Bilinguismus - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Fri, 25 Sep 2020 05:27:39 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bilinguismus - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Zwei Städte mit Bildungsproblemen, zwei Wahlkämpfe ohne Bildungsthemen https://condorcet.ch/2020/09/zwei-staedte-mit-bildungsproblemen-zwei-wahlkaempfe-ohne-bildungsthemen/ https://condorcet.ch/2020/09/zwei-staedte-mit-bildungsproblemen-zwei-wahlkaempfe-ohne-bildungsthemen/#comments Fri, 25 Sep 2020 05:27:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=6466

Unser Condorcet-Autor Alain Pichard ist in Basel aufgewachsen und lebt seit über 40 Jahren in Biel. Condorcet-Autor Roland Stark, gebürtiger Appenzeller, wirkt seit Jahrzehnten in Basel. In beiden Städten finden derzeit Wahlen statt. In beiden Städten gibt es Bildungsprobleme und beide werden links regiert. Roland Stark und Alain Pichard wundern sich über das Schweigen der linken Parteien zu Bildungsthemen.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): In Basel aufgewachsen, seit über 40 Jahren in Biel wohnhaft.
Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Grossratspräsident, Heilpädagoge

Gewaltige Unterschiede

Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede nicht frappanter sein. Im Nordwesten eine reiche Chemiemetropole, in der 200’000 Menschen leben, am Jurasüdfuss eine einst stolze und heute verarmte Uhrenstadt mit 55’000 Einwohnern. Die Stadt am Rhein budgetiert sogar dieses Jahr einen Überschuss von 140 Millionen Franken und weiss nicht, was sie mit dem Geld anfangen soll, die Stadt am Bielersee hat mittlerweile 800’000 Fr. Schulden und prognostiziert einen Steuereinbruch von 40 %.

Die Stadt-Basel ist zugleich ein Kanton, während die Stadt Biel eine Gemeinde des grossen Kantons Bern ist.

Die Stadt Basel gibt pro Schülerin und Schüler 20’000 Fr. aus (was zusammen mit dem Stadtkanton Genf einsame Spitze bedeutet), der Kanton Bern, dem die Stadt Biel angehört, bringt es gerade einmal auf 12’000 Fr.

Die Gemeinsamkeiten

Miserable Schulleistungen bei den ÜGK 2019.

Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten, welche die beiden Städte verbinden. Beide werden seit Jahren von einer links-grünen Mehrheit regiert, beide haben sie viele Migrantenkinder einzuschulen und beide sind auf ihre Art Spitzenreiter.

Die Stadt Basel führt seit Jahren die Tabelle der schlechtesten Schulleistungen in allen Checks, Tests und Kontrollen an und die Stadt Biel hält seit Jahren den Spitzenplatz bei den Sozialstatistiken. 11% seiner Einwohner sind von der Fürsorge abhängig, jeder 5. Jugendliche bezieht Unterstützungsleistungen. Beide Städte haben einen markant hohen Anteil von Lernenden in der schwächsten Lesegruppe und diese werden nach neun Schuljahren unsere Schule vermutlich als Illetristen verlassen. In beiden Städten machen nur 30% nach der 9-jährigen Volksschule eine Lehre. In beiden Städten werden Eltern und Schüler mit der verkorksten Mehrsprachendidaktik à la Passepartout gequält und in beiden Städten loben die Bildungsdirektoren ihre Lehrpersonen in höchsten Tönen als die besten im Lande.

Biel: Seit Jahren an der Spitze

In beiden Städten traut man aber den Lehrkräften nicht besonders, vor allem, wenn sie sich an die Öffentlichkeit wenden. In Biel versuchte man es mit einem Kommunikationskonzept (das allerdings inzwischen schubladisiert wurde), in Basel werden unbotmässige Lehrkräfte des Öfteren und unter peinlichem Schweigen der Lehrerorganisationen zitiert und zu demontieren versucht.

In beiden Städten finden derzeit Wahlen statt. In Biel kommenden Sonntag, in Basel im Oktober und in beiden Städten scheinen die oben erwähnten Bildungsprobleme keine Rolle zu spielen, vor allem nicht bei den Parteien des rot-grünen Spektrums. Obgleich in der Öffentlichkeit, vor allem von den betroffenen Eltern, schulische Probleme und bildungspolitische Anliegen häufig kontrovers diskutiert werden, spielen diese Themen im Basler Wahlkampf keine Rolle.

