Fallstudie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 23 Jul 2020 12:41:04 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Fallstudie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Covid-19 und die Unterrichtsforschung, 4. Teil https://condorcet.ch/2020/07/covid-19-und-die-unterrichtsforschung-4-teil/ https://condorcet.ch/2020/07/covid-19-und-die-unterrichtsforschung-4-teil/#comments Thu, 23 Jul 2020 10:46:13 +0000 https://condorcet.ch/?p=5834

4. und letzter Teil von Walter Herzogs Serie über Möglichkeiten und Grenzen der Unterrichtsforschung. Hier geht es im Schwerpunkt um die Fallstudie versus empirische Gruppenforschung. Das Fazit seiner Ausführungen liefert Walter Herzog am Schluss seines Beitrags.

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Professor Walter Herzog: Praktischer Nutzen von Unterrichtsforschung ist beschränkt.

Dank der Corona-Krise gewinnt der Wissenschaftsjournalismus, der in den letzten Jahren an Einfluss verloren hat, wieder an Bedeutung. Die Erwartung, Wissenschaft und Forschung könnten unsere Wissensdefizite hinsichtlich des neuen Virus beheben sowie wirksame Massnahmen zu dessen Bekämpfung bereitstellen, ist gross. Dabei decken uns die Medien nicht nur mit Fakten ein, sondern geben uns auch die seltene Gelegenheit, gleichsam in Echtzeit zu beobachten, wie eine moderne Forschungswissenschaft funktioniert.

Was wir dabei erfahren, ist aber nicht auf die Disziplinen beschränkt, die sich – wie Virologie und Epidemiologie – direkt mit dem Virus befassen, sondern lässt sich auf weitere Fachgebiete übertragen. So auch auf die Unterrichtsforschung, die im Fokus einer Serie von vier Beiträgen steht, in denen ich der Frage nachgehe, wie diese pädagogische Kerndisziplin arbeitet und wie deren Leistungen zu beurteilen sind. Nachdem wir uns im zweiten und dritten Teil mit dem Experiment und der Statistik auseinandergesetzt haben, steht im abschliessenden vierten Teil die Fallstudie als methodisches Paradigma der Unterrichtsforschung zur Diskussion. Zudem werde ich versuchen, die drei Paradigmen einer Gesamtbeurteilung zu unterziehen.

Idealtypische Darstellung

Nicht mehr das Individuum, sondern Gruppen.

Wie im ersten Teil angemerkt, hat meine Darstellung idealtypischen Charakter. Das heisst unter anderem, dass die einander kontrastierend gegenübergestellten Paradigmen des Experiments und der Statistik in der Forschungsrealität selten in Reinform vorkommen. Einerseits war die experimentelle Psychologie, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts begründet wurde, anfänglich zwar eine Individualwissenschaft, die ihre Versuchspersonen einzeln untersuchte. Aber bereits Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hatte die Statistik so weit in die Planung und Auswertung experimenteller Studien Eingang gefunden, dass seitdem nicht mehr das Individuum psychologische Aussageeinheit ist, sondern Gruppen, namentlich Experimental- und Kontrollgruppen. Die im 2. Teil referierte Kritik am psychologischen Experiment nimmt auf diese Entwicklung Bezug.

Andererseits hat sich die an der Statistik orientierte empirische Sozialforschung, wie sie nach ersten Ansätzen im 19. Jahrhundert zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, von Anfang an Qualitätskriterien unterworfen, die von der Logik des Experiments abgeleitet sind. Erlaubt das Experiment, ein Phänomen unter hinreichend kontrollierten und möglichst replizierbaren Bedingungen systematisch zu untersuchen, nimmt die empirische Sozialforschung für sich in Anspruch, ihren Gegenstand zielorientiert zu analysieren, indem Störfaktoren neutralisiert und nicht-interessierende Variablen konstant gehalten werden. In beiden Fällen geht es darum, die Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit) der Ergebnisse durch Standardisierung des Forschungsdesigns und der Forschungsmethoden optimal abzusichern, sei es vorweg im Rahmen der Untersuchungsplanung, sei es im nachhinein bei der Datenanalyse.

Qualitative Forschung als Alternative?

