Algorithmen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 18 Dec 2023 20:53:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Algorithmen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Falscher und echter Alarm in der KI https://condorcet.ch/2023/12/falscher-und-echter-alarm-in-der-ki/ https://condorcet.ch/2023/12/falscher-und-echter-alarm-in-der-ki/#comments Tue, 12 Dec 2023 07:30:22 +0000 https://condorcet.ch/?p=15482

Utopia und Dystopia liegen in der KI-Branche nah beieinander. Einerseits nimmt die dem Menschen ebenbürtige bis überlegene Maschinenintelligenz Gestalt an, andererseits sieht man in ihr die mögliche Auslöschung der Menschheit. Das Problem, meint Eduard Käser im Journal 21, ist allerdings nicht die KI selbst.

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Das “Center for AI Safety” – eine amerikanische Nonprofit-Organisation – veröffentlichte vor kurzem ein Statement, das viele namhafte Fachleute unterzeichneten: “Das Risiko einer Auslöschung der Menschheit durch die KI sollte in der sozialen Dimension gleich eingeschätzt werden wie das Risiko der Auslöschung durch Pandemien oder durch Nuklearkriege”.[1]

Gastautor Eduard Kaeser

Wenn die KI wirklich eine solche Gefahr darstellt, fragt man sich, warum warnen dann ausgerechnet jene Leute vor ihr, die ihre Entwicklung rasend vorantreiben? Sind sie aus ihren Zauberlehrlingsträumen aufgewacht? Hat die “prometheische Scham” sie gepackt, das Gefühl der Unzulänglichkeit angesichts ihrer eigenen Produkte?

Natürlich sind die Warnungen nicht einfach in den Wind zu schlagen. Aber nüchtern betrachtet, eröffnen die KI-Systeme ein unerforschtes Feld der sozialen Interaktion von Mensch und Maschine, nunmehr auf “intelligentem” Niveau. Und es ist eigentlich nicht das KI-System selbst, sondern unsere vorauseilende dystopische Fantasie, die uns das Fürchten lehrt.

Wir machen uns a priori einen unzutreffenden Begriff von ihr. Und das führt zu Falschalarm.

Karl Marx sprach vom “falschen Bewusstsein”, also einem Begriffs- und Wahrnehmungsrahmen, der alles schon im Voraus präformiert, ja, verzerrt. Falsches Bewusstsein erscheint mir wie zugeschnitten auf die heutige KI-Technologie: Wir machen uns a priori einen unzutreffenden Begriff von ihr. Und das führt zu Falschalarm. Ich erläutere ihn kurz anhand dreier Punkte.

Anthropomorphe Analogien

Erstens attestieren wir den smarten Maschinen kognitive Fähigkeiten, deren Resultate wir oft nicht von menschlichen unterscheiden können. Wir sagen dann, der Chatbot “schreibe” einen Text, LaMDA (Language Model for Dialogue Application) “konversiere” mit uns, DALL-E 2 “male” ein Bild. Das sind aber nichts anderes als anthropomorphe Analogien, mit denen wir versuchen, die heute kaum noch vollständig durchschaubaren Maschinenabläufe in einem uns begreiflichen Idiom zu beschreiben. Insbesondere übertragen wir KI-Systemen bereits “moralische” Handlungsverantwortung, schieben ihnen etwa die Schuld zu, Jobs “abzuschaffen”. Oder wir warnen vor “sexistischen” oder “rassistischen” Algorithmen. Als ob die Maschinen sich wie Menschen verhalten würden. Bisherige Klimax dieser KI-Beschwipstheit ist ein Softwaredesigner von Google – Blake Lemoine –, der behauptete, LaMDA sei in eine persönliche Beziehung zu ihm getreten.

Das Netz – eine Skinnerbox ohne Skinner

Hier zeigt sich – Punkt zwei – eine wirklich alarmierende Dialektik der ganzen Entwicklung. Im gleichen Zug, in dem wir Maschinen personenhafte Züge zuschreiben, vergessen wir die menschlichen Personen hinter den Maschinen. Nicht Maschinen schaffen die Jobs ab, sondern Unternehmen und Regierungen –  Institutionen, die von Personen geführt werden. Und nicht die Algorithmen sind sexistisch oder rassistisch, vielmehr verwenden deren Designer und Benutzer sexistische respektive rassistische Daten.

