Deprofessionalisierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 16 Dec 2020 18:52:33 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Deprofessionalisierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Von gescheiterten Reformen und warum die Lehrkräfte verstummen https://condorcet.ch/2020/12/von-gescheiterten-reformen-und-warum-die-lehrkraefte-verstummen/ https://condorcet.ch/2020/12/von-gescheiterten-reformen-und-warum-die-lehrkraefte-verstummen/#comments Wed, 09 Dec 2020 05:07:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=7153

Condorcet-Autorin Christine Staehelin antwortet auf Herrn Köhlis Aufruf, nicht mehr weiter zu analysieren, sondern zum Angriff überzugehen. Sie zeichnet ein bedrückendes Bild bildungsbürokratischer Übergriffe und gibt den Ball zurück.

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Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel: Unerschütterlicher Glaube, dass es dennoch möglich ist.

In seinem Blogbeitrag schreibt Hans-Peter Köhli: «Die Urheber von Lehrplan 21, Frühfremdsprachenkonzept, Totalintegration usw. lesen den Blog vielleicht auch, schmunzeln jedoch dabei und freuen sich, dass ihren Neuerungen allen Anfeindungen zum Trotz nichts passiert. Wann endlich wird einmal zum Angriff übergegangen?»

Wogegen soll der Angriff gerichtet sein?

Die Frage von Hanspeter Köhli ist durchaus verständlich. Warum geschieht dies nicht? Warum folgen auf Reformen, die sich nicht bewähren, neue Reformen, um die Reformen zu reformieren? Weil, so schreibt Niklas Luhmann, «das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist»[1], wobei das auch dadurch zu begründen sei, dass rasch vergessen werde, «dass das, was man vorhat, schon einmal (oder mehrmals) versucht worden und gescheitert ist»[2].

Reichenbach vermutet einen Grund der Zunahme bei gleichzeitiger Erfolglosigkeit von Reformen darin, dass es »zu spät zum Aufhören« sei, denn «je länger man einen schlechten Film anschaut, desto wahrscheinlicher wird es, dass man ihn bis zum Ende sieht«[3]. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von der «Concordefalle», die dieses Vorgehen symbolisiert.

Prof. Roland Reichenbach: Zu spät zum Aufhören.

Man könnte also einerseits davon ausgehen, dass die Reformen gemäss einer ihnen eigentümlichen Dynamik der Selbstreproduktion und des ständigen Vergessens einem ständigen Werden und Vergehen unterworfen sind, welches nicht unterbrochen werden kann, weil es als Kreislauf funktioniert.

Doch scheint andererseits die Gelassenheit oder die Einsicht zu fehlen, dies als ausreichende Begründung zu akzeptieren, da somit ja ein Zweck ausserhalb der Dynamik selbst nicht vorhanden wäre. Es müsste zweckloses Handeln unterstellt werden im Sinne von Hauptsache, es wird etwas getan. Dafür sind die Reformen jedoch zu kostspielig, nicht nur aus finanzieller Sicht.

«Das Neue als Reiz kommt ohne Fortschritt aus».Roland Reichenbach

Vielleicht ist es so, wie Reichenbach[4] schreibt: «Das Neue als Reiz kommt ohne Fortschritt aus». Dieser Reiz wäre dann also gleichzeitig Mittel und Zweck von Reformen im Bildungsbereich. Somit müsste die Sinnfrage auch nicht mehr gestellt werden und das Verstehen erschöpfte sich in dieser Aussage, was letztlich jedoch auch keine befriedigende Antwort sein kann.

Warum können pädagogische Einwände die Reformen nicht aufhalten? – Antwort: Es geht gar nicht um Pädagogik oder Bildung.

Schon wieder eine Analyse, wird Hans-Peter Köhli nun einwenden – zu Recht. Und dann noch eine unbefriedigende, wenn allein Zirkelschlüsse, Demenz sowie Erkenntnisse aus der Aviatik und dem Behaviorismus die Bildungsreformen begründen sollen. Vielleicht ist die Analyse dennoch angemessen. Sie könnte nämlich erklären, warum pädagogische Einwände die Reformen nicht aufhalten können – es geht gar nicht um Pädagogik oder Bildung. Worauf also soll folglich ein Angriff überhaupt abzielen?