Reliabilität und Validität sind auch für die Beurteilung des dritten Paradigmas der Unterrichtsforschung relevant, obwohl Fallstudien gerne zugeschrieben wird, eine Alternative zur experimentell und statistisch orientierten Forschung zu sein. Dies mit der Begründung, qualitative Methoden, die in Fallstudien überwiegen, würden dem Forschungsgegenstand Unterricht eher gerecht werden als quantitative, die in der Unterrichtsforschung ansonsten vorherrschen. So meint Uwe Flick (1995), der qualitativen Forschung lasse sich als wesentliches Merkmal der «Primat des Gegenstandes über die Methode» (S. 289) zuweisen.

Nicht selten durchherrscht die qualitative Unterrichtsforschung ein eigentliches Pathos der Gegenstandsnähe, das mit dem Bekenntnis zu einer realistischen Erkenntnistheorie untermauert wird. In jüngster Zeit macht sich aber auch unter qualitativ Forschenden Zweifel breit, ob es tatsächlich so etwas wie eine unbefleckte Erkenntnis sozialer Wirklichkeit gibt. Genauso wenig wie quantitative Forscherinnen und Forscher in der Lage sind, ihre Erkenntnisse im wörtlichen Sinn mit der Wirklichkeit zu vergleichen, vermögen sich ihre qualitativ arbeitenden Peers ausserhalb der Welt zu platzieren, um die Dokumente, die sie über ihren Gegenstand anfertigen, mit diesem zu vergleichen. Dass es eine aussersubjektive Welt gibt, lässt sich kaum bestreiten, aber festzustellen, wie sie beschaffen ist, ist alles andere als trivial.

Fallstudien

Insofern legen die Begriffe ‹quantitativ› und ‹qualitativ› eine falsche Fährte, denn die Alternative, welche die qualitative Forschung bietet, liegt nicht in der Gegenstandsnähe, sondern im Bezug auf den Einzelfall. Wie Flick (1995) aufzeigt, ist eines der kennzeichnenden Merkmale der verschiedenen Ansätze, die in der qualitativen Forschung vorherrschen, «dass mehr oder minder konsequent am Einzelfall angesetzt wird, bevor zu … allgemeinen Aussagen übergegangen wird» (S. 40). Indem sie das Forschungsobjekt ganzheitlich erfassen, vermögen Fallstudien Zusammenhänge aufzudecken, die experimentellen und statistischen Untersuchungen leicht entgehen.

Weil die hohe Intensität der Analyse mit einer geringen Reichweite der Ergebnisse erkauft wird, kommen Fallstudien dem Anekdotischen oft nahe.

Fallstudien stellen nicht wirklich eine Alternative dar.

Damit stellen Fallstudien aber nicht wirklich eine Alternative dar, sondern bilden eine notwendige Ergänzung zur experimentell und statistisch verfahrenden Unterrichtsforschung. Eine Alternative können sie auch deshalb nicht sein, weil eine Schwäche von Fallstudien ihre unklare Repräsentativität ist. Je mehr wir bei einem Untersuchungsergebnis sagen müssen «es kommt darauf an», desto geringer ist dessen Allgemeingültigkeit. Bei Fallstudien kommt es jedoch sehr darauf an, was bzw. wen wir untersucht haben, weil sich dem Einzelfall nicht entnehmen lässt, wie repräsentativ er für die Grundgesamtheit ist, für die er steht.

Weil die hohe Intensität der Analyse mit einer geringen Reichweite der Ergebnisse erkauft wird, kommen Fallstudien dem Anekdotischen oft nahe. Auch die Untersuchung mehrerer Einzelfälle ergibt noch keine Wissenschaft, denn wissenschaftlich interessant sind nicht partikulare, sondern allgemeine Aussagen. Zwar gibt es Versuche, das Problem der Repräsentativität von Fallstudien zu lösen, zu überzeugen vermögen sie aber nur bedingt.

Theorien, die allgemein und einfach sind, sind in der Regel ungenau, Theorien, die einfach und genau sind, sind zumeist partikulär, und Theorien, die genau und allgemein sind, sind nicht einfach.

Ein methodisches Trilemma

Wenn wir an dieser Stelle innehalten und auf unsere Diskussion von Experiment, Statistik und Fallstudie zurückblicken, dann müssen wir feststellen, dass keines der drei Forschungsparadigmen in der Lage ist, für sich allein ein umfassendes Bild des Unterrichts zu zeichnen. Das hat Konsequenzen für die Theorien des Unterrichts, die aus der Unterrichtsforschung hervorgehen. Deren praktischer Nutzen ist offensichtlich beschränkt.