Alarmierend an dieser Idiotie ist die naive Bereitschaft, unsere kognitiven, aber auch moralischen Kompetenzen an das smarte Gerät abzutreten.

Der vermeintliche Machtwille des Robo sapiens kaschiert den Machtwillen des Homo sapiens. Man muss dabei nicht immer gleich China als abschreckendes Beispiel zitieren, wo das Regime die Technologie schamlos zur totalen Verhaltensdressur ausnutzt. Auch im Westen lassen wir uns von Algorithmen kontrollieren und manipulieren. Sie “entscheiden”, was wir sehen, lesen, hören, kaufen, mit wem wir kommunizieren, wen wir mögen und wen wir hassen wollen. Das Netz ist eine gigantische Skinnerbox ohne Skinner. Wir selbst konditionieren uns zu Konsumratten.

Maschinen sozialisieren – Menschen maschinisieren

Das ist der dritte Punkt: Wir suchen die “intelligenten” Artefakte zu sozialisieren. Um Maschinen zu sozialisieren, muss man Menschen an sie adaptieren, “maschinisieren”. Man achte einmal darauf, wie wir uns heute mit Apps armieren, die uns bei jeder Gelegenheit «beraten», was zu tun oder zu lassen sei. Eben lese ich die Werbung für die App “Blinklist” von Apple. Sie bringe “die Kernaussagen tausender Sachbücher auf das Smartphone. In nur 15 Minuten kann man sich so das Wissen eines dicken Sachbuchs aneignen”.

Alarmierend an dieser Idiotie ist die naive Bereitschaft, unsere kognitiven, aber auch moralischen Kompetenzen an das smarte Gerät abzutreten. Das befördert eine Art von Techno-Fatalismus: Der Vormarsch der Algorithmen ist unaufhaltsam. Zurzeit warnen die Alarmglocken besonders schrill vor einer sogenannten künstlichen “Intelligenzexplosion”. Die neuen Generationen von KI-Systemen könnten uns puncto Intelligenz überflügeln. Wobei sich der Verdacht hartnäckig hält, dass die Warner unter Intelligenz kaum mehr verstehen als ihre eigene nerdige Beschränktheit.

Das grösste Risiko: menschliche Unintelligenz

Künstliche Intelligenz ist eines der kühnsten, vielleicht das kühnste intellektuelle Abenteuer der letzten 60 Jahre. Nüchtern betrachtet, erweist sie sich als eine spezifische Form von Intelligenz, die ausschliesslich auf Rechenleistung – letztlich auf Energieverschleiss (Alarm auch hier!) – beruht. Sie kann uns viel darüber lehren, was ausser Rechenleistung sonst noch zur Intelligenz beiträgt.

Die seriöse Forschung zeigt uns zum Beispiel, dass KI ihre “intrinsischen” Grenzen hat. Und genau das ist spannend, Ansporn für weitere Forschung in der Entwicklung von KI-Systemen, etwa von biologienäheren neuronalen Netzen oder von Quantencomputern. Zugleich aber auch dafür, die Alarmstufe herunterzufahren. Denn das grösste Risiko im Umgang mit der künstlichen Intelligenz bleibt die nicht durchschaute Unintelligenz des Menschen, vulgo: Selbstüberschätzung, selbst gratulierende Borniertheit, Inkompetenz-Erkennungs-Inkompetenz, Missions- und Machtwillen. Sie grassiert besonders ausgeprägt in KI-Kreisen.

 

[1] https://www.safe.ai/statement-on-ai-risk , Übersetzung E. K.

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Kein Mensch lernt digital https://condorcet.ch/2021/11/kein-mensch-lernt-digital/ https://condorcet.ch/2021/11/kein-mensch-lernt-digital/#respond Sun, 21 Nov 2021 17:16:01 +0000 https://condorcet.ch/?p=9851

Das digitale Lernen wird uns oft als progessiv und zukunftsorientiert verkauft. Condorcet-Autor Ralf Lankau legt uns in seinem Beitrag dar, wie einseitig und rückwärtsgewandt ein auf Algorithmen basiertes Lernen in Wirklichkeit ist.

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Prof. Dr. phil. Ralf Lankau: Warum sind Sie Lehrer geworden?
Bild: Lankau

Notwendige Fragen und sinnvoller Einsatz von Digitaltechnik im Unterricht

Beantworten Sie vor dem Lesen dieses Beitrags bitte ein Frage: Warum sind Sie Lehrerin oder Lehrer, warum Schulleiterin oder Schuleiter geworden? Ihre Antwort präjudiziert Ihre Argumente und Position in der aktuell geforderten digitalen Transformation von Schule und Unterricht.