Das Verschwinden des professionellen Lehrerhandelns

Neben den oben erwähnten Begründungen für die hohe Kaskade von scheiternden Reformen gibt es möglicherweise eine Unzahl weiterer. Als Hypothese möchte ich hier eine hervorheben: Das Verschwinden des Lehrberufs als Profession, wie sie Luhmann beschreibt[5], und damit jener Autorität, die in diesem Berufsfeld in erster Linie überhaupt etwas zu sagen hätte.

Entscheidend für Professionen ist, dass das bestmögliche Wissen «nicht direkt, logisch, problemlos angewandt werden kann, sondern jede Anwendung mit dem Risiko des Scheiterns belastet ist. Das gilt für die Prototypen der Diskussion, für Ärzte und Juristen, aber, wie leicht zu sehen, auch für Pädagogen. Im Zentrum für Professionen steht mithin die Distanz zwischen Idee und Praxis, die durch Wissen allein nicht überbrückt werden kann»[6].

Die Lehrkraft braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut

Jede Lehrerin, jeder Lehrer ist sich dessen bewusst. Alle wissen, dass auch mit hohem Engagement und bester Absicht sich Lernerfolg nicht immer einstellt, dass auch Wissen, Erfahrung und Routinen nicht vor dem Scheitern schützen. Es braucht «Gelassenheit, mit der der Lehrer Erfolg und Misserfolg erträgt. Der Lehrer braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut»[7].

Die Distanz zwischen Idee und Praxis ist ein Wesensmerkmal von Erziehung und Bildung.

Die Distanz zwischen Idee und Praxis ist ein Wesensmerkmal von Erziehung und Bildung. Überbrückt wird dieser Gap durch die Person der Lehrenden. Denn sobald «die Interaktion Unterricht beginnt, sind Lehrer wie Schüler deren Dynamik ausgeliefert […]. Die Organisation zieht sich gleichsam zurück und überlässt der Interaktion die Führung»[8]. Weiter schreibt Luhmann: «Die Berufspraxis soll weitgehend autonom durchgeführt werden unter Absehen von kleinlichen Festlegungen des Verhaltens»[9].

Eigentümliche Dynamik der Selbstreproduktion

Warum sind diese Ausführungen in diesem Zusammenhang bedeutsam? Weil Reformen sich immer auf Fragen der Organisation beziehen. Doch es wird ihnen «kaum gelingen, die Unterrichtsinteraktionen zu perturbieren»[10]. Der unerschütterliche Glaube von Entscheidungsträgern ­– die in der Bildungsverwaltung, nicht (mehr) im Klassenzimmer arbeiten –, dass es dennoch möglich sei, über Neubeschreibungen der Organisation das Unterrichtsgeschehen bzw. den Lernerfolg zu beeinflussen, führt zu immer weitergehenden Reformen. Damit sollen deren Erfolglosigkeit und unerwünschten (Neben-)wirkungen kaschiert werden. In erster Linie aber bedrängen die ständigen Reformen die professionellen Handlungsmöglichkeiten von Lehrerinnen und Lehrern und damit das eigentliche Unterrichtsgeschehen durch den zunehmenden Bürokratismus bei gleichzeitig abnehmender Interaktionsfreiheit von Lehrerinnen und Lehrern immer ernsthafter, bedrohen gar deren Handlungsspielraum und damit ihren Status als Profession. Die weiteren Ausführungen zeigen auf, was geschieht, wenn die Organisation versucht, das Unterrichtsgeschehen direkt zu beeinflussen, sei es durch entsprechende Lehrpläne bzw. Lehrmittel, sei es durch ideologisch geprägte Ausbildungsgänge u.a.