Thorngate: Nicht in der Lage, gesicherte Kenntnisse zu entwickeln.

Das liegt nicht nur an den Schwächen der methodischen Paradigmen, sondern hat auch systematische Gründe. In einer schlüssigen Analyse hat der Sozialpsychologe Warren Thorngate (1976) aufgezeigt, dass eine Theorie sozialen Verhaltens nicht zugleich allgemein (general), einfach (simple) und genau (accurate) sein kann. Möglich ist immer nur die Realisierung von zwei der drei Kriterien. Theorien, die allgemein und einfach sind, sind in der Regel ungenau, Theorien, die einfach und genau sind, sind zumeist partikulär, und Theorien, die genau und allgemein sind, sind nicht einfach. Aus diesem Trilemma scheint es keinen Ausweg zu geben.

Der Organisationspsychologe Karl Weick (2007), der sich Thorngates Argumentation anschliesst, spricht vom Postulat der angemessenen Komplexität und bringt damit zum Ausdruck, dass die drei Unvereinbarkeiten insbesondere bei der Untersuchung von komplexen Phänomenen auftreten. Da es die Unterrichtsforschung anerkanntermassen mit einem komplexen Gegenstand zu tun hat, ist sie gezwungen, diesen zu vereinfachen, um die Methoden des Experiments und der Statistik anzuwenden. Dies tut sie, indem sie Komplexität als Kompliziertheit und organisierte Komplexität als unorganisierte Komplexität deutet. Sie mag damit zu einfachen und allgemeinen Theorien finden, jedoch sind diese nicht genau, weil sie der (organisierten) Komplexität pädagogischer Wirklichkeit nicht gerecht werden. Mittels Fallstudien lässt sich ein Stück Genauigkeit zurückgewinnen, jedoch geht dies auf Kosten der Einfachheit oder Allgemeingültigkeit der Erkenntnisse.

Grenzen der Unterrichtsforschung

Thorngates Postulat zeigt auch, weshalb eine einzelne Studie nicht in der Lage ist, abschliessende Erkenntnisse zu liefern. Wenn Untersuchungen sozialen Verhaltens Ergebnisse liefern, die nicht zugleich allgemein, einfach und genau sein können, dann bedarf es unweigerlich einer Mehrzahl von Studien, um ein verlässliches Bild von einem Forschungsgegenstand zu gewinnen. Erst wenn mehrere Studien mit unterschiedlichem Design und unterschiedlichen Methoden zu vergleichbaren Resultaten führen, können wir annehmen, ein Stück belastbares Wissen über Schule und Unterricht gewonnen zu haben. Aber selbst dann sind wir weit davon entfernt, über «wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse» zu verfügen. Wie jede Forschung ist auch die Unterrichtsforschung ein Suchen nach Mustern in einer Welt, die so reich an Details ist, dass wir nie in der Lage sein werden, sie endgültig zu erfassen.

Wie jede Forschung ist auch die Unterrichtsforschung ein Suchen nach Mustern in einer Welt, die so reich an Details ist, dass wir nie in der Lage sein werden, sie endgültig zu erfassen.

Dabei lässt sich ziemlich genau angeben, wo die Ursachen für die methodischen Probleme der Unterrichtsforschung liegen. Sie liegen in der Zeitgestalt des Unterrichts. In sozialen Systemen, wie der Unterricht eines darstellt, sind Strukturen nicht unabhängig von den Prozessen, die zu den Strukturen führen und diese aufrechterhalten. Da man in einem sozialen System zudem nicht zu jeder Zeit mit allen Mitgliedern des Systems Kontakt haben kann, verändert sich dessen relationale Struktur über die Zeit. Bei Luhmann (1993) steht dafür der Begriff der Temporalisierung von Komplexität, womit gemeint ist, dass Komplexität in sozialen Systemen im Nacheinander realisiert wird. Die Ordnung im Sozialsystem Unterricht kann daher nicht statisch, sondern muss dynamisch gedacht werden.

Die Ordnung im Sozialsystem Unterricht kann daher nicht statisch, sondern muss dynamisch gedacht werden.

