entdeckendes Lernen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 26 Jul 2020 19:07:18 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png entdeckendes Lernen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Der Abstieg der Grande Nation in Sachen Mathematik https://condorcet.ch/2019/06/der-abstieg-der-grande-nation-in-sachen-mathematik/ https://condorcet.ch/2019/06/der-abstieg-der-grande-nation-in-sachen-mathematik/#respond Wed, 12 Jun 2019 12:53:14 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1355

Nicht nur in der Schweiz oder in Deutschland staunt man über die sinkenden Mathematikleistungen unserer Schülerinnen und Schüler im Vergleich zur asiatischen Konkurrenz. In Frankreich ist man schockiert und setzt jetzt auf renomierte Mathematiker. Dr. Astrid Baumann (Uni Frankfurt) und der Mathematiklehrer der Sekundarstufe 1, Condorcet-Autor Alain Pichard berichten.

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Dr. Astrid Baumann, Universität Frankfurt
Homepage von A.Baumann
Alain Pichard, Mathematiklehrer, Sekundarstufe 1, Orpund und Biel Bild: api

Als 1995 die erste internationale Schüler-Olympiade Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) abgehalten wurde, war Frankreich mit seinen Achtklässlern ohne Zögern und mit grosser Zuversicht dabei. Die Nation von Descartes und Marie Curie landete schliesslich auf Platz 13, was  als Schock empfunden wurde.

Frankreich reagierte wie die Basler Bildungsdirektion nach ihrem PISA-Debakel im Jahr 2000. Um eine weitere Blamage zu vermeiden, nahm man sich eine Auszeit. In der Zwischenzeit investierte der französische Staat  Milliarden von Euros in Kinderkrippen und Frühförderung. Zudem wurde der Mathematikunterricht reformiert. Mit der Kompetenzorientierung führte man  (wie in Deutschland und mit Einschränkung auch in der Schweiz) durch die Hintertür eine neue Lehrmethodik ein. Die kompetenzorientierten Mathematik-Lehrbücher waren fortan deutlich anders strukturiert als herkömmliche, die dem logischen Aufbau der Mathematik folgten: mathematische Wissensbestände wurden darin nicht mehr konsequent aufgebaut und eingeübt. Konstruktivismus und textlastige, weil problemorientierte Aufgaben dominierten die Unterrichtszeit.  Das schriftliche Dividieren wurde abgeschafft, das Üben zugunsten eines entdeckenden Lernens zurückgefahren.

2015 trat das Land wieder an. Die neue Mathematikgeneration hatte von Geburt an all die kostspieligen Reformen für ein optimales Entwicklungsumfeld nutzen können. Sie waren die Generation, mit der Frankreich in die industrielle Elite zurückkehren wollte. Und wiederum war  Zuversicht gross, weil man ja die Ratschläge der Erziehungsexperten konsequent umgesetzt hatte.

Marie Curie würde staunen…
Bild: api

Das Ergebnis war niederschmetternd! Frankreich landete auf dem 35. Platz – hinter Qatar und Abu Dhabi. Verzeichnen die ostasiatischen Sieger unter 1.000 Kindern 320 (Japan) bis 500 (Singapur) Mathe-Asse, sind es in Frankreich nur 25. Selbst beim ebenfalls wankenden deutschen Nachbarn sind es 53. Deutschland war – dies als Zwischenbemerkung – zwischen 2007 und 2015 nur vom 12. auf den 24. Platz gefallen.

In Singapur zählen von 1000 SchülerInnen 480 zu den Höchleistern, Frankreich nur 25. Bild AdobeStock

(Siehe https://www.waxmann.com/fileadmin/media/zusatztexte/3566Volltext.pdf).

Drei Jahre später bestätigt die OECD das kognitive Fiasko Frankreichs. Bei den Einwanderern mit der allerniedrigsten Qualifikation liegt es im Klub der 36 hochentwickelten Nationen auf dem letzten Platz. 21 Prozent der Zuwanderer sind nahezu unbeschulbar.

Und jetzt droht weiteres Ungemach. 2017 schaffte Frankreich 8000 Patentanmeldungen. Das ist nur die Hälfte der dynamischen Südkoreaner, die es auf über 16’000 Eingaben brachten, obwohl ihr Land deutlich weniger Einwohner als Frankreich zählt.

Bis anhin haben die industrialisierten westlichen Staaten es hinnehmen können, dass die Billigproduktion ins Ausland, sprich in den asiatischen Raum verlagert wurde. Das grosse Geld wurde ja weiterhin mit Innovationen, sprich mit Patenten, verdient. Sollte nun die asiatischen Länder uns dank ihren wesentlich besseren Mathematikleistungen in der Patentzahl überflügeln, geht es ans «Eingemachte».