Bürokratismus als Folge von Kontrollverlust

Weder führt ein neuer Lehrplan dazu, dass die Schülerinnen und Schüler mehr lernen, noch verbessert ein Lehrmittel bzw. ein früher einsetzender Unterricht die Französischkenntnisse, noch bewirkt  die Integration, dass alle integriert sind, noch ergibt selbstorganisiertes Lernen mehr Lernfreude und -erfolg, noch schafft die Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen eine neue Generationen von begeisterten Lehrerinnen und Lehrer, noch wird die so genannte Digitalisierung die jungen Menschen auf die wichtigen Herausforderungen der Zukunft vorbereiten.

Passepartout, ein gigantisches Scheitern

Im Gegenteil: Der Lehrplan ist voll von fragwürdigen so genannten Kompetenzen («können erste Erfahrungen mit den drei Hauptwortarten Nomen, Verb und Adjektiv sammeln», «können zeigen, wie sie zählen»), die mehr verwirren als klären; der erfolglose frühe Französischunterricht mit dem umstrittenen Lehrmittel «mille feuilles» ist zum Politikum geworden;  die Integration hat dazu geführt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler einen Förderbedarf ausweisen und ein geregelter und effizienter Unterricht manchmal gar nicht mehr möglich ist;  das selbstorganisierte Lernen verkennt einerseits, dass man immer selber lernt, und stiehlt andererseits dem Unterricht, der immer eine personale Angelegenheit ist, die Seele; die Neuausrichtung der Ausbildung der Lehrpersonen führt dazu, dass fünf Jahre nach dem Berufseinstieg mehr als die Hälfte der Ausgebildeten nicht mehr unterrichtet und die Digitalisierung des Unterrichtsgeschehens löst das Generationenverhältnis auf, untergräbt die Autoriät der Lehrpersonen und verzichtet auf deren Leidenschaft für die Welt und für das Lehren, setzt Medium und Inhalt gleich und spiegelt die Tatsache vor, dass heute schon klar wäre, was morgen von Bedeutung sei und dass das irgendetwas mit Bildschirm und Tasten zu tun haben müsse.

Da das Scheitern der Reformen im Bildungsbereich immer offensichtlicher und vielfältiger wird und die gesellschaftliche Anerkennung der öffentlichen Schule ins Wanken gerät, nimmt der Bürokratismus zu und raubt der Schule den Atem, möglicherweise in bester Absicht.

Bürokratismus raubt der Schule den Atem

Und was tun die Bildungsverwaltungen angesichts dieser unkontrollierten (Neben-)Wirkungen von Reformen? Sie treffen ständig neue Entscheidungen  und reagieren damit auf die uneingestandene Unmöglichkeit, mittels ständiger Neubeschreibungen der Organisationen «die Operationen, auf die es letztlich ankommt, nämlich Unterricht und Forschung, zu kontrollieren, geschweige denn verbessern zu können»[11]. Da das Scheitern der Reformen im Bildungsbereich immer offensichtlicher und vielfältiger wird und die gesellschaftliche Anerkennung der öffentlichen Schule ins Wanken gerät, nimmt der Bürokratismus zu und raubt der Schule den Atem, möglicherweise in bester Absicht.

Wann endlich wird einmal zum Angriff übergegangen?

Viele Lehrerinnen und Lehrer verstummen.

Die Ausführungen sollen aufzeigen, dass es nicht so einfach ist, zum Angriff überzugehen. Neben vielen weiteren möglichen Ansätzen stehen m.E. drei Probleme im Vordergrund: Erstens scheinen Reformen grundsätzlich weitere Reformen zu bewirken, zweitens möchten die Reformen über Neubeschreibungen von Organisationsformen die Interaktionen im Unterrichtsgeschehen beeinflussen, was a priori nicht möglich ist. Und drittens sind viele Lehrerinnen und Lehrer verstummt, weil sie das Scheitern von Unterrichtsinteraktion, das heute zu einem grossen Teil auf völlig unangemessenes und in das tägliche Unterrichtshandeln hineinspielende Organisationshandeln zurückzuführen ist, als persönliches Versagen sehen.

Die Deprofessionalisierung des Lehrberufs geht linear einher mit den Reformen der letzten Jahrzehnte. Alle wissen es besser als die Lehrerinnen und Lehrer.