Erweist sich die Komplexität des Sozialsystems Unterrichts als zeitliches Phänomen, so reicht ein analytischer Zugang, der die Elemente der Strukturen und deren Relationen aufdeckt, ohne die Wechselwirkungen und interaktionale Dynamik des Systems zu beachten, nicht aus, um zu erkennen, wie das System funktioniert. Vielmehr müsste die Forschung in der Lage sein, den Unterricht in seinem Verlauf aufzudecken, was die Unterrichtsforschung aufgrund der Beschränktheit ihrer methodischen Paradigmen derzeit aber nicht leisten kann. Deshalb müssen wir uns mit dem bescheiden, was die Forschungsparadigmen aktuell hergeben. Dies ist keineswegs wenig, auch wenn wir verständlicherweise gerne mehr hätten.

Von Corona lernen

Wissenschaft und Forschung ist nicht in der Lage, die Leistungen zu erbringen, die von ihnen gemeinhin erwartet werden.

Was also können wir aus der Corona-Krise lernen? Wir können lernen, dass Wissenschaft und Forschung nicht nur anspruchsvoller sind als zumeist angenommen wird. Sie sind auch nicht in der Lage, die Leistungen zu erbringen, die von ihnen gemeinhin erwartet werden. Letzteres gilt zumindest für die Unterrichtsforschung, die nicht nur einen Gegenstand hat, der vermutlich komplexer ist als das Corona-Virus, sondern auch auf Methoden angewiesen ist, deren Anwendung voraussetzt, dass die Komplexität des Gegenstandes reduziert wird. Für die Bildungspolitik und die Bildungspraxis ergeben sich daraus unterschiedliche Konsequenzen.

Im Lichte der von Thorngate postulierten Unvereinbarkeiten wünscht sich die Bildungspolitik einfache und allgemeine Erkenntnisse, die sich in Massnahmen umsetzen lassen, die aufgrund ihrer Verlässlichkeit als alternativlos erscheinen. Solche Erkenntnisse gibt es aber nur, wenn auf Genauigkeit verzichtet wird, was nichts anderes heisst, als dass die Massnahmen so eindeutig und verlässlich nicht sein können wie von der Politik gewünscht.

Zum Opfer gebracht muss damit der Anspruch auf Allgemeinheit, was es verunmöglicht, Empfehlungen auszusprechen, die uneingeschränkt gültig sind.

Anders als in der Bildungspolitik sind in der Bildungspraxis Erkenntnisse gefragt, die nicht einfach und allgemein, sondern einfach und genau sind, denn ohne Wissen um die Besonderheiten der Situation, in der die Erkenntnisse angewendet werden sollen, lässt sich das Handeln in dieser Situation nicht anleiten. Zum Opfer gebracht muss damit der Anspruch auf Allgemeinheit, was es verunmöglicht, Empfehlungen auszusprechen, die uneingeschränkt gültig sind. Liegt der Preis, den die Bildungspolitik für die Erkenntnisse der Unterrichtsforschung zahlen muss, in deren Ungenauigkeit, muss die Bildungspraxis deren Partikularität in Kauf nehmen.

Kein Wunder, dass sich Bildungspolitik und Bildungspraxis in jüngster Zeit wie fremde Schwestern gegenüberstehen. Denn was die einen wollen (einfache und allgemeine Erkenntnisse), trifft sich nicht mit dem, was die anderen wollen (einfache und genaue Erkenntnisse). Bildungspolitik und Bildungspraxis werden wohl erst dann wieder zueinanderfinden, wenn die falschen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Unterrichtsforschung einer realistischen Einschätzung ihrer Leistungsmöglichkeiten weichen. Dank des Einblicks, den das Corona-Virus in das Funktionieren einer modernen Forschungswissenschaft bietet, liegt der Zeitpunkt, zu dem dies geschehen wird, vielleicht gar nicht mehr in allzu weiter Ferne.

Literaturverzeichnis

Flick, Uwe (1995). Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek: Rowohlt.

Luhmann, Niklas (1993). Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1 (S. 235-300). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Thorngate, Warren (1976). Possible Limits on a Science of Social Behavior. In: Lloyd H. Strickland, Frances E. Aboud & Kenneth J. Gergen (Eds.): Social Psychology in Transition (pp. 121-139). New York: Plenum Press.

