Aufklärer - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 30 Oct 2023 11:33:15 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Aufklärer - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ein Mathematiker und Menschenfreund https://condorcet.ch/2023/10/ein-mathematiker-und-menschenfreund/ https://condorcet.ch/2023/10/ein-mathematiker-und-menschenfreund/#respond Sat, 21 Oct 2023 12:00:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=15155

Professor Walter Krämer ist Ökonom und war bis zu seiner Emeritierung 2018 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde er durch populärwissenschaftliche Literatur zur Statistik und als Verfechter der deutschen Sprache. In seinem Beitrag erklärt uns Professor Krämer eine der grossen Entdeckungen des Mathematikers und Philosophen Jean Marie de Condorcet: das nach ihm benannte Paradoxon.

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Jeder Student der Soziologie oder Wirtschaftswissenschaften begegnet in mindestens einer Vorlesung dem französischen Marquis der Condorcet, mit den schönen Vornamen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat. Denn immer, wenn es darum geht, aus den Wünschen, Vorlieben und individuellen Ranglisten von Einzelpersonen eine Präferenzordnung der Gesamtgesellschaft herzustellen, treten zuweilen sehr irritierende Phänomene auf. Das hat als erster Condorcet erkannt. Bei einer Wahl zum beliebtesten Schweizer Sportler, mit den Kandidaten Roger Federer und Martina Hingis, votiert eine Mehrheit für Hingis. Heißen die Kandidaten dagegen Federer und Vreni Schneider (55 Ski-Weltcupsiege, drei olympische Goldmedaillien), gewinnt Federer. Heißen die Kandidaten dann Hingis und Schneider, muss man gar nicht fragen, denn das Ergebnis ist klar: Hingis gewinnt: Sie liegt vor Federer, der vor Schneider, also auch Hingis vor Schneider.

Professor Walter Krämer, Deutscher Ökonom, Mathematiker und Statistiker, Technische Universität in Dortmund. Der Autor verschiedener wissenschaftlicher Bücher (Wie lügt man mit Statitstik) betreibt auch die Webseite "Die Unstatistik des Monats". Er gründete auch den Verein "Deutsche Sprache".
Professor Walter Krämer, Deutscher Ökonom, Mathematiker und Statistiker, Technische Universität in Dortmund. Der Autor verschiedener wissenschaftlicher Bücher (Wie lügt man mit Statistik) betreibt auch die Webseite “Die Unstatistik des Monats”.

Pustekuchen, sagt Condorcet. Es ist sehr wohl möglich, ganz ohne mentale Derangiertheit der Wählenden, dass jetzt Schneider vorne liegt.

Als weltweit erster beschrieb der dieses Paradoxon in seinem Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix (Paris 1785).

Wann immer man per Mehrheitsentscheidung zwischen zwei Alternativen eine Gesamtrangordnung konstruiert, lauert diese Falle im Hintergrund. Sie muss nicht zuschnappen, aber sie kann, man ist nie sicher.

Also muss man eben auf andere Weise die individuellen Präferenzen aggregieren. Aber auch das klappt nicht immer. Wie der amerikanische Ökonom Kenneth Arrow aufbauend auf Condorcet in seinen nobelpreisgekrönten Arbeiten zeigen konnte (Wirtschaftsnobelpreis 1972 zusammen mit John R. Hicks „für ihre bahnbrechenden Arbeiten zur allgemeinen Theorie des ökonomischen Gleichgewichts und zur Wohlfahrtstheorie“), gibt es kein einziges soziales Auswahlsystem, das aus völlig rationalen Individuellen Präferenzen eine wasserdichte, immer das gleiche

Wann immer man per Mehrheitsentscheidung zwischen zwei Alternativen eine Gesamtrangordnung konstruiert, lauert diese Falle im Hintergrund.

Endergebnis produzierende individuenübergreifende Rangordnung herstellen kann. Je nach Reihenfolge oder Organisation der Wahlgänge kommt möglicherweise etwas anderes heraus. So hat etwa der Dortmunder Ökonom Wolfgang Leininger überzeugend nachgewiesen, dass die heutige deutsche Bundeshauptstadt Berlin ein Artefakt der Reihenfolge der Wahlgänge an jenem schicksalsträchtigen Nachmittag des 20. Juni 1991 gewesen ist. Da wurde in einem mehrstufigen Verfahren im Deutschen Bundestag in Bonn über die künftige Hauptstadt abgestimmt. Und wie Leininger beweist, hätte bei einer anderen Reihenfolge der Abstimmungen nicht Berlin, sondern Bonn gewonnen (W. Leininger: The Fatal Vote: Bonn versus Berlin“, Finanzarchiv, Neue Folge, Heft 1, 1993, 1-20) .