Die Schule hat grundsätzlich drei gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen: Sie muss qualifizieren, selektionieren und integrieren.
Die Organisation muss jene Voraussetzungen schaffen, damit diese Aufgaben einerseits strukturell und inhaltlich gestaltet und andererseits im Rahmen von Interaktionen im Unterricht überhaupt stattfinden kann. Der Beruf der Lehrerin bzw. des Lehrers muss als Profession im Luhmannschen Sinn anerkannt sein. Dazu gehört in allererster Linie eine hochstehende und dem Beruf angemessene Ausbildung, eine weitgehend autonome Berufspraxis und ausserdem muss der Lehrberuf «hinreichende Vorteile an Reputation und an Einkünften bieten, um für gute Kandidaten attraktiv zu sein»[12].

Also haben die Lehrerinnen und Lehrer zugelassen, dass die Verwaltung ihren Beruf zunehmend kontrolliert und bürokratisiert hat und dass über die Organisation versucht wird, Bereiche des Unterrichts zu beschreiben und in die Interaktion hineinzuwirken.

Wer soll den Angriff starten?

Die Deprofessionalisierung des Lehrberufs geht linear einher mit den Reformen der letzten Jahrzehnte. Alle wissen es besser als die Lehrerinnen und Lehrer. Wenn letztere die Reformen inhaltlich und mit pädagogischen Argumenten kritisiert haben, wurden sie zu Ewiggestrigen gestempelt. Doch wer will schon als altmodisch gelten? Wer kann schon gegen Integration und Digitalisierung sein? Also haben die Lehrerinnen und Lehrer zugelassen, dass die Verwaltung ihren Beruf zunehmend kontrolliert und bürokratisiert hat und dass über die Organisation versucht wird, Bereiche des Unterrichts zu beschreiben und in die Interaktion hineinzuwirken. Diese Reformen waren insofern erfolgreich, als dass der Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehrern zunehmend geprägt ist von Organisation und Bürokratismus; aber auch von Ohnmachtsgefühlen, weil mit Lehrmitteln gearbeitet werden muss, die ineffektiv sind, weil sich die Klassenzusammensetzung aufgrund der vielen separativen Förderangeboten innerhalb eines Morgens mehrmals ändert usw. Und letztlich vor allem auch, weil ihnen nicht zugehört wird. Lehrerinnen und Lehrer werden keinen Angriff starten, denn wenn einem Beruf der Status der Profession nicht zugeschrieben wird, hat man nichts zu sagen.

Sie, lieber Herr Köhli

Lieber Herr Köhli, nehmen Sie Einfluss über die Politik, legen Sie den Irrtum offen zu glauben, man könne über die Organisation in die Interaktion des Unterrichts hineinwirken. Damit raubt man dem Lehrberuf das Wesentliche, nämlich jene Autonomie im Handeln, die es einem erlaubt, mit Begeisterung und Leidenschaft Wissen weiterzugeben, neue Perspektiven zu eröffnen und dies tagtäglich und über Jahre und Jahrzehnte tun zu wollen, obwohl man manchmal scheitert, weil einem die nächste Generation am Herzen liegt.

Und weil man für den Lehrberuf die Besten auswählen sollte, braucht es Aufnahmeprüfungen mit berufsspezifischen strengen Aufnahmekriterien.

Wir brauchen die besten im Lehrberuf

Und setzen Sie sich politisch dafür ein, dass die Pädagogischen Hochschulen eine hervorragende Berufsausbildung anbieten, welcher je nach Ausbildungsziel ein universitäres Fachstudium vorausgeht. Den Lehrberuf studiert man nicht. Sonst kann man am Ende der Ausbildung zwar eine wissenschaftliche Arbeit schreiben, aber unterrichten, das kann man nicht. Und weil man für den Lehrberuf die Besten auswählen sollte, braucht es Aufnahmeprüfungen mit berufsspezifischen strengen Aufnahmekriterien.

