Camus - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 06 Feb 2020 12:37:11 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Camus - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Vom magischen Dreieck der Pädagogik https://condorcet.ch/2020/02/vom-magischen-dreieck-der-paedagogik/ https://condorcet.ch/2020/02/vom-magischen-dreieck-der-paedagogik/#respond Sun, 02 Feb 2020 18:03:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=3776

Guter Unterricht ist ein anspruchsvolles Feld. Da hinein drängen mehr und mehr Akteure, Ansprüche, Amtsvorschriften. Das gefährdet das Gleichgewicht. Ein Plädoyer für die Balance im Bildungsdreieck von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Carl Bossard: Interessant, weil man den Beruf liebt.

Vieles im pädagogischen Alltag kann auf drei Punkte reduziert oder durch drei geteilt werden. Johann Heinrich Pestalozzi machte es mit seinem pädagogischen Dreiklang von Kopf – Herz – Hand vor. Es ist die zeitlose Trias der „drei grossen G“: Grundwissen, Grundhaltungen, Grundfertigkeiten. Pestalozzi wusste, wie wichtig Bildung für junge Menschen ist und dass man alles zusammen entwickeln muss: die Gefühle im Herzen, den Scharfsinn im Kopf und die Geschicklichkeit der beweglichen Hand. Er hat es begriffen, hat es gelehrt, und oft ist er in der Praxis gescheitert. Aber versucht hat er es mit einer nie versiegenden Leidenschaft.[1] Darum hat er bei den Kindern gewirkt.

Den Beruf leidenschaftlich lieben

Von dieser pädagogischen Leidenschaft spricht der Literatur-Nobelpreisträger Albert Camus. Im autobiografischen Werk „Der erste Mensch“ beschreibt er seinen verehrten Lehrer Louis Germain. In zwei Sätzen skizziert Camus den geheimnisvollen Dreiklang, wenn er von Germains Unterricht sagt, er sei “aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant“ gewesen. In dieser Klasse fühlten die Kinder “zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.“[2]

Diese Leidenschaft ist zentrales Element im pädagogischen Dreieck von Lehrperson – Kind – Welt. Die „Welt“ als Symbol für das Neue, das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, oder eben die Unterrichtsinhalte. Es ist eine dreifache Beziehung: erstens vom Pädagogen zur Welt, wie sie Camus‘ Primarlehrer verkörpert, zweitens von der Lehrerin zum Kind, und als Drittes vom jungen Menschen zu den Lerngegenständen: „die Welt […] entdecken“, wie es Louis Germain seinem kleinen Schüler Camus ermöglichte.

Der Mensch wird am Menschen zum Menschen

Camus: „Il aimait passionément son métier.“

Camus’ bewegende Autobiographie veranschaulicht, wie zentral die Lehrperson und ihr Unterricht in diesem magischen Dreieck der Pädagogik ist: Bildung braucht Beziehung. Bildung ist an Menschen gebunden. Das zeigt sich immer wieder: Am Menschen wird der Mensch zum Menschen. Lehrpersonen und ihre Schüler begegnen sich im „Stoff“ als Kulturgut.

Genau das meinte wohl Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation. Am Tag der Nobelpreis-Übergabe schrieb er seinem Lehrer: „Als ich die Nachricht erhielt, galt mein erster Gedanke, nach meiner Mutter, Ihnen. Ohne Sie, ohne Ihre liebevolle Hand, die Sie dem armen kleinen Kind, das ich war, gereicht haben, ohne Ihre Unterweisung und Ihr Beispiel wäre nichts von alldem geschehen.“[3] Welche Reverenz vor seinem ehemaligen Lehrer!

Schule als Institution ist primär Interaktion

Das Ferment wirksamer Schulen bilden Lehrerinnen und Lehrer; sie verbinden konzentrierten Unterricht mit feinfühliger Erziehung. Es gibt keine guten Schulen ohne gute Lehrpersonen, betont der Zürcher Ordinarius für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Roland Reichenbach. Wörtlich sagt er: „Und diese Lehrpersonen müssen den Schülerinnen und Schülern klar machen: Erstens: Was du hier lernst, ist wirklich wichtig. Zweitens: Mir ist es ein Anliegen, dass du das lernst. Drittens: Ich glaube fest daran, dass du das schaffst. Und viertens: Ich werde dir dabei helfen und dich unterstützen.“[4] Und Reichenbach fügt bei: „Diese vier Punkte klingen vielleicht banal, aber sie sind ganz zentral, und man sollte sie auf keinen Fall vergessen.“

Ich glaube fest daran, dass du das schaffst.