Er war ein großer Aufklärer und Liberaler, schon früh in der französischen Revolution trat er mit der damals unerhörten Forderung hervor, dass die gerade proklamierten Bürgerrechte auch für Frauen gelten sollten.

Jean-Marie de Condorcet
1742 – 1794: Namensgeber unseres Blogs

Das ewige Verdienst, als erster auf solche Probleme hingewiesen zu haben, gebührt aber dem Marquis de Condorcet. Außer in der Mathematik hat er auch einen großen Fußabdruck in der Politik und in den Gesellschaftswissenschaften hinterlassen. Er war ein großer Aufklärer und Liberaler, schon früh in der französischen Revolution trat er mit der damals unerhörten Forderung hervor, dass die gerade proklamierten Bürgerrechte auch für Frauen gelten sollten, und in seiner Abhandlung vom Juli 1790  Sur l’admission des femmes au droit de cité sprach er sich für das Frauenwahlrecht aus. Mehr als 150 Jahre später wurde es dann in Frankreich, als einem der letzten Länder Europas, tatsächlich eingeführt. Auch gleiche Rechte für Farbige und die Abschaffung der Sklaverei gehörten zu Condorcets Forderungen. Seinen Landsleuten damals muss er wie aus der Zeit gefallen vorgekommen sein. Heute wissen wir, dass er einer der humansten und größten Denker  seines Jahrhunderts war.

Walter Krämer

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Condorcet – Der Erfinder der Volksinitiative https://condorcet.ch/2019/05/condorcet-der-erfinder-der-volksinitiative/ https://condorcet.ch/2019/05/condorcet-der-erfinder-der-volksinitiative/#respond Tue, 14 May 2019 19:52:09 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=926

Was Thomas Edison für die Glühbirne ist der Pariser Marie Jean Antoine (Marquis) de Condorcet (1743-1794) für die Direkte Demokratie: Erfinder der Volksinitiative, Entwickler der ersten direktdemokratischen Verfassung, liberaler Aufklärer und Begründer der französischen Volksschule. Seine Besonderheit: Er glaubte an den Menschen und dessen Fähigkeit zu lernen.

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Marie Jean Condorcet gilt als der jüngste der insgesamt 140 Enzy­klo­pä­disten und Universalgelehrten, die Mitte des 18. Jahrhunderts in 17 Bänden die Früchte der Aufklärung zu Papier brachten, und als erster politischer Denker der Französischen Revolution*. 1743 im Norden von Frankreich geboren, ging Condorcet in Reims auf eine Jesuitenschule und entpuppte sich sehr jung als Mathe-Genie. Der berühmte Enzyklopädist und Mathematiker d’Alembert nahm ihn unter seine Fittiche. Condorcet entwickelte seine ersten mathematischen Kalküle und Theorien, von denen das nach ihm benannte Auswahl-Paradox bis heute bekannt ist. Bereits 1769 liess ihn sein sogar von Voltaire gepriesenes Talent Sekretär der Wissenschafts-Akademie werden, dreizehn Jahre später, als erst 39jähriger, wurde er zum Sekretär der Akademie Française.

Aufklärer versuchten aber nie nur ihr Hauptgebiet zu durchdringen, son­dern hegten die Vorstellung «einer heilsamen Kraft des Wissens für die (bessere) Ordnung der menschlichen Gesellschaft» (Schulz): Auf­klärer engagierten sich auch politisch. Condorcet schrieb vor allem viele Briefe, Artikel und kleine Schriften beispielsweise für die Abschaffung der Sklaverei, zur Gleichberechtigung der Protestanten, Juden und spä­ter auch der Frauen und Schwarzen. Er rezipierte aufmerksam den Kampf um die amerikanische Unabhängigkeit und kommentierte begei­stert deren Verfassungsgebung. Dies öffnete ihm den Zugang zu Benjamin Franklin, Tom Paine und Thomas Jefferson.