Wenn Asien seine Mathematikleistungen in Patente ummünzt, wird es hier eng!

Das war auch der französischen Regierung klar. Der französische Bildungsminister Jean-Michel Blanquer beauftragte deshalb Ende 2017 die Mathematiker Cedric Villani und Charles Torossian, die Probleme des Mathematikunterrichts an französischen Schulen zu analysieren und Vorschläge zur Verbesserung auszuarbeiten.

Renommierte Mathematiker sollen Frankreich retten

Cedric Villani, gehört sicherlich zu den schillerndsten mathematischen Charakteren unserer Zeit und ist der mathematischen Community wohlbekannt: Mathematikprofessor an der Universität von Lyon, Fields-Medaillen-Gewinner 2010, Direktor des Institut Henri Poincaré von 2009 bis 2017. Der zweite Autor, Charles Torossian, ist ebenfalls ein „echter” Mathematiker und Forscher am CNRS (centre national de la recherche scientifique). Binnen 4 Monaten lieferten die beiden Leuchttürme der französischen Mathematikergilde zusammen mit 20 weiteren Experten einen 100-seitigen Bericht ab, der insgesamt 21 Vorschläge enthält, wie man aus der Mathematikmisere herauskommen könnte.

21 Massnahmen,  die einem Rundumschlag gegen die Bildungsreformen gleichkommen

Beim Lesen des Berichts fällt auf, dass sich die beiden Wissenschaftler klar von jeglicher utilitaristischen Sicht der Mathematik distanzieren. Natürlich würden in Zukunft mehr Informatiker und Naturwissenschaftler (also gute MathematikerInnen) gebraucht, trotzdem sei es ihnen aber vor allem um Mathematik als ein Fach „für aufgeklärte Bürger”, um die Reduktion des „Leidens der Schüler” und um die Querbezüge zu anderen Fächern gegangen, erklärten die Verfasser des Berichts.  Entsprechend gelte es, wieder mehr Interesse und Spaß an dem Fach an sich zu wecken.

Und erstaunlich ist auch, dass die beiden nicht – wie viele Bildungsexperten und -politikerInnen – einfach mehr Geld fordern. Ihre verblüffende Forderung: Es müsse einfach anders unterrichtet werden.

Zurückfahren des entdeckenden Lernens

Neben einer drastischen Reform der Ausbildung der Lehrkräfte (auf die wir hier nicht eingehen) lassen die Änderungsvorschläge für den Unterricht aufhorchen:

Villiani und Tossiani verlangen das Zurückfahren des entdeckenden Lernens zugunsten strukturierter, aufbauender Lerneinheiten. Mehr Zeit in der Grundschule für Ausprobieren, Üben, das absolut sichere Erlernen des Zahlenraums zwischen 70 und 99.

Die Lernenden sollen ab der 1. Klasse an die vier Grundrechenarten herangeführt werden.‘ Größenordnungen und Maße sollen dabei besonders hervorgehoben werden. Rechenfertigkeiten sollen durch häufiges Üben gefestigt werden (Kopfrechnen, Überschlagsrechnungen usw.), um später auch anspruchsvolle und motivierende Aufgaben bearbeiten zu können. Dabei müsse man auf Verständlichkeit achten und stupides Anwenden von „Kochrezepten” vermeiden.

Neben der Einführung von Standards verlangt die Expertengruppe wieder auf einen klar geführten lehrerzentrierten Unterricht umzuschwenken. Tossiani: «Wir sehen zu viele Unterrichtsstunden, die der Aktivierung der Schüler dienen sollen, in denen sie aber nichts Strukturiertes lernen, das sich in einen größeren Kontext einfügt, oder sogar überhaupt nichts lernen. Die Schüler verlassen den Klassenraum, und wenn man sie fragt, was sie gemacht haben, erhält man ausweichende Antworten der Bauart „Wir haben versucht, die Länge eines Gartenzauns zu berechnen!”.(Ilka Agricola im Gespräch mit Charles Torossian in “Mitteilungen der Deutschen Mathematiker- Vereinigung” Dez. 2018).

Lange Zeit hat Asien von uns gelernt. Jetzt ist es Zeit, von Asien zu lernen.

Ebenfalls spannend ist der Verweis auf die Singapur-Methode. Gemeint ist ein idealtypischer Mathematikunterricht, wie er u. a. in Singapur extrem konsequent (und unter optimalen, allerdings nur bedingt übertragbaren Bedingungen – etwa:  homogene Schülerschaft, anderer kultureller und gesellschaftlicher Stellenwert der Bildung … ) seit einigen Jahrzehnten sehr erfolgreich umgesetzt wird.