Mit den geleiteten Schulen entstand eine neue Korporalelite, welche den Auftrag hatte, quasi als Scharnier die reibungslose Umsetzung von Reformen zu garantieren. Firmen wie Price Water Cooper entwickelten sogenannte Change Management-Konzepte.

Bildung war einmal ein Kernanliegen der linken Parteien

Linke Lehrer schlossen sich den VPOD-Lehrergruppen an.

Angesichts der Historie überrascht dies. In den 70er Jahren waren Bildungsfragen en vogue. Die SP hatte mehrere Arbeitsgruppen, die sich mit Chancengleichheit, Noten, Selektion und Demokratisierung des Unterrichts beschäftigten. Junge, linke Lehrkräfte organisierten sich nicht mehr in den altehrwürdigen Standesorganisationen, sondern zogen die aufmüpfigen neu gegründeten VPOD-Lehrergruppen oder die POCH-nahe Gewerkschaft Erziehung vor. Markante linke Persönlichkeiten prägten die Bildungsdebatte (Felix Mattmüller in Basel, Arthur Villard in Biel), Initiativen wurden gestartet, Schulsysteme durchlässiger gemacht.

Harmos veränderte fast alles

In den 90er Jahren veränderte sich die Stimmung markant. Sinnigerweise ging diese Entwicklung einher mit der massiven Ausweitung der Bildungsausgaben. Es wurden Fachstellen à gogo gegründet, die Lehrerbildung wurde universitär umgebaut, viele neue Lehrerkategorien entstanden (individuelle Förderung, Assistenzlehrer, DaZ-Lehrkräfte), vor allem aber entstanden in den kantonalen Erziehungsdirektionen neue Planungsstellen mit dem Auftrag, Konzepte für ein umfassendes Bildungsmonitoring zu entwickeln. Die OECD-Ideologie der Vergleichbarkeit und des Outputs schlich sich allmählich in den schulischen Alltag. PISA-Tests führten zu aberwitzigen Interpretationen und lösten eine Reformhektik aus, welche die Lehrkräfte vor Ort regelrecht durchrüttelten. Mit den geleiteten Schulen entstand eine neue Korporalelite, welche den Auftrag hatte, quasi als Scharnier die reibungslose Umsetzung von Reformen zu garantieren. Firmen wie Price Water Cooper entwickelten sogenannte Change Management-Konzepte. HarmoS schliesslich brach den einst wilden Reformeifer der linken Parteien vollends. Zahlreiche Lehrkräfte und linke Bildungswissenschaftler wechselten die Seiten, tauschten das harte Geschäft des Unterrichts mit Bürojobs in der Verwaltung. Es entstand die berüchtigte Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft, deren Ziele Kontrolle und Auftragssicherheit waren. Das einstmalige Kernthema Bildung und Erziehung verschwand innerhalb der SP fast vollständig von der Bildfläche.

Schweigen und Ersatzreligion

Katja Christ, GLP, eine Ausnahme.

So erstaunt es nicht, dass gerade in den linken Parteien bezüglich Bildung keine frischen Ideen mehr entstehen, um die real existierenden Probleme zu lösen. Irgendwie macht sich ein Fatalismus breit.

In der Stadt Basel kämpft neben den ehemaligen SP-Präsidenten Daniel Goepfert und Roland Stark einzig noch die grünliberale Katja Christ gegen diese Entwicklungen an und bot etwa dem damaligen Bildungsdirektor Christoph Eymann die Stirn im Kampf gegen das Lehrmittel Passepartout. Sie wurde mit der Wahl in den Nationalrat belohnt, ein Zeichen dafür, dass Bildungsthemen durchaus auf ein Interesse stossen. Denn wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihre Kinder in der Schule nichts mehr lernen, werden sie nervös.

In Biel hat man derweil eine bildungspolitische Ersatzreligion gefunden. Alle Parteien setzen sich für den Bilinguismus ein. Man will, dass die Schüler der zweisprachigen Seelandmetropole auch zweisprachig unterrichtet werden. Das führt mitunter zu grotesken Überschneidungen in den Wahlprospekten.