Mit dem Beginn der Französischen Revolution widmete er sich ganz der Politik und wollte dem Fortschritt auch gesellschaftlich zum Durch­bruch verhelfen. Bereits 1790 gründete Condorcet mit Sieyes die So­cié­té von 1789, deren Zeitschrift zu einem der wichtigsten Organe der Re­vo­lutionszeit werden sollte. Im zweiten Anlauf wählten die Pariser Con­dor­cet im Februar 1791 auch in die Nationalversammlung. Nach der Ab­setzung des Königs im August 1792 wurde zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ohne Monarchie ein National-Kon­vent gewählt, dem auch Condorcet angehörte. Am 21. September 1792 beschloss der Kon­vent in Anlehnung an den neuen, von der amerikanischen Re­vo­lu­tion gesetzten republikanischen Standard, dass in Zukunft keine andere Verfassung gelten soll als jene, die durch das Volk angenommen wurde – das heisst, durch die Mehrheit der «Männer, die mehr als 25 Jahre alt sind, seit einem Jahr in Frankreich festen Wohnsitz haben und vom Ertrag ihrer Arbeit leben». Das moderne Verfassungs-Referendum hatte Europa erreicht.

Im Oktober 1792 setzte der Konvent ein neunköpfiges Verfassungs-Komitee ein und ernannte Condorcet zu dessen Berichterstatter. Die­sem Komitee oblag die Pionieraufgabe, erstmals in der Welt eine Verfassung für einen flächenmässig grossen, relativ bevöl­ke­rungs­reichen Staat zu entwerfen – ohne wie die USA diese Schwierigkeit durch eine Bundesstaatlichkeit mit zwei Ebenen der Demokratie überwinden zu können. Denn die französische Republik, so hatte der Konvent bereits beschlossen, hatte «eins und unteilbar» zu sein.

Jetzt musste Condorcet ganz praktisch die Antwort auf die Frage lie­fern, die ihn seit Jahren umtrieb und die er so formuliert hatte: «Wie müssen die institutionellen Bedingungen geschaffen sein, damit demo­kratische Mehrheitsentscheidungen tatsächlich dem Interesse der All­gemeinheit entsprechen und die Menschenrechte als Grundlage der Ent­schei­dung berücksichtigt werden?»

Condorcet beantwortete diese Frage, indem er die Gesetzgebung nicht einfach der Nationalversammlung, dem Parlament, überliess, sondern die Bürger – wenn es ganz nach ihm gegangen wäre auch die Bür­ger­in­nen – in diesen Prozess miteinbezog. Damit sollten die Bürger auch den Zugang zum Staat finden, und jene Identifikation aufbauen, die der grosse Staat – anders als der Kleinstaat oder die kleine Gemeinschaft – nicht so einfach erzeugen kann. So formulierte Condorcet im Artikel 30 seines Verfassungsentwurfs: «Die Republik hat aktive und sich per­sön­lich engagierende Bürger zur Voraussetzung». In sogenannten über das ganze Land verbreiteten Primärversammlungen (PV) setzten sich Parlamentarier und Bürger über mit den Gesetzen auseinander; 50 Bürger hatten in diesen PV auch das Recht, Vorschläge für Gesetzes­än­de­run­gen zu verfassen, mit denen sich zuletzt auch die Nationalversammlung befassen muss.

Damit war das Initiativrecht, der schöpferische Part der Direkten Demo­kra­tie, geboren. Jedoch nicht mit der Absicht der individuellen Selbst­be­stim­mung, sondern zur Gewährleistung eines diskursiven Raumes, wel­cher die Voraussetzung für die Verwirklichung zweier bis heute aktueller Ansprüche sind: Einerseits sollten die Reprä­sen­tan­ten wis­sen, wen sie wie zu vertreten haben, und andererseits sollte so das Ver­nunft­potenzial der Bürger freigelegt, deren aufgeklärte Ur­teils­fä­hig­keit ermöglicht und das individuelle Lernen realisiert werden.

Zwar fiel Condorcets Entwurf dem Machtkampf mit den radikaleren Jakobinern zum Opfer und wurde nicht einmal ernsthaft diskutiert im Konvent. Doch er blieb eine revolutionäre Pionierleistung, schuf einen direktdemokratischen Grundstein und diente vielen Radikaldemokraten aller Welt in den kommenden Jahrzehnten als wegweisende Inspira­tions­quelle.

* Charles Coutel: Po­litique de Condorcet. Payot Paris 1996. Daniel Schulz: Freiheit, Re­vo­lu­tion, Verfassung, kleine politische Schriften von Marquis de Condorcet. Akademie Verlag, 2010

Andreas Gross, Alt-Nationalrat SP, Historiker, Publizist, St. Ursanne

 

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