Weick, Karl E. (1995). Der Prozess des Organisierens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

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Im 2. Teil seiner Artikelreihe über die Forschungswissenschaft setzt sich Condorcet-Autor Professor Walter Herzog vertieft mit dem ersten von drei Forschungsparadigmen auseinander: dem Experiment.

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Emer. Prof. Dr. Walter Herzog: Kein Garant für Wahrheit

Die Corona-Pandemie zeigt uns nicht nur, wie sehr wir in unserem Alltag auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen sind. Dank der Berichterstattung in den Medien bietet sie uns auch die seltene Gelegenheit, gleichsam in Echtzeit zu beobachten, wie eine Forschungswissenschaft funktioniert. Was wir am Beispiel von Virologie und Epidemiologie sehen, ist aber nicht auf diese Disziplinen beschränkt, sondern lässt sich mit wenigen Modifikationen auf andere Disziplinen wie die Unterrichtsforschung übertragen. Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien spielen auch in Schule und Unterricht eine immer grössere Rolle. Umso wichtiger ist es, dass sich die Nutzer der Unterrichtsforschung ein klares Bild von deren Funktionsweise und Leistungsfähigkeit machen.

Im ersten Teil dieser kleinen Serie von vier Beiträgen haben wir gesehen, wie falsch die in Bildungspolitik und Bildungspraxis weit verbreitete Auffassung ist, durch wissenschaftliche Studien liessen sich gesicherte Erkenntnisse gewinnen, um in kontroversen Fragen Entscheidungen herbeizuführen.

Wissenschaftliche Studien spielen eine immer grössere Rolle.

Im ersten Teil dieser kleinen Serie von vier Beiträgen haben wir gesehen, wie falsch die in Bildungspolitik und Bildungspraxis weit verbreitete Auffassung ist, durch wissenschaftliche Studien liessen sich gesicherte Erkenntnisse gewinnen, um in kontroversen Fragen Entscheidungen herbeizuführen. Wissenschaft ist kein Ersatz für Politik, und in einer demokratischen Gesellschaft kann sie es auch gar nicht sein. Wissenschaftliche Forschung bietet auch keine Garantie für Wahrheit, wenn auch in der Wahrheit die regulative Idee der Wissenschaft und deren Kommunikationsmedium liegen.

Diese Aussage soll nun anhand von drei Forschungsparadigmen, die in der Unterrichtsforschung weit verbreitet sind, vertieft werden. Heute geht es um das Experiment, im dritten und vierten Teil werden Statistik und Fallstudie im Mittelpunkt stehen.

Das Experiment als Leitstern moderner Wissenschaft

Zu den Einsichten in das Funktionieren einer modernen Wissenschaft, die wir dank der Corona-Krise gewinnen, gehört, dass nicht jede Disziplin auf gleiche Weise an ihren Gegenstand herangeht. Virologen und Epidemiologen unterscheiden sich in den Methoden, die sie in ihrer Forschungspraxis verwenden, auch wenn es in beiden Disziplinen um Gesundheit und Krankheit geht.

Epidemiologie ist eine Sozialwissenschaft

Es mag ungewohnt sein, die Epidemiologie eine Sozialwissenschaft zu nennen, jedoch ist offensichtlich, dass sie nicht mit Einzelfällen, sondern mit Massenphänomenen beschäftigt ist, die nicht mit naturwissenschaftlichen, sondern mit sozialwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Während in der Epidemiologie statistisch gearbeitet wird, liegt der methodische Fokus der Virologie auf dem Experiment.

René Descartes: Mit dem Einfachsten beginnen …

Das Experiment gilt nicht nur in den Naturwissenschaften als Königsweg der Erkenntnisgewinnung. Seine hohe Wertschätzung verdankt es wesentlich der Tatsache, dass es das analytische Denken, wie es im Schosse der neuzeitlichen Philosophie entwickelt wurde, geradezu idealtypisch in Forschungshandeln umsetzen lässt. Um zu klaren Urteilen zu finden, forderte René Descartes (1964), ein Problem in Anlehnung an das Vorgehen der Mathematik einerseits «in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen» (S. 31), und andererseits «mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach … bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen» (ebd.).

Galileo Galilei 1564 -1642: Mathematik ist die Grundlage.