Die Grüne Partei hat neben dem Bilinguismus überhaupt keine Bildungspositionen.

So lässt sich in den FDP- und SP-Traktaten unabhängig voneinander der Satz finden: «Bilinguismus ist die DNA der Stadt Biel».

Bilinguismus als Ideologie

Die Grüne Partei hat neben dem Bilinguismus überhaupt keine Bildungspositionen. Bei der GLP findet man immerhin noch der Satz: «Bildungsinvestitionen müssen direkt im Unterricht ankommen und nicht in neue Fachstellen investiert werden».

 

Lehrmittelfreiheit, Ausstieg aus dem Passepartout-Konzept, Investitionen in das Teamteaching, Rückfahren der Testmanie, Eindämmung der zahlreichen Beratungsstellen und Umschichtung der Geldmittel, Methodenfreiheit usw. Bildungsthemen gäbe es genug.

Der Sündenfall

So wurde in Biel unter einer linken Regierung sogar eine staatliche finanzierte Privatschule im Mittelstandquartier Beaumont eingerichtet, mit Zulassungsbeschränkung, während die Aussen- quartiere die gesamte Wucht der Migration zu schultern haben. Einen krasseren Verrat an den ureigenen Prinzipien linker Bildungspolitik kann man sich kaum mehr vorstellen.

Lehrmittelfreiheit, Ausstieg aus dem Passepartout-Konzept, Investitionen in das Teamteaching, Rückfahren der Testmanie, Eindämmung der zahlreichen Beratungsstellen und Umschichtung der Geldmittel, Methodenfreiheit usw. Bildungsthemen gäbe es genug.

Die Karawane der linken Parteien und ihrer Repräsentanten zieht in neue Gefilde. Klimapolitik, Kampf für das Velo, Verkehrspolitik, Baupolitik, Mieten, Energiepolitik sind die aktuellen «Schlachtfelder».

Basel: Dunkle Wolken trotz unermesslicher Geldquellen.

In der Stadt Basel mit ihren zurzeit unermesslichen Geldquellen kann dies noch einige Zeit gut gehen. Man rekrutiert seine Lehrlinge eben aus den Nachbarkantonen und stellt das Heer der unzureichend ausgebildeten Schulabgänger mit zahlreichen Integrationsschlaufen ruhig.

In Biel hingegen könnte sich diese Politik früher rächen. Dann nämlich, wenn man merkt, dass der Arbeitsmarkt, gute Leser und Mathematiker verlangt und als erste Fremdsprache Englisch als unabdingbar erachtet. Und das Geld für die Ruhigstellung der noch zu intergierenden jungen Menschen ist in Biel ohnehin kaum vorhanden.

In beiden Städten geht es aber um die Chancengerechtigkeit und den essentiell wichtigen Bildungserfolg vieler Kinder aus der unterprivilegierten Schicht, vor allem aus den Migrantenkreisen. Sie ständig zu den Sündenböcken einer verfehlten Bildungspolitik zu machen, ist keine Option. Diese Kinder sind willig, bildungshungrig und entwicklungsfähig. Man darf sie nicht mit billigen Pseudoparolen oder Sonntagspredigten abspeisen.

Alain Pichard und Roland Stark

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Wissenschaft und Pseudowissenschaft in der Sprachdidaktik https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/ https://condorcet.ch/2020/02/wissenschaft-und-pseudowissenschaft-in-der-sprachdidaktik/#comments Sat, 22 Feb 2020 20:04:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=4091

Der Mehrsprachigkeitsforscher Berthele plädiert in einem brisanten Artikel für strengere Massstäbe bei der Auswertung von Forschungsergebnissen und bei der Abgabe von Empfehlungen an die Bildungspolitiker im Bereich Fremdsprachenunterricht. Und er tut dies nicht ohne Selbstkritik. Etwas, was den Passepartout- und Frühfranzösisch-Promotoren auch anstehen würde. Condorcet-Autor Felix Schmutz übersetzte den bemerkenswerten Artikel aus dem Englischen und stellt ihn den Condorcet-Leserinnen und Lesern vor.

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Professor Raphael Berthele, Universität Freiburg: Es wurde nicht unterschieden zwischen Hypothese und Evidenz.
Felix Schmutz, BL:
Übersetzte den Artikel von Prof. Berthele.

