wo die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Innovation und Tradition durchgetragen wird, da reift die Spannkraft für das Mögliche; da entsteht Fortschritt.

Innovationsrhetorik

Rasante Zivilisationsdynamik

Doch der Fortschritt ist über die rasante Zivilisationsdynamik der vergangenen Jahre in eine bisher nie gekannte exponentielle Beschleunigung geraten – entstanden ist eine Art „Gegenwartsschrumpfung“. Und eine geschrumpfte Gegenwart lässt keine Zeit für eingehende Reflexion. So sieht es der Philosoph Hermann Lübbe.[ii] Die Fortschrittsidee wurde ersetzt durch die Innovationsrhetorik.[iii] Das generierte in den Schulen eine dichte, in gewissen Phasen gar chaotische und unkoordinierte Reformkaskade; die schnelle Abfolge mit immer neuen Projekten führte zu Hektik und Atemnot.

„Kennen Ihre Kaiserliche Hoheit denn das Alte schon?“

Es geht nicht um das Ausspielen von alt und neu, es geht nicht um eine Entweder-Oder-Mentalität. Ein solches Polaritätsdenken verkennt, dass Schulen sich stets erneuert und immer auch pädagogische Impulse von reformorientierten Institutionen aufgenommen haben – als „schola semper reformanda“.

Alt und neu stehen sich als dialektische Gegenkräfte gegenüber, und gleichzeitig bedingen sie sich. Das eine geht nicht ohne das andere. Das meinte wohl der verantwortliche Leiter der Bonner Sternwarte, als ihn der deutsche Kaiser Wilhelm I. bei einem Besuch fragte: „Na, Herr Direktor, was gibt’s denn Neues am Sternenhimmel?“ Worauf der angesprochene Astronom bescheiden meinte: „Kennen Ihre Kaiserliche Hoheit denn das Alte schon?“[iv]

Alterungsresistente Bildungsgehalte vermitteln

Auch die Schule kennt dieses Alte; sie basiert auf diesem Alten. Es sind die klassischen Lehrinhalte, die Grundfähigkeiten, die fürs spätere Leben unverzichtbar sind. Die Schule ist in ihrer alten Aufgabe, zur Lernfähigkeit und damit zur einer klugen lebensweltlichen Orientierungsfähigkeit hinzuführen, so wichtig wie nie zuvor. Darum müssten sich Lehrpläne auf diejenigen Gehalte und formalen Grundfähigkeiten konzentrieren, über die man dauerhaft lernfähig bleibt – und nicht auf Aktualitäten und einen Haufen Dringlichkeiten: Es sind Bildungsgehalte ohne Verfallsdatum.

Sprachfähigkeit ist nicht eine, sondern die Schlüsselkompetenz schlechthin.

In einer kommunikativ verdichteten Dienstleistungsgesellschaft braucht es ein gut entwickeltes muttersprachliches Können in Wort und Schrift. Die internationale PISA-Studie der OECD hat hier klare Daten geliefert: Die Lesefähigkeiten von fast zwanzig Prozent der Schweizer Jugendlichen am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit sind unzureichend. Das erschreckt. Und dabei bestätigen die Biowissenschaften fast täglich neu: Sprachfähigkeit ist nicht eine, sondern die Schlüsselkompetenz schlechthin.

Das Wissen um die eigene Geschichte ist unverzichtbares Bildungselement

Bedeutsam sind elementare mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten.

Bedeutsam sind elementare mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten sowie als zwingende Bedingung die fremdsprachliche Qualifikation. Wichtiges Bildungselement ist auch das Wissen um die eigene Geschichte und damit die Fähigkeit, Herkunft und Zukunft miteinander zu verbinden. In unserer modernen Zivilisation brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind, und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Eine solche Haltung macht kooperations- und zukunftsfähig.

Ohne Bildungselemente, die nicht veralten, geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde.

Eine beschleunigte Gesellschaft braucht Bildung

Noch nie war eine Bildung, die über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausgeht, so unentbehrlich wie heute. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nicht nur als offene (Karl Popper), sondern auch als beschleunigte versteht. Zu ihrem Credo gehören permanente Innovation, grenzenlose Mobilität und hektische Flexibilität – auch wenn die Corona-Krise einen Notstopp nahelegte; der Zwang zum „Change“ als Dogma wird wohl bleiben. Ohne Bildungselemente, die nicht veralten, geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde, mahnt der deutsche Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass.[v]

Es gibt eben nicht nur die Angst vor dem Fertigen (Pablo Picasso) und damit den notwendigen Wandel, es braucht auch pädagogische Konstanten. Gerade sie profilieren das Neue. Denn wenn alles neu ist, wird auch alles gleich-gültig. Das scheinen die ewig Morgigen zu vergessen. Notwendig ist das, was Goethe „das alte Wahre“ nennt und was immer gilt. Gerade im Sog der heutigen Zivilisationsdynamik. Denn „die technologischen Fortschritte lassen uns gar keine Wahl, als dass wir uns wieder drauf fokussieren, was uns zu Menschen macht.“[vi]

[i] Karl Schmid (1998), Gesammelte Werke. Bd. VI 1970-1974. Standortmeldungen. Thomas Sprecher, Judith Niederberger (Hg.). Zürich: Verlag NZZ, S. 305.

[ii] Hermann Lübbe (1998), Gegenwartsschrumpfung, in: Klaus Backhaus & Holger Bonus (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 129ff.

[iii] Roland Reichenbach (2018), Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik. Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 82.

[iv] In: Gelzer Heinrich (1900), Jacob Burckhardt als Mensch und Lehrer, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte Bd. VIII, S. 31f.

[v] Jürgen Mittelstrass (2004), Bildung, Wissenschaft und Humanität – vom Auftrag einer Pädagogischen Hochschule. Vortrag an der PH Zug. Msc. S. 3; vgl. ders. (1997), Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 45f.

[vi] Manu Kapur (2019), Lehren und Technologie: Neue Sicht- und Handlungsweisen, in: NZZ-Verlagsbeilage, 31.10.2019, S. 8.

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