Ein stetiges Déjà vu der Lernmaschinen

Die aktuellen Diskussionen über den Einsatz von technischen Medien, heute primär Digitaltechnik, in Schulen haben eine lange Vorgeschichte. Im Kern ist es das immer Gleiche: Automatisieren des Beschulens und Prüfens und an die Technik angepasste Lernmethoden. Claus Pias zeigte bereits 2013 die Konstanten der Geschichte der Unterrichtsmaschinen und der dahinterstehenden Theorien auf: „Lerngutprogrammierung, Lehrstoffdarbietungsgeräte und Robbimaten: Die Idee, man müsse die Lehre automatisieren, um sparsamer, effektiver und sachgemäßer zu unterrichten, ist viel älter als das Internet.“ (Pias, 2013) Er zitiert u.a. den Psychologen Pressey, der 1926 eine der ersten Lehrmaschinen konstruierte. Erziehung habe den geringsten Wirkungsgrad aller denkbaren Unternehmungen, so Pressey. Darum müsse der Lehrbetrieb arbeitswissenschaftlich optimiert werden. „Im Klartext: Wie bekommt man mit möglichst wenig Ressourcen möglichst viel Stoff möglichst schnell in die Köpfe?“ (ebda).

Im Kern ist es das immer Gleiche: Automatisieren des Beschulens und Prüfens und an die Technik angepasste Lernmethoden.

Diffuse Notwendigkeitsrhetorik

Die Vorstellung, dass man Parameter der produzierenden Industrie (Prozessoptimierung, Kostenreduktion, Effizienzsteigerung) mit Hilfe entsprechender Psychotechniken der Psycho-Ingenieure (Gelhard, 2011, 31f., hier 50) auf Lernprozesse übertragen könne, wird seit Beginn des 20. Jh. (William Stern u.a.) propagiert. Die gleichen Psycho-Techniken liegen heutigen Angeboten von Lernsoftware zugrunde. Dazu kommen zwei Fraktionen, die seit den 1950er Jahren um die Deutungshoheit der Steuerbarkeit von Menschen streiten : Kybernetiker und Behavioristen. Kybernetiker wie der Namensgeber der Kybernetik, Norbert Wiener, arbeiten mit mathematischen, Behavioristen wie B.F. Skinner mit (verhaltens)biologischen Modellen. Die Gemeinsamkeit ist der Glaube daran, dass der Mensch als (mathematisches resp. biologisches) Regelsystem definiert und mit Hilfe entsprechender Parameter gesteuert werden könne. Messen, Steuern, Regeln als mathematisch-technische, programmiertes Lernen als biologische Variante.

Claus Pias: Die Idee, man müsse die Lehre automatisieren, um sparsamer, effektiver und sachgemäßer zu unterrichten, ist viel älter als das Internet.

Vermessen statt Unterrichten

Die Annahme der Berechenbarkeit und Steuerungsphantasien für soziale Interaktionen wie Lehren und Lernen sind auch die treibende Kraft der digitalen Transformation, aktuell in Bildung und Gesundheit. Dabei kommen technische Entwicklungen zusammen, die man in ihrer Reichweite bislang kaum überschauen und einschätzen kann. Auf der einen Seite das Sammeln und automatisierte Auswerten von Nutzerdaten (Big Data Analysis) durch wenige kommerzielle IT-Monopole, auf der anderen Seite die Beeinflussungs- und Steuerungsmöglichkeiten der Nutzer durch Web & App auf Basis ihrer Persönlichkeitsprofile (Nudging und persuasive, d.h. verhaltensändernde Technologien).

Denn alles, was man am Rechner macht, kann aufgezeichnet werden und kann im Sinne der IT-Anbieter und damit auch gegen die Interessen der Probanden verwendet werden. Diese IT-Systeme und Algorithmen sind intransparent: Big Data in der Black Box. Im Kontext Schule ist der Begriff dafür Learning Analytics: die kleinteilige, psychometrische Vermessung der Lernenden per Kamera, Mikrofon und Eingaben per Tastatur oder Touchscreen. Alle Handlungen werden per Mustererkennung und Statistik ausgewertet. Prof. Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim) schreibt zum möglichen Umfang der Datensammlung und die Funktion von Learning Analytics, es könnten damit: „datenbasierte Auskünfte über das Lernverhalten, Lernaktivitäten und Einstellungen in Echtzeit während des Lernprozesses erfasst und im weiteren Verlauf berücksichtigt werden. (Ifenthaler, 2016)

Alles, was an Daten über eine Person zusammengetragen werden kann, wird zur Profilierung und Lernprozessoptimierung ausgewertet.