Wir erinnern uns: Der Fremdsprachenunterricht in Schweizer Schulen beruht auf dem Sprachenkonzept der EDK von 2004. Im Wesentlichen brachte er zwei Neuerungen:

1. die Vorverlegung zweier Fremdsprachen in die 3. und 5. Primarklasse für alle Kinder,

2. die Einführung einer neuen Unterrichtsmethode, der so genannten «Mehrsprachigkeitsdidaktik».

Massgeblich stützte sich die EDK auf Expertenmeinungen, die eine markante Verbesserung der schulischen Leistungen versprachen. In seinem Artikel im «Journal of the European Second Language Association» von 2019 äussert nun aber Raphael Berthele, der frühere Leiter des Instituts für Mehrsprachigkeitsforschung der Universität Fribourg, grosse Bedenken gegen die wissenschaftliche Qualität der Empfehlungen, welche die Experten zuhanden der Bildungspolitik abgaben.[1]

An zwei Fallstudien zeigt er auf, wie leicht sich bei der Erforschung des Zweitsprachenerwerbs abgesicherte Wissenschaft mit reinem «Fürwahrhalten» (doxa) und Pseudowissenschaft vermischt hat. Er legt dar, dass im Falle des schweizerischen Sprachenkonzeptes oft nicht unterschieden wurde zwischen programmatisch (= spekulativ) formulierten Hypothesen und gesicherten evidenzbasierten Erkenntnissen[2], dass ausserdem evidenzbasierte Erkenntnisse, die auf eine bestimmte Situation zutrafen, unzulässigerweise auf Situationen mit andern Bedingungen übertragen wurden.[3] Das führte in der Konsequenz zu unsicheren Schlussfolgerungen, die sich nachteilig auf die Umsetzung im Schulbereich  auswirken konnten.

Es wurde nicht unterschieden zwischen hypothetisch (spekulativ) und evident (datenbasiert).

Korrekt durchgeführte experimentelle Studien zu Transferwirkungen, die beim Lernen neuer Sprachen entstehen, weisen ebenfalls ihre Tücken auf: Wenn es darum geht, Lerneffekte (Interdependenz) nachzuweisen, können leicht Korrelationen als Kausalitäten interpretiert werden, obwohl auch andere, nicht untersuchte Parameter für die Korrelation verantwortlich sein könnten: z.B. Auswahl der Probandengruppe, generelle kognitive Voraussetzungen.

Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst.

Ferner besteht die Gefahr, dass bei unerwarteten Ergebnissen die zugrunde gelegte Hypothese nachträglich verändert wird, damit die gewonnenen Daten mit der Hypothese wieder übereinstimmen, wobei vergessen geht, dass die neue Hypothese mit einem zusätzlichen Test verifiziert werden müsste. Tritt ein erwarteter Effekt nicht ein, wird zur Rettung der Hypothese ein Schwellenwert angenommen, bei dessen Überschreitung die Theorie erst ihre Gültigkeit erweisen solle. Mit solchen Tricks überlisten sich die Forscher selbst, um die nach ihrer Überzeugung erwünschten Lerneffekte bestätigt zu bekommen.

Jedenfalls warnt Berthele eindringlich davor, allgemeine Empfehlungen zur Sprachenpolitik und zum Unterricht abzugeben, wenn nicht mehrere unabhängige Studien vorhanden sind, deren Ergebnisse in die gleiche Richtung tendieren.[4]

Bertheles bemerkenswerte Selbstkritik

Im ersten Fallbeispiel nimmt sich Berthele mit bewundernswerter Selbstkritik selbst an der Nase. 2006 erklärte er auf die Frage eines Journalisten in «La liberté» am 22.9., ob Primarschulkinder mit dem Lernen von zwei Fremdsprachen nicht überfordert seien:

«You have only to look at the African example to prove the opposite. There, it is not rare to see children growing up with four or five languages, and that does not pose any problems.”[5]

Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem.