Wenn Sie es schaffen, dass sich die Organisationsbeschreibungen von Bildungsverwaltungen auf jene Bereiche beschränken, die überhaupt etwas mit Organisation zu tun haben, und wenn es Ihnen gelingt, die Ausbildungen an den Pädagogischen Hochschulen auf ein Höchstniveau zu bringen und berufsspezifisch auszurichten bei einer gleichzeitigen Beschränkung der Aufnahmen, ich glaube, dann haben Sie viel erreicht.

Und nicht zuletzt ist es von enormer Bedeutung, dass jene die Organisationsbeschreibungen vornehmen, die dem Berufsstand der Lehrerinnen und Lehrer angehören: Sie wissen, welche Lehrmittel wirksam sind, wo die Grenzen der so genannt integrativen Schule liegen, wie ein Lehrplan, der diesen Namen verdient, aussehen soll und ganz grundsätzlich, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit erfolgreicher Unterricht stattfinden kann.

Es ist höchste Zeit für den Angriff, Herr Köhli. Und er muss auf dem politischen Weg geschehen. Nicht weil ich der Meinung wäre, das wäre der richtige Weg. Aber es ist der einzige, weil man den Lehrerinnen und Lehrern seit Langem nicht mehr zuhört.

Christine Staehelin, Basel

 

[1] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (166).

[2] ebd., 167

[3] Reichenbach, R. (2008). In der »Concorde-Falle«: Erfolgreiches Scheitern von Bildungsreformen (eine »Replik« auf Walter Herzogs Kritik an der Reform). In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 30 (2008) 1, S. 53-63.

[4] Reichenbach, R. (2020). Bildungsferne. Zürich. Diaphanes (141).

[5] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (147ff.).

[6] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (148).

[7]  ebd. 152

[8] ebd. 160f.

[9] ebd. 150

[10] ebd. 166

[11] ebd. 163

[12] ebd. 150

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Abschaffung der Kleinklassen mit Folgen für den Berufsfindungsprozess https://condorcet.ch/2019/11/abschaffung-der-kleinklassen-mit-folgen-fuer-den-berufsfindungsprozess/ https://condorcet.ch/2019/11/abschaffung-der-kleinklassen-mit-folgen-fuer-den-berufsfindungsprozess/#respond Sat, 16 Nov 2019 13:32:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=2880

Der Heilpädagogik-Dozent Riccardo Bonfranchi macht sich seit langem für die Kleinklassen stark. Ihre Abschaffung und die des Werkjahres, so die zentrale These in diesem Beitrag, führe bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern zur Deprofessionalisierung der vormals guten und notwendigen Betreuung.

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Riccardo Bonfranchi

Die Berufsfindung nimmt im Leben lernbehinderter Jugendlicher eine eminent wichtige Rolle ein. Der Weg dorthin unterscheidet sich fundamental von dem für geistig behinderte Jugendliche, die aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigung keine Chance auf eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt haben und für die es deshalb andere Lösungen gibt. Das gilt nicht für lernbehinderte Jugendliche, die nach ihrer Schulzeit auf einem Niveau zwischen der 4. und  6. Klasse abschliessen und mit entsprechender Begleitung im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen sollen. In der Regel besteht der Anschluss nicht in einer Lehre (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis, EFZ), sondern bewegt sich im Bereich des Eidgenössischen Berufsattests (EBA), ehemals Anlehre genannt. Diese Problematik hat man bereits in den 1970er Jahren erfasst und gehandelt, indem man das sogenannte Werkjahr konzipiert hatte, eine äusserst effiziente und erfolgreiche Einrichtung. Es fiel zwischen 2005 – 2015 dem Integrations-Hype zum Opfer und wurde aufgelöst. Ersatzlos. Dabei gab es meines Wissens keine Qualitätskontrolle bei der Entscheidung.

Man tat es einfach, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen.

Man tat es einfach, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Das gilt es nachzuholen, indem ich einen Blick werfe auf die spezifische Aufgabenstellung des Werkjahres – die es übrigens in allen Deutschschweizer Kantonen gab – und auf den Versuch, diese grosse Lücke heute durch ein deprofessionalisiertes Mentoring zu füllen.