Prozesssteuerung durch Systemoptimierung

Diese personalisierten Lernprozessdaten werden ergänzt um externe Daten (Merkmale der Lernenden, Interesse, Vorwissen, akademische Leistungen wie Testergebnisse usw.). Doch auch soziodemografische Daten wie das soziale Umfeld, persönliche Netzwerke oder Präferenzen hinsichtlich sozialer Medien – Datenspuren aus dem Privatleben, auf die Schulen an sich keinen Zugriff haben sollten – werden einbezogen. Das ist die Logik der Daten-Ökonomie: Alles, was an Daten über eine Person zusammengetragen werden kann, wird zur Profilierung und Lernprozessoptimierung ausgewertet. Doch nicht nur das eigene Verhalten fließt in die Lern- und Persönlichkeitsprofile ein. Auch Lernleistungen anderer Probanden werden zum Vergleich und zur „personalisierten“ Steuerung der Lernenden herangezogen. Christoph Meinel vom Hasso-Plattner-Institut, das die Schulcloud mitentwickelt, schreibt im HPI-Blog-Beitrag zu Bildungsdaten, dass Lernsysteme „… Vergleichsanalysen mit den Verhaltensdaten aller anderen jemals eingeloggten Lerner durchführen und darauf aufbauend die weiteren Interaktionen dem anvisierten Lernziel entsprechend steuern (können).“ (Meinel, 2020)

Lernsysteme würden sich „erinnern“ (genauer: speichern) welche Matheaufgaben nicht richtig gelöst würden, oft sogar die Ursache erkennen. Das System speichert, „welche Vokabeln nicht richtig sitzen und deshalb weiter geübt und trainiert werden müssten“.

Solche kleinteiligen Lernleistungsprüfung könnten Lernmanagement-, genauer: Lernkontrollsysteme, viel besser umsetzen als es Lehrkräften je möglich wäre. Durch „passgenaue Angebote“ (ein beliebtes Wort der Prozessoptimierer) würden Schwächen der Schüler/innen erkannt und überwunden und „zielgenau“ (ein ebenso beliebter Begriff), Stärken individuell gefördert. Die Ziele gibt selbstredend das Lernprogramm vor und sind für Lernende ebenso intransparent wie die Leistungsmessung. Dafür müsse man personenbezogene Daten und Klarnamen speichern. Das System müsse „wissen“, wer vor dem Bildschirm sitzt und dazu alle Interaktionen mit dem System aufzeichnen.

Das System speichert, welche Vokabeln nicht richtig sitzen und deshalb weiter geübt und trainiert werden müssten.

„In dieser Lern‐ und Arbeitsumgebung sind Klarnamen unerlässlich. Lehrer müssen Ihre Schüler erkennen, Schüler ihre Klassenkameraden, Teilnehmer ihre Arbeitsgemeinschaften.“ (Meinel, 2020)

An dieser Stelle könnte ein Exkurs stehen über (Pseudo)Anonymisierung und die einfache Re-Personalisierung von Daten oder die Unmöglichkeit, Rechner im Netz vor Angriffen zu schützen. (Lankau, 2016). Aber das Thema Datenschutz ist so wichtig und komplex, dass hier nur auf die Aktion „Keine Schülerdaten für US-Unternehmen“ (Bündnis, 2020) und auf Digitalcourage verwiesen werden kann, die den Big-Brother-Award 2020 u.a. an die Kultusministerin von Baden-Württemberg für das Beharren auf den Einsatz von US-Software verliehen hat. (Digitalcourage, 2020)

Informatiker denken in Systemstrukturen und Systemlogik. Ziele sind die Optimierung von Prozessen und valide Ergebnisse.