Von dieser Aussage distanziert sich Berthele heute in aller Form. Sie sei ein Beispiel für unzulässige Übertragung, ja für Ignoranz gewesen: Die mehrsprachigen Bedingungen, unter denen die Kinder in Afrika mit geringer Alphabetisierung aufwüchsen, seien nicht übertragbar auf die Lernbedingungen im westlichen Bildungssystem. Seine damalige Äusserung sei von unwissenschaftlichen Faktoren beeinflusst gewesen: von seiner Begeisterung für mehrsprachiges Lernen, von programmatischer, nicht evidenz-basierter Fachliteratur, vom Erwartungsdruck aufgrund seiner kürzlichen Ernennung zum Professor am Institut für Mehrsprachigkeit, das speziell zur Beförderung der Mehrsprachigkeitsdidaktik gegründet worden und auf externe Finanzierung angewiesen war[6], von der Bestätigung durch Kollegen mit den gleichen Überzeugungen («group conformity bias»).

Völlig unzulässige Übertragungen

In eigenen empirischen Forschungen untersuchte er die verbreitete und plausible These, inwiefern sorgfältiger Unterricht portugiesischer Kinder in ihrer Muttersprache deren Fähigkeiten in der Schweizer Schulsprache (Französisch bzw. Deutsch) förderten.

Dass es zwischensprachliche Transfereffekte gibt, ist tatsächlich wissenschaftlich erhärtet. Allerdings – und das ist das entscheidende Handicap – nicht durch Studien, die im schulischen Umfeld (d.h. im Unterricht) durchgeführt wurden, sondern durch Ergebnisse, die von mehrsprachigen Probanden oder in psycholinguistischen Laborexperimenten gewonnen wurden. Zudem befasst sich die Mehrheit der Studien mit negativen Transfereffekten. Diese Studien sind demnach ein Beispiel für unzulässige Übertragungen («surrogate outcomes») von speziellen Situationen auf die schulische bzw. für Umdeutungen von negativen auf positive Effekte.[7]

Bertheles eigene Daten aus dem schulischen Umfeld zeigen nun aber, dass es wohl positive Lerneffekte gibt, allerdings funktionieren sie in beide Richtungen: sowohl vom Portugiesischen zur Schulsprache als auch von der Schulsprache zur portugiesischen Muttersprache, ohne eine statistisch signifikante Präferenz. Die Gründe für die Korrelation können nicht bestimmt werden. Sie könnten auch in kognitiven oder motivationalen Unterschieden liegen. Jedenfalls liefern die Daten keinen ausreichenden Beweis für die Richtigkeit der These, dass man in die Migrantensprache investieren müsse, um die Leistung in der Schulsprache zu verbessern.[8]

Zwei Fremdsprachen in der Primarschule: Fallstudie 2

 Das Fremdsprachenkonzept von 2004 hatte den Schönheitsfehler, dass man sich nicht auf die Reihenfolge der Fremdsprachen einigen konnte: Die Mehrheit der Kantone beginnt mit Englisch, die Kantone VS, FR, BE, SO, BL und BS beginnen mit Französisch. Diesen Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten.

Den Mangel an Harmonisierung rechtfertigte man damit, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen dasselbe Niveau erreicht würde, da ältere Kinder die zweite Sprache leichter lernten, wenn sie vorher schon eine andere Fremdsprache gelernt hätten. Das war spekulativ und steht auf wissenschaftlich wackligen Füssen.

Damit sind wir wiederum bei einer These, die wissenschaftlich auf wackligen Füssen steht:

  1. In der Forschung besteht Einigkeit, dass «an earlier start of Foreign Language Teaching does not consistently lead to better proficiency” (ein früher Start des Fremdsprachenunterrichts nicht konsequenterweise zu besserer Leistung führt). [9]
  2. Bei der Frage, welche Sprache zuerst gelernt werden soll (Französisch oder Englisch), muss zwischen politischen Gründen und wissenschaftlich bewiesenen Lerneffekten unterschieden werden.
  3. Als Beweis für den frühen Lernbeginn führten Imgrund und Le Pape 2005 Erkenntnisse aus der Hirnforschung an: Beim jüngeren Gehirn sind mehr Gehirnaktivierungsmuster in spezifischen Arealen zu beobachten als bei älteren. Die neurowissenschaftliche Studie, auf die sich Imgrund und Le Pape bezogen, ergab jedoch keine Resultate in Bezug auf unterschiedliche Leistungen in beiden Altersstufen. Damit sind die Beobachtungen der Aktivierungsmuster für die Frage des frühen Lernbeginns von Fremdsprachen völlig irrelevant. Mit Bezug auf eine kritische Studie von McCabe und Castel meint Berthele, dass Forscher gerne Hirnforschung zitieren, um ihre Thesen zu untermauern, da Lesende dadurch leicht zu beeindrucken seien.[10]
  4. Ob ein früher Unterrichtsbeginn mit einer Fremdsprache sich tatsächlich auf die Leistung auswirkt, müsste in Vergleichsstudien eruiert werden, bei denen mehrere Kohorten in unterschiedlichen Klassenstufen mit dem Unterricht beginnen.
  5. Zum Transfer von Fremdsprache 1 auf Fremdsprache 2 und umgekehrt: Die Hypothese ist stark beeinflusst von der holistischen Theorie eines mehrsprachigen Repertoires im Gehirn, die ein grosser Teil spekulativ-programmatischer Fachliteratur suggeriert. Aus eigenen Untersuchungen zu rezeptiven Kompetenzen (Hörverstehen und Lesen) kann Berthele bestätigen, dass es spontane Transfers von einer Sprache zur andern gibt. In bilingualen Umgebungen (z.B. Baskenland, Südtirol) sind die Resultate nicht eindeutig: Manchmal gibt es Effekte, manchmal nicht. Diese Situation kann jedoch nicht auf das systematische schulische Lernen der dritten Fremdsprache in der Schweiz mit 2 bis 4 Wochenlektionen angewendet werden – eine unzulässige Übertragung («surrogate outcomes»). Zudem sind die beobachteten positiven Transfers an Erwachsenen und an Linguistikstudenten festgestellt worden, bei denen von begabten Sprachlernern ausgegangen werden kann, was man nicht mit Schweizer Primarschülern vergleichen kann.
  6. Zur oft angeführten Vergleichsstudie von Haenni Hoti 2011: Hier wurden Primarklassen verglichen, die mit einer bzw. mit zwei Fremdsprachen unterrichtet wurden. Die Klassen, die Französisch als Zweitfremdsprache lernten, wiesen im 5. Schuljahr bessere Leistungen im Hören und Lesen auf als diejenigen, die nur Französisch hatten. Allerdings war der Effekt in der meist unerwähnten Folgestudie von Heinzmann, 2009, ein Jahr später nicht mehr erkennbar. Die Verfasser nehmen an, das Nullresultat wäre mit besseren Tests positiver ausgefallen, ein Fall von CARKING (Kritisieren, nachdem die Resultate bekannt sind).[11]
  7. Zur Studie von Manno 2017: In dieser korrekt durchgeführten Vergleichsstudie fand der Forscher ebenfalls keine positiven Transfereffekte bei Kindern, die Französisch als zweite Fremdsprache lernten. Allerdings traut Manno seinen Resultaten nicht, sondern operiert mit einem nachträglich angenommenen «Schwellenwert», ein Fall von HARKING (Hypothesen bilden, nachdem die Daten ausgewertet sind, ohne diese neu zu überprüfen).

Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin, 1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen.

Christine Le Pape-Racine:
Frivole Zitate aus der Hirnforschung zusammengebastelt.
Bild: HP Paperace

So kommt Berthele zum Schluss, dass es sich bei der Theorie des positiven Transfers um «vague theories and an optimistic view of language teaching and learning» (vage Theorien und ein optimistisches Bild vom Sprachunterricht und vom Sprachenlernen) handele. Er bekennt: «The more I learn about transfer, the less I feel comfortable when asked to give recommendations.” (Je mehr ich über Transferwirkungen lerne, desto weniger fühle ich mich wohl, wenn ich gebeten werden, Empfehlungen abzugeben.)[12]

Fazit

 Berthele empfiehlt den Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft, sich künftig streng wissenschaftlicher Erkenntnismethoden zu bedienen und nicht in spekulativen Annahmen stecken zu bleiben. Die Gefahr der Pseudowissenschaft bestehe darin,  1. aus Ignoranz falsche Empfehlungen an die Politik abzugeben, 2. bei unsicherer Evidenz pädagogische Innovationen auszulösen, die zum Scheitern verurteilt seien, und 3. der eigenen Disziplin zu schaden, indem man schlechte Wissenschaft, vage Theorien verkündet und Studien so zurechtbiegt, dass sie die eigenen Überzeugungen bestätigen, nicht aber fundierte Wahrheiten aufzeigen. Eigene Werte (Mehrsprachigkeit, kulturelle Offenheit) zu vertreten, ist erwünscht, jedoch sollten einem diese bei der Forschung nicht in die Quere kommen, wenn die Resultate anders ausfallen, als man es gerne hätte.