Asiatische SchülerInnen erzielen ihre grandiosen Leistungen nicht nur mit Drill und Pauken.
Bild: AdobeStock

Zum ersten Mal wird hier anerkannt, dass der ostasiatische Mathematikunterricht nicht einfach nur auf sinnloses Pauken und Auswendiglernen beruht (wobei dies freilich immer noch in hohem Masse gilt), sondern ein konsequent ein logisch aufgebautes Mathematikkonzept verfolgt.

Es wird ausserordentlich spannend sein zu verfolgen, wie sich der Mathematikunterricht in unserem westlichen Nachbarland entwickelt und wie erfolgreich die von den beiden Mathematikern Villiani und Tossiani geforderten Massnahmen umgesetzt werden.  Affaire à suivre!

Alain Pichard und Astrid Baumann

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Ein hochspannendes Buch von Jürg Kaube https://condorcet.ch/2019/06/ein-hochspannendes-buch-von-juerg-kaube/ https://condorcet.ch/2019/06/ein-hochspannendes-buch-von-juerg-kaube/#comments Wed, 05 Jun 2019 10:32:56 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1294

Von überall her werden wir auf ein Buch aufmerksam gemacht, das kürzlich im Rowohlt-Verlag erschienen ist. "Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder" von Jürgen Kaube, Hrsg. der FAZ. Unser Gastautor, Ralf Wiechmann (D), schickt uns eine Leseprobe über das Thema "Üben". Eine vollständige Würdigung dieses Buches ist in Vorbereitung.

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Das neue Buch von Jürgen Kaube ist  keine leichte Kost. Es richtet sich gegen viele pädagogische Gegenwartsüberzeugungen. Eine „Phantasie“ nennt Kaube beispielsweise die Vorstellung, den Unterricht zu individualisieren und Kinder dazu bringen zu können, selbst zu lernen. Ich erlaube mir, den Leserinnen und Lesern des Condorcet-Blogs einen kleinen Ausschnitt vorzustellen. Der Autor schreibt über das “Üben”.

 

„Doch das Kopfrechnen und andere Routinen stehen bei Didaktikern in keinem guten Ruf. Ja, heißt es, das Kopfrechnen sei unentbehrlich, aber wie solle es denn gestaltet werden? Durch regelmäßiges, zu ‚Automatisierung‘ führendes Üben? Wie das schon klingt, ‚Automatisierung‘. Es schaudert den Didaktiker Günter Krauthausen: ‚Wenn Kinder gehäuft richtige Ergebnisse produzieren, mag man geneigt sein, zur Automatisierung überzugehen mit dem Ziel, verlässliche Reiz-Reaktionsketten aufzubauen. Diese muss es ab einer gewissen Stelle im Lernprozess und bzgl. gewisser Inhalte durchaus geben (zB. Einmaleins, Einpluseins), das Problem ist allerdings der verfrühte Übergang dorthin.‘ Man hört dem sich windenden Geständnis, dass verlässlich richtige Rechnungen ein ziemlich erwünschtes Resultat von elementarem Mathematikunterricht sind, deutlich an, wie ungern es gemacht wird. Man ‚mag geneigt sein‘, etwas an Routinen zu finden, wenn sie zu Ergebnissen führen, auch wenn damit die Freunde des ‚entdeckenden Lernens‘ eine narzisstische Kränkung erfahren. Immerhin, sagt der Didaktiker, ist noch nicht ausgemacht, was alles routinisiert werden soll und wann man zu Routinen übergehen sollte. Es bestehe ‚die Gefahr einer vorschnellen Ablösung von Anschauungs- und Einsichtsprozessen‘ durch Automatisierung. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Es besteht die Gefahr, dass den Schülern zu früh Einsicht, Reflexion und Forschen zugemutet wird. Sie sollen Zahlen verstehen, bevor sie rechnen können. Das war schon der Irrtum der Einführung der Mengenlehre als Vorschule aller Mathematik in den siebziger Jahren. Lernpsychologisch folgt die Routine nicht dem freien Sichaneignen und dem Reflektieren von Stoffen, sie geht ihnen voraus, sie ist eine Voraussetzung für entdeckendes Lernen. Wissen geht Denken voraus, was nicht heißt, dass Wissen ein Selbstzweck und der Sinn der Veranstaltung Schule ist. Aber es heißt: Ohne sichere Division fängt das Denken gar nicht an.“ (S. 143f)

Außer diejenigen, die sich begnügen, in einer „Wissenschafts“-Blase ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, kommt um dieses Buch kein denkender Mitbürger herum.

Ralf Wiechmann, Jahrgang 1972, Wohnort: Wolfratshausen – Deutschland, Beruf: Schulleiter und Lehrer für Mathematik, Physik und Philosophie, Mitgliedschaften: Gesellschaft für Bildung und Wissen; Verein für Begabungsförderung Mathematik

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