Kontrollphantasien vs. Individualität

Hier geht es um anderes: Informatiker denken in Systemstrukturen und Systemlogik. Ziele sind die Optimierung von Prozessen und valide Ergebnisse. Das funktioniert für technische Systeme. „Digitale Transformation“ von Schule und Unterricht heißt primär, Lernprozesse maschinenlesbar und automatisiert abprüfbar zu machen. Digitaltechnik ist dabei nur die technische Infrastruktur der digitalen Organisation von Schule und Unterricht. Bildungseinrichtungen werden ein Operationsfeld (und Markt) der Daten-Ökonomie. Der übergeordnete Begriff ist „Smart“: Smart Home, Smart City, Smart School, und bedeutet: Kameras, Mikrofone und Sensoren zeichnen menschliches Verhalten auf, werten es mit Hilfe von Datenbanken aus und beeinflussen Menschen in ihrem Verhalten. Daran geknüpft ist das Versprechen, über diese Methoden validierte Ergebnisse, etwa beim Lernen, zu „produzieren“.

Es sind rückwärtsgewandte Theorien, wie auch die Humankapitaltheorie von Gary Becker, Milton Friedman u.a. von der Chicago School of Economics.

Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird auch genutzt.

Nur: Sowohl die Kybernetik wie das „programmierte Lernen“ sind für soziale Prozesse gescheitert, die Professuren wurden in den 1970er Jahren nicht mehr besetzt. Es sind rückwärtsgewandte Theorien, wie auch die Humankapitaltheorie von Gary Becker, Mil- ton Friedman u.a. von der Chicago School of Economics. Sie sind unterkomplex und im Kern falsch, wie man es beim Preisträger des diesjähriger Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Amartya Sen, nachlesen kann. (Sen, 2020). Selbst die technische Entwicklung ist rückwärtsgewandt. Das heute propagierte Cloud-Computing ist im Prinzip das Großrechner-Konzept (Mainframe) der Nachkriegszeit in Rechenzentren bis Angang der 1980er Jahre. Nur stehen die heutigen Rechner nicht mehr vor Ort, sondern werden in Serverfarmen in der „Cloud“ zusammengeschaltet.

Wichtiger noch ist die zugrunde liegende Struktur und Systemlogik von IT-Systemen, die die amerikanische Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff bereits 1988 (!) in drei Gesetzen zusammenfasste:

  • Was automatisiert werden kann, wird automatisiert.
  • Was in digitalisierte Information verwandelt werden kann, wird in digitalisierte Information verwandelt.
  • Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird, sofern dem keine Einschränkungen und Verbote entgegenstehen, für Überwachung und Kontrolle genutzt, unabhängig von ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung. (Zuboff 1988)

Die Einschränkung „sofern dem keine Einschränkungen und Verbote entgegenstehen“ sind nach den Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 revidiert. Der letzte Satz lautet heute: Jede Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, wird für Überwachung und Kontrolle genutzt, unabhängig von geltendem Recht und ursprünglichen Zweck. Zuboff hat diese Entwicklung bis in das heutige „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ fortgeschrieben (Zuboff, 2018). Der Aufbau einer entsprechenden Netzwerk-Infrastruktur in Schulen legt tendenziell die Basis für das automatisierte, digitale Beschulen und Testen per Schulcloud. Wenn Gehorchen und Funktionieren das Ziel von Beschulung ist, kann man mit Lernprogrammen arbeiten. Drill, Lernbulimie und letztlich eine Überwachungspädagogik lassen sich digital ermöglichen.

Sigrid Hartong: Wir brauchen Daten, Daten, bessere Daten!

Datengestützte Schulentwicklung und Metrik statt Pädagogik

Eine datengestützte Schulentwicklung, wie sie Sigrid Hartong in Ihren Aufsatz „Wir brauchen Daten, noch mehr Daten, bessere Daten!“ (2018) formuliert und in ihrer Studie (Hartong 2019) ausführt, verschiebt den Fokus von der pädagogischen Arbeit in Richtung Metrik und Optimierung der Datenerhebung und Auswertung. Statt Lehrkräften werden Test- und Qualitätsmanager, Data Stewards (zur Kontrolle der Dateneingabe), Experten für Error Management u.ä. eingestellt. Der Aufbau einer IT-Infrastruktur bedeutet: Stellen für Systembetreuer/innen.