Auch Galileo Galilei orientierte sich an der Mathematik, als er im Saggiatore die Natur mit einem Buch verglich, das in mathematischen Zeichen geschrieben ist. Mit Hilfe der Mathematik fand er zu völlig neuen Erkenntnissen über die Beschaffenheit der physischen Welt. Wie Carl Friedrich von Weizsäcker (1990) ausführt, stellte Galilei Gesetze auf, «die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind» (S. 107). Während sich Aristoteles und die an ihm orientierte vormoderne Wissenschaft an den natürlichen Erscheinungen orientierte, zeigte Galilei, wie sich neue Phänomene hervorbringen lassen, indem die Natur mit Hilfe des Experiments in ihre elementaren Bestandteile zerlegt wird.

Entgrenzung der alltäglichen Erfahrung

Insofern erschliesst das Experiment einen Zugang zur Wirklichkeit, der hinter die Kulissen der alltäglichen Wirklichkeit führt. In den Worten von Adolf Portmann (1982) verlassen wir mit der experimentellen Forschung den Mediokosmos unserer Lebenswelt und greifen in den Mikrokosmus des unendlich Kleinen und in den Makrokosmus des unendlich Grossen aus. Indem wir zutage fördern, was sich hinter der Bühne des alltäglichen Lebens abspielt, gewinnen wir Einblick in die Kausalstruktur der Wirklichkeit, was es erlaubt, verändernd in den Lauf der Dinge einzugreifen.

Die Entgrenzung der alltäglichen Erfahrung beruht wesentlich darauf, dass der Forschungsgegenstand durch Variation seiner Bedingungen systematisch untersucht wird. Das hat für die Nutzung des Experiments als Instrument der wissenschaftlichen Forschung eine bedeutsame Konsequenz: Nur wenn der Gegenstand ein solches Vorgehen zulässt, kann es sinnvollerweise eingesetzt werden.

Weil die Komponenten komplexer Phänomene – wie zum Beispiel einer Wetterlage oder einer Kerzenflamme – vielfach miteinander verknüpft sind, ihre Dynamik schwer berechenbar ist und Einflüsse von aussen nicht-lineare Effekte zur Folge haben, ist über deren Zustände zu keinem Zeitpunkt ein sicheres Wissen möglich.

Einfach, kompliziert und komplex

Die Kerzenflamme ist ein komplexes Phänomen.

Wenn wir zwischen drei Arten von Phänomenen unterscheiden, nämlich einfachen, komplizierten und komplexen, dann ist das Experiment auf die Erforschung von einfachen und komplizierten Phänomenen zugeschnitten. In beiden Fällen lässt sich der untersuchte Gegenstand in seine Teile zerlegen, ohne dass er zerstört wird. Man denke an eine Maschine, die wir auseinandernehmen, um ihre Funktionsweise zu untersuchen. Setzen wir sie anschliessend wieder zusammen, wird sich nichts Wesentliches verändert haben. Dagegen zerstören wir komplexe Phänomene, wenn wir bei deren Untersuchung in gleicher Weise vorgehen. Weil die Komponenten komplexer Phänomene – wie zum Beispiel einer Wetterlage oder einer Kerzenflamme – vielfach miteinander verknüpft sind, ihre Dynamik schwer berechenbar ist und Einflüsse von aussen nicht-lineare Effekte zur Folge haben, ist über deren Zustände zu keinem Zeitpunkt ein sicheres Wissen möglich. Dementsprechend sind sie analytisch nicht beherrschbar, was das Experiment als Forschungsmethode praktisch ausschliesst.

Der pädagogische Forschungsgegenstand

Auch der Unterricht ist ein komplexes Phänomen.

Was folgt daraus für die Unterrichtsforschung? Ist deren Gegenstand einfach, kompliziert oder komplex? Es besteht wenig Zweifel, dass es sich beim Unterricht um ein komplexes Phänomen handelt. Lehrkräfte sind einer Fülle von Ereignissen ausgesetzt, die nur schwer vorhersehbar sind, oft gehäuft auftreten, kaum Zeit für gründliches Nachdenken zulassen und schnelles Reagieren verlangen. Unterricht heisst auch, dass keine Situation mit einer anderen genau übereinstimmt. Lehrerinnen und Lehrer können nicht erwarten, dass unter gleichen Umständen Gleiches geschieht. Bereits im nächsten Moment kann sich die Situation ändern – eine notorische Erfahrung von Lehrkräften, die sehr gut wissen, dass man nicht jede Klasse gleich behandeln kann und nicht jeder Tag gleich ist wie ein anderer.