 

[1] Berthele, R. (2019). Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience. Journal of the European Second Language Association, 3(1), 1–11. DOI: https://doi.org/10.22599/jesla.50

[2] «… oftentimes policy is not based on robust scholarly evidence» (Oft beruhen politische Programme nicht auf gesicherten wissenschaftlichen Beweisen.»), Berthele, S. 1

[3]  «surrogate outcomes» (stellvertretend angenommene Wirkungen), Berthele, S. 4

[4] «converging evidence», Berthele, S. 3

[5] «Sie müssen nur das afrikanische Beispiel ansehen, um das Gegenteil zu beweisen. Dort geschieht es nicht selten, dass Kinder mit vier oder fünf Sprachen aufwachsen und dass dabei keinerlei Probleme entstehen.» Berthele, S. 1

[6] “my institution expected me and my colleagues to acquire external funding for multilingualism research, funding that was and still is associated with a multilingual policy agenda”, Berthele, p.2

[7] Berthele, S. 4

[8] «To sum up, the evidence for causal transfer effects from L1 to L2 in the literacy domain is inconclusive … and the evidence for positive effects of Heritage Language instruction on L2 is scarce.” (Zusammenfassend ist der Beweis für kausale Transfereffekte von L1 zu L2 im Bereich der Sprachbeherrschung nicht schlüssig … und der Beweis für positive Effekte von der Migrantensprache zu L2 schwach.), Berthele, S. 5

[9] Berthele, S. 6

[10] Berthele, S. 6

[11] Berthele, S. 7

[12] Berthele, S. 7

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Wenn der Bilinguismus zum Selbstzweck wird https://condorcet.ch/2020/02/wenn-der-bilinguismus-zum-selbstzweck-wird/ https://condorcet.ch/2020/02/wenn-der-bilinguismus-zum-selbstzweck-wird/#respond Tue, 04 Feb 2020 10:44:20 +0000 https://condorcet.ch/?p=3781

Der Bilinguismus scheint zu einem Marketingartikel und einem Tummelfeld für Subventionsjäger zu verkommen. Das jedenfalls ist die Meinung unseres Condorcet-Autors Alain Pichard, der hier über seine Erfahrungen in Biel schreibt.

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Alain Pichard, Lehrer Sek1: Bilinguismus darf nicht zum Selbstzweck werden.

Ich bin in einem klassischen “Mehrsprachenhaushalt” aufgewachsen. Mit meinem Vater, einem Waadtländer, sprach ich französisch, mit meiner Mutter, einer Berlinerin, hochdeutsch, und wenn wir alle beisammen waren, unterhielten wir uns auf Englisch. In der Schule hat mir die heute so viel gepriesene Mehrsprachigkeit allerdings nicht viel genutzt. Ich hatte passable, aber nicht überragende Noten. Der Grund war natürlich einfach: Ich lernte nicht und verliess mich auf meine in der Familie erworbenen Kenntnisse (heute nennen wir das Sprachbad).

Charles Mottet: Sprache ist Kultur

1975 traf ich im Staatlichen Lehrerseminar in Biel auf den gefürchteten Charles Mottet, einen Französischlehrer alter Schule. Ich erinnere mich noch genau, wie er mir die Beurteilung des ersten schriftlichen Tests zurückgab. Es war eine 2! «Das, Pichard», raunzte er, «war nichts, gar nichts! Merken Sie sich, Sprache heisst nicht quatschen, Sprache ist viel mehr. Sprache ist eine Kultur, Sprache ist Analyse, Sprache ist Liebe!» Ich verinnerlichte seine Mahnung und begann zum ersten Mal in meinem Leben, Französisch richtig zu lernen, Vokabeln zu büffeln, Texte gründlich zu analysieren. Und mir eröffnete sich eine andere Welt, die Welt der Frankophilie!

«Wissen Sie», fragte mich Monsieur Mottet einmal in einem persönlichen Gespräch, «warum wir Bieler so gut Französisch sprechen?» Und er gab die Antwort gleich selbst: «Weil wir hier eine Minderheit sind. Wir grenzen uns ab und pflegen unsere Sprache!»