Der Stellenbedarf für IT-Support berechnet sich nach Anzahl der eingesetzten Endgeräte. Bei laut KMK aktuell knapp 11 Millionen Schülerinnen und Schülern und einem Schlüssel von einer Systembetreuer-Stelle pro 400 Endgeräten kommt man auf einen Bedarf von 27.500 IT-Stellen in Schulen. Bei einem Schlüssel von einer Support-Stelle für 300 Endgeräte (als Betreuungsschlüssel für Schulen realistischer) sind es mehr als 36.600 Stellen – für die Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt fehlen. „Der nicht hinlänglich sichergestellte IT-Support könnte sich als Achillesferse des Digitalpakts erweisen“, so die GEW-Studie (GEW, 2019).

Bei einem Schlüssel von einer Support-Stelle für 300 Endgeräte (als Betreuungsschlüssel für Schulen realistischer) sind es mehr als 36.600 Stelle, die gebraucht werden. Das gibt der Markt gar nicht her und kostet Unsummen.

Auch die Digital-Pakt-Gelder reichen bei weitem nicht. Laut GEW-Studie „Bildung. Weiter denken. Mehrbedarf für eine adäquate digitale Ausstattung der berufsbildenden Schulen“ vom September 2019 (GEW-Studie, 2019) liegen die Kosten um ein Vielfaches höher: Die bislang propagierten 5,5 Milliarden Euro des Digitalpaktes decken laut GEW-Studie nur knapp ein Viertel des Gesamtbedarfs aller Schulen. Allein für die Mindestausstattung der Berufsschulen, die ohne aktuelle Rechner und IT in der Tat nicht ausbilden könne, seien eine Milliarde Euro pro Jahr erforderlich, die Pakt-Gelder damit aufgebraucht. Für allgemeinbildende Schulen würden in den kommenden fünf Jahren weitere 15,76 Milliarden Euro benötigt. Daraus ergebe sich ein Gesamtbedarf von 21,025 Milliarden Euro – eine beachtliche Differenz von rund 15 Milliarden Euro.

Doch wer Pakt-Gelder abruft, sichert die Aktualisierung der Systeme über die Pakt-Laufzeit hinaus zu und muss so den Schuletat auf Jahre hinaus an die IT-Systemhäuser verpfänden. Zudem fehlen laut Bertelsmann-Studie in den nächsten Jahren alleine über 26.000 qualifizierte Grundschullehrerinnen und -lehrer. (Bertelsmann, 2019)

Wir stehen vor grundlegenden Entscheidungen. Verstehen wir es weiterhin als Aufgabe der Pädagogik, „Verstehen zu lehren“? (Gruschka, 2011) Oder übernehmen wir Parameter der produzierenden Industrie (Produktion von Humankapital mit validierten Ergebnissen)?

Präsenzunterricht als Normalfall und DSGVO-konforme IT

Die Kosten sind das eine, der Bedarf an IT-Systembetreuern, zusätzlich zu pädagogischen Fachkräften, das andere. Dazu kommen ungeklärte Fragen zum Datenschutz, der nicht Daten, sondern Grundrechte wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht und die Privatsphäre schützt und nicht mal nebenbei außer Kraft gesetzt werden kann!

Prof. Dr. Andreas Gruschka: Verstehen wir es weiterhin als Aufgabe der Pädagogik, Verstehen zu lehren?

Wir stehen vor grundlegenden Entscheidungen. Welche Schule wollen wir? Verstehen wir es weiterhin als Aufgabe der Pädagogik, „Verstehen zu lehren“? (Gruschka, 2011) Oder übernehmen wir Parameter der produzierenden Industrie (Produktion von Humankapital mit validierten Ergebnissen)? Ist die automatisierte Messbarkeit von Lernleistungen das Ziel oder haben Schulen einen Auftrag für Bildung und Persönlichkeitsentwicklung, der sich nicht utilitaristisch auf Ausbildung verkürzt? Bleiben Schulen soziale Orte, Schutzraum für den Präsenzunterricht und das Lernen in Sozialgemein- schaften? Wird Lehren und Lernen verstanden als soziale Interaktionen auf Basis von wechselseitiger Beziehung, Bindung und Vertrauen zwischen Menschen? Oder etablieren wir einen zunehmend „autonom“ agierenden Maschinenpark zum Beschulen der nächsten Generation? Technisch machbar ist der Aufbau der Infrastruktur für eine Überwachungspädagogik (Burchardt; Lankau 2020). Die Theorien und Methoden für die Automatisierung und Psychologisierung von Unterricht wurden vor mehr als 100 Jahren publiziert. Die Psycho-Technik wurde um 1900 ebenso zur Leitdisziplin des Psycho-Ingenieurs wie die „Lehre der unbegrenzten Formbarkeit des Einzelnen“. (Gelhard, 2011, 100)