Robert Slavin: Ohne Experiment kein Fortschritt im Bildungswesen

Ist das Experiment damit ungeeignet für die Unterrichtsforschung? Nicht unbedingt. Experimentelle Studien haben auch in den pädagogischen Wissenschaften ihre beredsamen Vertreter. So etwa bei den Wortführern einer evidenzbasierten Bildungspolitik, von der im ersten Teil die Rede war. Sie sind der Ansicht, dass nur experimentelle Studien der pädagogischen Praxis jenes Wissen zur Verfügung stellen können, das ein zielsicheres Handeln ermöglicht. Gemäss Robert Slavin (2002) werden wir im Bildungswesen erst dann Fortschritte machen, wenn wir beginnen, Schule und Unterricht mit streng kontrollierten Experimenten zu erforschen.

Idealisierung der Wirklichkeit

Ohne Simplifizierung des Forschungsgegenstandes geht dies aber nicht. Da Experimente auf die Untersuchung von einfachen oder komplizierten Phänomenen zugeschnitten sind, muss die Komplexität der Unterrichtssituation reduziert werden, wenn sie experimentell erforscht werden soll.

Aussergewöhnlich ist dies aber nicht, wie der Physiker Hans-Peter Dürr (1995) zeigt. Denn die Naturwissenschaften machen es nicht anders. Deren Erfolg beruht wesentlich darauf, dass sie Komplexität annäherungsweise als Kompliziertheit behandeln. Das ist so zu verstehen, dass der Gegenstand der experimentellen Forschung in den Naturwissenschaften nicht nur einfach oder kompliziert ist, sondern auch als einfach oder kompliziert interpretiert wird. Indem wir mit einem komplexen Phänomen umgehen, als ob es kompliziert wäre, vermögen wir die strengen Kriterien der experimentellen Forschung einzulösen.

Wie ein physikalisches Experiment die natürliche Wirklichkeit nicht abbildet, sondern unter idealen Bedingungen rekonstruiert, führt auch die experimentelle Unterrichtsforschung nicht zu einem Abbild der Unterrichtswirklichkeit, sondern zu einer Konstruktion, die bestenfalls in der Theorie richtig ist.

In diesem Sinn kann auch in der Unterrichtsforschung experimentell geforscht werden. Insofern das Experiment die Methode der Wahl ist, um Kausalstrukturen aufzudecken, wäre es sogar erwünscht, wenn in Schule und Unterricht mehr experimentelle Studien durchgeführt würden. Allerdings muss man sich der Vereinfachungen, die dabei in Kauf genommen werden, bewusst sein. Wie ein physikalisches Experiment die natürliche Wirklichkeit nicht abbildet, sondern unter idealen Bedingungen rekonstruiert, führt auch die experimentelle Unterrichtsforschung nicht zu einem Abbild der Unterrichtswirklichkeit, sondern zu einer Konstruktion, die bestenfalls in der Theorie richtig ist. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung experimentell gewonnener Erkenntnisse in bildungspolitische oder pädagogische Handlungen ist daher nicht möglich.

Der Grossteil der pädagogischen und psychologischen Unterrichtsforschung verfährt jedoch nicht experimentell, sondern nutzt Methoden, wie sie auch in der Epidemiologie zum Einsatz kommen. Nicht das Experiment, sondern die Statistik gibt vor, wie Unterrichtsforschung zu betreiben ist. Davon soll im nächsten Teil des Beitrags die Rede sein.

Literaturverzeichnis

Descartes, René (1964). Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übersetzt von Lüder Gäbe. Hamburg: Meiner.

Dürr, Hans-Peter (1995). Naturwissenschaft und Poesie. Begreifen und Spiegeln der Wirklichkeit. In: Ders.: Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad. Bedeutung und Gestaltung eines ökologischen Lebensstils (S. 96-119). Freiburg i.Br.: Herder.

Portmann, Adolf (1982). Goethes Naturforschung. In: Ders.: Biologie und Geist (S. 259-276). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Slavin, Robert E. (2002). Evidence-Based Education Policies. Transforming Educational Practice and Research. Educational Researcher (31), no. 7, 15-21.

Weizsäcker, Carl Friedrich von (19906). Die Tragweite der Wissenschaft. Stuttgart: Hirzel.

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