Der Literat Camus und der Erziehungswissenschaftler Reichenbach umschreiben beide das Gleiche, nur mit anderen Worten. Beide reden von der schülerzentrierten und leidenschaftlichen Lehrperson und ihrer hohen menschlichen Verantwortung fürs Lernen der Kinder.

Die komplexe Vielfalt im Klassenzimmer

Wer ins Schulzimmer blickt, erkennt schnell, was diese Verantwortung konkret bedeutet und was sich innerhalb dieser vier Wände an Entscheidendem ereignet. Hier sollen die jungen Menschen lernen, mit Kopf und Hand zu arbeiten – und mit dem Herzen dabei zu sein – und so all das zu erwerben, was wir für die Grundsäulen des Lebens halten: Rechnen sowie Schreiben, Lesen, Sprechen – auch in zwei Fremdsprachen. Dazu allein und miteinander Probleme lösen und Kenntnisse aus der nahen und fernen – auch der vergangenen – Welt erwerben. Dann Freude gewinnen an der Bewegung und am Schönen, am Musischen und Kreativen sowie Respekt entwickeln vor den Mitmenschen und der Natur.

Die Kinder sollen überdies das Lernen trainieren und die Ausdauer, offen sein für andere Ansichten und ihre Meinung fair vertreten können. Und so manches andere mehr: ein immenser Berg und eine höchst anspruchsvolle Aufgabe im subtilen Dreieck zwischen Lehrperson – Kind – Unterrichtsinhalt.

Das Korsett künstlich konstruierter Komplexität engt ein

Die Regelungsdichte in der Schule nimmt zu.

Wer steuert in diesem pädagogischen Dreieck die Lernprozesse? Die Lehrerin! Der Lehrer! So die selbstverständliche Antwort. Doch sie trifft nicht mehr zwingend zu. Die Fächerfülle steigt, die Regelungsdichte nimmt zu, die Vorschriften intensivieren sich, die Strukturen werden enger, die Schuladministration wächst – und damit auch die Zahl der Akteure. Das schwächt den pädagogischen und menschlichen Spielraum der Lehrperson; das schnürt ihren Freiheitsraum spürbar ein. Eine künstlich konstruierte Komplexität des Systems gefährdet die zwingend notwendige Balance im pädagogischen Dreieck.

Erfahrene Lehrer warnen seit langem, dass das Feu sacré zu ersticken drohe unter einem Papierberg an Dekreten und Direktiven, Reglementen und Vorgaben. Viele erleben es so: Unnötige Konferenzen und Zusatzaufgaben rauben Zeit und lenken vom Wesentlichen ab. Das wirkt sich aus.

Camus‘ Lehrer: „Il aimait passionément son métier.“

Die Schule lebt vom inneren Feuer der Lehrpersonen. Sie ist ein unersetzliches Kapital. Der Leidenschaft für die Welt entspringt das vitale Engagement für den pädagogischen Auftrag. Das ist die alte Idee der Pädagogik. Diese humane Energie beflügelt Kinder.

Jede administrative Massnahme, jede behördliche Vorschrift, jede Schulreform müsste demzufolge doch bewirken, dass Lehrerinnen und Lehrer, um nochmals an Camus‘ Wort zu erinnern, ihren Beruf leidenschaftlich lieben können – stimulierende Voraussetzung für einen guten Unterricht. Basis dazu ist die Balance im Bildungsdreieck.

 

[1] Vgl. Peter von Matt (2001), Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München/Wien: Carl Hanser Verlag, S. 91.

[2] Albert Camus (1997): Der erste Mensch. Reinbek b. Hamburg, S. 125, 128. Im autobiographischen Roman heisst Camus’ Lehrer Monsieur Bernard.