Oder fehlt da nicht etwas? Für das Verständnis braucht man den Dialog und ein menschliches Gegenüber. (Lankau, 2020b) Technische Medien sind mögliche, keine notwendigen Hilfsmittel. Jochen Krautz hat in seiner Schrift „Digitalisierung als Gegenstand und Medium von Schule“ (Krautz, 2020) die grundlegenden pädagogischen Prämissen formuliert. In meinem Text „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht“ wird bis auf Hard- und Software-Ebene skizziert, wie man Digitaltechnik einsetzt, ohne Schülerdaten zu generieren. Der Untertitel präzisiert die Funktion von Medien(technik) in Schulen: „Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen.“ (Lankau, 2020a) Denn es ist nicht die Technik an sich, die zu Fehlentwicklungen führt, sondern der Missbrauch für Partikularinteressen und/oder Geschäftsmodelle. Als digitale Variante ist der Aufbau eines technologischen Totalitarismus wie in China möglich. (Schirrmacher, 2015). Das gilt es zu verhindern.

Fazit

Aktuell ist es wichtiger denn je, den Einsatz von (Digital-)Technik in Schulen auf den konkreten pädagogischen Zweck und das angestrebte Bildungsziel zu hinterfragen. Schulen sind weder Vermessungsanstalten noch Datensammelstellen der Datenökonomie.

Schulen bereiten junge Menschen auf ein selbständiges und verantwortungsbewusstes Leben in Gemeinschaft vor. Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht (Digital-)Technik.

Zum Autor:

Prof. Dr. Ralf Lankau ist Grafiker und lehrt seit 2002 Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie an der HS Offenburg.


Quellen
:

Bernhardt, Christoph(2018) Die autogerechte Stadt ist eine Untote, in: Tagesspiegel vom23.03.2018; https://www.tagesspiegel.de/wissen/verkehrsplanung-die-autogerechte-stadt-ist-eine-untote/21097930.html (10.3.21)

Bleckmann, Paula (2012). Medienmündig, Stuttgart: Klett

Bowles, Nellie (2018) The Digital Gap Between Rich and Poor Kids Is Not What We Expected. New York Times, Oct. 26, 2018; https://www.nytimes.com/2018/10/26/style/digital-divide-screens-schools.html (12.3.21)

Bündnis (2020): Bündnis für humane Bildung. Keine Schülerdaten für US-Unternehmen, http://www.aufwach-s-en.de/2020/09/keine-schuelerdaten-fuer-us-unternehmen/  (24.10.2020)

Burchardt, Matthias; Lankau, Ralf (2020) Aufruf zur Besinnung. Humane Bildung statt Metrik und Technik, GBW e.BV., https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/humane-bildung-statt-metrik-und-technik.html

Digitalcourage (2020) BigBrother Awards 20202; https://bigbrotherawards.de/2020 und https://media.ccc.de/v/bba20 (24.10.2020)

Engzell, P., Frey, A., & Verhagen, M. D. (2020, October 29). Learning Inequality During the Covid-19 Pandemic. https://doi.org/10.31235/osf.io/ve4z7

GI (2020) Pressemeldung Gesellschaft für Informatik: GI startet „Offensive Digitale Schultransformation“ (18.05.2020), Web: https://offensive-digitale-schultransformation.de/

Gollnick, Ines (2019) VDI-Nachrichten: Willkommen im Autoland Deutschland, VDI-Nachrichten 08. Juli 2019. Das Bonner Haus der Geschichte widmet dem Verhältnis der Deutschen zu ihren Autos eine inspirierende Schau. https://www.vdi-nachrichten.com/karriere/willkommen-im-autoland-deutschland/

Lanier, Jaron (2018a) Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert

Lanier, Jaron (2018b) Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst

Lankau, Ralf (2020) „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht. Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen, https://bildung-wissen.eu/gbw-flugschriften ; PDF:https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2020/09/lankau_flugschrift_web.pdf

Lankau, Ralf (2016) Datenschutz? Gibt’s doch gar nicht. in: Paul Tarmann (Hrsg.) Datenschutz – „Big Data“ als gesellschaftliche und politische Herausforderung. Gesellschaft & Politik. Zeitschrift für soziales und wirtschaftliches Engagement,