Das Werkjahr

Werkjahre hatten eine wichtige Funktion

Man tat es einfach, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Um lernbehinderte Schülerinnen und Schüler kompetent in den ersten Arbeitsmarkt zu führen, gab es das Werkjahr in sämtlichen Kantonen. In einigen war es als obligatorisches 9. Schuljahr, also als Abschlussjahr der Kleinklassen, konzipiert, in anderen Kantonen als freiwilliges 10. Schuljahr. Die Inhalte waren aber überall mehr oder weniger gleich.

Im ersten Quartal hatte der Berufswahlunterricht (Fach: Arbeitslehre) neben dem Allgemeinbildenden Unterricht (Rechnen, Deutsch, Staatskunde, Geographie/Geschichte) und den manuellen Fächern (Hauswirtschaft, Textil, Holz, Metall, ev. auch noch Stein und Farbe) einen zentralen Stellenwert. Zusätzlich zu allgemeinen Informationen zur Arbeitswelt wurden Informationstage in einzelnen Branchen vorbereitet und durchgeführt. Jede Schülerin und jeder Schüler hatte während des ersten Quartals etwa acht Informationstage in unterschiedlichen Branchen zu absolvieren. Ergänzt wurden sie in der Schule mit dem Material der Berufsberatung und Handwerklich-motorischen Eignungstests (HAMET). Einzelgespräche mit den Lernenden und ihren Eltern dienten dazu festzustellen, in welchen Bereichen ihr Kind Schnupperlehren absolvieren sollte. Während dieser zweiwöchigen Schnupperlehren wurden die SchülerInnen von ihrer Lehrkraft aktiv betreut und erhielten Unterstützung, indem diese im Betrieb vorbeischaute. Nebenbei erwähnt: Lehrbetriebe sind mit der Zeit dazu übergegangen, nur noch einwöchige Schnupperlehren anzubieten, zum Nachteil lernbehinderter Kandidaten, da diese oft länger brauchen, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden und zu akklimatisieren. Die Praxis hat gezeigt, dass Lernbehinderte bis zu fünf Schnupperlehren absolvieren müssen, damit sie ihr volles Potential abrufen können. Auch dafür brauchen sie eben länger als ein durchschnittlich begabter Schüler aus der Regelschule. Das Werkjahr bot hierfür die nötige Zeit.

Werkjahre waren ein hochspezialisierter Schultypus

Aufgrund der Veränderung der Arbeitswelt in den letzten 30 Jahren erscheint die Existenz eines solchen Werkjahres notwendiger denn je. Leider hat man sich für das Gegenteil entschieden, nämlich die Abschaffung dieses differenzierten, hoch-spezialisierten und professionell die Probleme angehenden Schultypus. Wer darunter zu leiden hat, muss hier nicht weiter erwähnt werden. Ich habe bereits in anderen Publikationen die Auswirkungen moderner Technologien auf lernschwächere Jugendliche ausführlich erläutert und beschränke mich hier auf eine Zusammenfassung in Form von 10 Thesen:

  1. Die Auswirkungen moderner Technologien auf lernschwächere Schüler und Schülerinnen im Arbeitsbereich sind evident.
  2. Die Bewältigung der Umwelt verändert sich nicht nur durch die Einführungen elektronischer Geräte, elektronisch gesteuerter Maschinen, social-media etc., sondern vor allem auch durch die ungeheure Komplexitätszunahme ehemals einfach zu durchschauender Abläufe.
  3. Lernschwächere Schülerinnen und Schüler laufen Gefahr, durch diese technologische Revolution verstärkt ins Hintertreffen zu geraten, und sind einer sich verstärkenden Marginalisierung ausgesetzt sind.
  4. Die fortschreitende Automatisierung, insbesondere im handwerklich und in intellektuell weniger anspruchsvollen Berufsbereichen führt zu einer zunehmenden Dequalifizierung lernbehinderter Schüler.
  5. Dem steht eine Zunahme an Anforderungskomponenten gegenüber, wie Flexiblität, Teamfähigkeit, dauernde Lernbereitschaft, erhöhtes Symbolverständnis, erhöhter Abstraktionsgrad etc., Kompetenzen, die diametral zu den Stärken lernbehinderter Schülerinnen und Schüler stehen.
  6. Die Folge davon: Intelligente werden immer intelligenter; «Dumme» werden immer «dümmer».
  7. Es ist dringend geboten, sich Gedanken darüber zu machen, wie lernschwächere Menschen in der Zukunft – ohne fremde Hilfe – in den Arbeitsprozess integriert werden, um eine wirtschaftliche Lebensgrundlage zu erhalten.
  8. Regelschulen mit integrierten lernschwächeren Schülerinnen und Schülern müssen dieser grossen Herausforderung gesellschaftlicher Natur gerecht werden und die Politik entsprechend fordern.
  9. Die Lehrkräfte müssen die modernen Technologien sowie die zunehmende Komplexität unserer Welt – auch mit kritischem Blick – akzeptieren und bejahen.
  10. Sie müssen in die Lage kommen, lernschwächeren Schülerinnen und Schülern die nötigen Inhalte und Fertigkeiten zu vermitteln, damit sich die in 6. genannte Schere nicht noch weiter öffnet.
Bild: AdobeStock

Die Thesen sind idealtypischer Natur, die Realität zeigt ein anderes Bild: RegelklassenlehrerInnen mit integrierten lernschwachen SchülerInnen können nicht kompensieren, was durch den Wegfall des Werkjahres an Betreuung fehlt. Sei es, weil sie zu wenig Ahnung von der Ausbildungen im Bereich der Attest-Lehre haben oder sei es, weil es einfach zu wenig Kapazitäten, sprich Zeit, gibt, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Die besondere Betreuung von ehemaligen KleinklassenschülerInnen, insbesondere auch derjenigen mit fremdländischem Hintergrund, ist dabei ein pädagogisches Muss.

Mentoring als schwächlicher Ersatz für das Werkjahr

Was wird nun neu als Lösung angeboten? Man setzt auf Freiwillige, die ehrenamtlich in ihrer Freizeit lernschwache Jugendliche in ihrem Berufsfindungsprozess, also bei der Lehrstellensuche, begleiten. Man spricht von Mentoring. MentorInnen arbeiten in Ergänzung zu den Lehrkräften und unter Anleitung der BerufsberaterInnen.

Was also vorher von einer ausgewiesenen Fachkraft in den Werkjahren mit grossem Erfolg –das darf hier herausgestrichen werden – durchgeführt worden ist, wird nun auf mehrere Personen aufgeteilt. Dabei sind die Kompetenzen völlig unklar und müssen jeweils zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden.

Was also vorher von einer ausgewiesenen Fachkraft in den Werkjahren mit grossem Erfolg –das darf hier herausgestrichen werden – durchgeführt worden ist, wird nun auf mehrere Personen aufgeteilt. Dabei sind die Kompetenzen völlig unklar und müssen jeweils zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden. Dass diese Situation lernbehinderte Jugendliche überfordern dürfte, erscheint nachvollziehbar, wenn man weiss, über welch geringe Kompetenzen diese Jugendlichen verfügen. Dabei soll das Engagement dieser MentorInnen in keiner Art und Weise infrage gestellt werden. Wie aber Menschen ohne Vorbildung in Bezug auf Förderung und Betreuung lernbehinderter Jugendlicher, häufig noch mit fremdländisch-kulturellem Hintergrund, diese Aufgabe erfüllen sollen, die vor Jahren fachspezifisch geschultes Personal, eben das der Werkjahre, durchgeführt hat, erscheint mir in höchstem Masse problematisch zu sein. Es ist ein erneutes Beispiel dafür, dass die sog. Integration bei der Lösung komplexer gesellschaftlicher Aufgaben versagt.

Über eine erneute Implementierung des Werkjahres ins allgemeine Schulsystem sollte man ernsthaft wieder nachdenken.

 

 

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