[3] Ebda, S. 282 [Datum des Briefes: 19.11.1957].

[4] Roland Reichenbach (2015), „Kein Mensch ist bildungsfern,“ in: https://www.srf.ch/wissen/lernen-gewusst-wie/kein-mensch-ist-bildungsfern [Status: 27.01.2020].

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Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/ https://condorcet.ch/2019/08/unterrichten-ist-segeln-in-offener-see-nicht-bahnfahren/#respond Sun, 18 Aug 2019 13:44:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=1964 Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet einen Horizont. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen tragen eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn von Condorcet-Autor Carl Bossard

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Carl Bossard

In der Schweiz starten wie jedes Jahr im Spätsommer rund 120‘000 Lehrpersonen in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start in ein neues Schuljahr. Jedem Anfang wohnt ja – wie Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“ schreibt – ein Zauber inne. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Lernen als Hinausfahren ins Offene

“Hinaus, hinaus ins Offene!”, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich vielleicht auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Das ist nicht immer bequem und mit unbekannten Variablen und Risiken verbunden. Das ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren – immer im gleichen Geleise. Nein, Unterrichten heisst etwas wagen und sich auch auf Nebenwege getrauen – aber mit einem Kompass für die richtige Richtung und mit den Koordinaten des gemeinsamen Ziels.

Das Unwägbare und Unberechenbare des Unterrichts

Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und das Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie in der Seefahrt lässt sich nicht alles planen, aber man muss auf die Fahrt, auf die gemeinsame Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein – und die Richtung kennen. Ob man aber immer und mit allen ankommt, das ist letztlich nie ganz sicher. Und doch darf Ankommen kein Zufall bleiben.

In diesem Sinne sind Schulleitung und Lehrpersonen ja nicht verantwortlich für Wind und Wellen, für Sturm und Strömung, für Nacht und Nebel, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord.

Alexander von Humboldt statue outside Humboldt University Berlin, Germany

Verantwortung braucht Freiheit

Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt auch für die Schule. Freiheit sei für die Bildung „die erste und unerlässliche Bedingung“,[1] schrieb der Reformer des preussischen Bildungswesens und Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt.

 

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen ihre Kinder zur Autonomie führen, zum Vermögen, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen“,[2] wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert hat. Eben: die eigene Freiheit ergreifen.

Viele Kinder werden in der Schule frei

Wo aber werden viele Kinder frei? Nicht zu Hause, nicht in engen sozialen Verhältnissen, sondern in der Weite der Schule – dank einer guten Bildung, dank autonomer Lehrpersonen. Beredtes Beispiel ist Albert Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation und Literaturnobelpreisträger von 1957. Ohne die Schule und ohne seinen Lehrer Louis Germain wäre Camus‘ Freiheit als Aufbruch aus dem harten, armseligen Milieu seiner Familie nicht möglich gewesen.[3]

Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit.

Und darin liegt das Paradoxon: Die überall forcierte Regulierung steht im Widerspruch zur geforderten und notwendigen Freiheit. Das bringt Schulen in Enge und Atemnot. „Schule in Ketten“ resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre.[4] Doch zielgerichtet navigieren und situativ richtig reagieren ruft nach Freiheit.

Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare

Freiheit ist die Freiheit des Handelns. Darin liegt das pädagogische Elixier. Nur schon deshalb muss die Schule – auch und gerade in den Zeiten sozialtechnologischer und ideologischer Steuerungs- und Indoktrinationsphantasien – ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs zielorientierte und kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder. Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare.

Und in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar voraussagbar. Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorschriften; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich anspringt, können wir nicht ins Numerische outsourcen oder über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt

Regen voraussagen kann jeder, sagt eine indianische Weisheit; aufbrechen und hinausfahren, das zähle. Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die Wellen wogen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Jahresfahrt die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

 

[1] Wilhelm von Humboldt (2006): Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart: Reclam, S. 22.

[2] Immanuel Kant (1999): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Philosophische Bibliothek, Bd. Nr. 512. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 20.

[3] Albert Camus (1994): Le premier homme. Editions Gallimard, S. 180f.

[4] Walter Meier (2015): Schule in Ketten. Sachroman. Muri b.Bern.

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