Leidenschaftlicher Französischlehrer, unbegabter Didaktiker

Charles Mottet war ein leidenschaftlicher Französischlehrer, aber ein schrecklich unbegabter Didaktiker. Wer seinem Ideal der Sprache nicht entsprach, den konnte er regelrecht zertrümmern.

Was mag sich wohl dieser Mann, der letztes Jahr im hohen Alter von 90 Jahren gestorben ist, gedacht haben, wenn er mit dem grassierenden Kult um den Bieler Bilinguismus konfrontiert wurde?

Die Filière Bilingue, eine staatlich finanzierte Privatschule für den Mittelstand. Bild: Bernerzeitung

Die Filière Bilingue, ein Marketingprojekt

Mit Bilinguismus kann man in Biel heute alles erreichen und alles rechtfertigen. Mittelmässige Bühnenproduktionen erhalten mit dem Markenzeichen «bilingue» zusätzliche Subventionen. In Biel wurde unter Leitung einer mehrheitlich linken Stadtregierung eine staatlich subventionierte Privatschule im Mittelstands-Quartier Beaumont eingerichtet: Die Filière Bilingue! Dass gleichzeitig in den Aussenquartieren die Realklassen mit bis zu 100% Kindern besetzt sind, die zu Hause weder deutsch noch französisch sprechen, kümmert den Mittelstand kaum.

Forum die Bilinguisme: eine Sprachpolizei?

Mit dem Büro für Zweisprachigkeit gibt es eine hübsche und gut alimentierte  Sprachpolizei, und neuerdings macht die wohl dämlichste Weisung die Runde, wonach Werbung in Biel nur noch zweisprachig erscheinen dürfe. Mit dem neuen

Passepartout: oberflächliche Mehrsprachendidaktik

Ein paar Ausdrücke in Englisch für den Sportplatz, in Französisch für die Küche, in Deutsch fürs Telefonieren. Sprachliche Kompetenzhäppchen als Bildungsziel, Fremdsprachenunterricht auf dem Niveau eines Reiseführers.

Lehrmittel Passepartout wird einer oberflächlichen Mehrsprachendidaktik gehuldigt, die verspricht: Nicht mehr lernen, keine Vokabeln büffeln, keine Grammatik, einfach rein ins Sprachbad. Das Gymnasium hat folgerichtig auch die schriftlichen Aufnahmeprüfungen im Fach Französisch abgeschafft und überprüft nur noch mündlich. Ein paar Ausdrücke in Englisch für den Sportplatz, in Französisch für die Küche, in Deutsch fürs Telefonieren. Sprachliche Kompetenzhäppchen als Bildungsziel, Fremdsprachenunterricht auf dem Niveau eines Reiseführers.

Auf der Strecke bleibt die Chancengerechtigkeit

Auf der Strecke bleiben die Chancengerechtigkeit, das gründliche Lernen einer der beiden «Mutter»sprachen, vielerorts ein kultureller Tiefgang, und mit dem Zweisprachenzwang für die Werbeindustrie eine gewisse Weltläufigkeit, die das multikulturelle Biel immer auszeichnete.  Die Ideologisierung eines ursprünglich sympathischen Anliegens droht uns direkt in die Provinzialität zu führen. Mein Vater übrigens, der ordentlich Deutsch sprach, sorgte dafür, dass ich in erster Linie die deutsche Muttersprache beherrschte. Er befahl mir schon früh, deutschsprachige Literatur zu lesen, und ich musste ihm regelmässig über das Gelesene rapportieren. Er war überzeugt, dass man in der Muttersprache sattelfest sein müsse, damit man auch andere Sprachen lernen könne.

Vor einiger Zeit besuchten meine Frau und ich ein rein französisches Kabarett im Nebia. Während der Vorstellung sahen wir uns entgeistert an. Während sich die französischsprachigen Besucher vor Lachen kugelten und die rasend schnell gesprochenen Pointen genossen, verstanden wir beide wohl nur die Hälfte des Gesagten. Das war selbst für mich eine Nummer zu gross. Und ich erinnerte mich an meinen ehemaligen Französischlehrer: «Sprache ist nicht quatschen, Sprache ist Kultur!»

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