Meinel, Christoph (2020a) Im internationalen Vergleich sind wir nicht gut aufgestellt, didacta-Themendienst; https://bildungsklick.de/schule/detail/im-internationalen-vergleich-sind-wir-nicht-gut-aufgestellt (19.2.2020)

Meinel, Christoph (2020b) Bildungsdaten der Schüler schützen (16.9.20) https://blog.hpi-schul-cloud.de/individuelle-foerderung-mit-interaktiven-lernsystemen/  (22.10.2020)

Merkle, Ralf (2020) Lernbegleiter: Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung. Ein Gespräch von Ralf Merkle, Landesgeschäftsführer Realschullehrerverband Baden-Württemberg RLV, mit Prof. Dr. phil. Ralf Lankau zum Titelthema „Digitale Transformation von Schule?“ in: Der Realist Heft 2/2020; S. 8-13 https://futur-iii.de/2020/12/18/lernbegleite-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/ (11.03.21)

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„Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung.“ https://condorcet.ch/2020/12/der-begriff-lernbegleiter-ist-fuer-mich-das-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/ https://condorcet.ch/2020/12/der-begriff-lernbegleiter-ist-fuer-mich-das-synonym-fuer-paedagogische-arbeitsverweigerung/#respond Wed, 30 Dec 2020 12:25:15 +0000 https://condorcet.ch/?p=7366

Im Interview mit dem Magazin "Realist" äussert sich der promovierte Pädagoge und Medienexperte Prof. Dr. phil. Ralf Lankau zum Thema "Digitale Transformation von Schule?" Für ihn ist der Einsatz von Medientechnik kein Qualitätsmerkmal von gutem Unterricht, er warnt gar vor den übersteigerten Versprechungen digitaler Zukunftsvisionen, hinter denen sich Interessen verbergen, die in der Schule definitiv nichts zu suchen haben. Ralf Merkle, Landesgeschäftsführer des Realschullehrerverbands Baden-Württemberg RLV, hat das hier gekürzt wiedergegebene Gespräch geführt, das wir hier mit freundlicher Genehmigung von Ralf Lankau veröffentlichen.

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Ralf Lankau, GBW, Professor HS Offenburg

REALIST: Herr Professor Lankau halten Sie Asimovs Zukunftsvision, die er in seiner Erzählung “Die Schule” schildert, wirklich für realistisch?

LANKAU: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Pädagogisch ist diese Form der automatisierten Beschulung und das kleinteilige Testen von Lernleistung keine Option. Lernen ist an sich ein individueller und sozialer Prozess, wir lernen im Dialog und in Beziehung, wir brauchen ein Gegenüber. Margies Lernmaschine erlaubt nur eine Form von Drill und führt allenfalls zu Lernbulimie. Aber es gibt IT-Unternehmen, die solche Techniken bereits an Schülerinnen und Schülern ausprobieren. Ein Beispiel ist Facebook mit “Summit Learning”. Das Versprechen: Eltern kaufen einen Laptop, die Schule stellt die Räume und Sozialcoaches als Aufsicht, Facebook übernimmt das Unterrichten übers Netz. Es ist komplett gescheitert. Die Eltern haben ihre Kinder reihenweise ab- und auf kostenpflichtige Privatschulen umgemeldet, weil den Kindern der Sozialkontakt fehlte und sie am Laptop körperlich und psychisch regelrecht verkümmerten.

REALIST: Welche Anzeichen der Verwirklichung dieser “digitalen Zukunftsvision von Schule” sehen Sie schon heute?

Isaac Asimov: Automatisierte Beschulung

LANKAU: Digitale Zukunftsvision von einer Schule werden seit über 30 Jahren für jede neue Gerätegeneration und mit den immer gleichen Argumenten formuliert: Rechner und Software seien modern, innovativ, lernförderlich und motivierend. Wissenschaftlich belegt ist davon nichts, im Gegenteil. (…) Lernen soll messbar werden und möglichst vorhersagbare Ergebnisse “produzieren”. Die Konzepte kommen aus der Konsumgüterindustrie und werden auf soziale Einrichtungen übertragen. Die Begriffe sind Prozesssteuerung und -optimierung, Effizienz und Kostenreduktion. De facto ist es Automatisierung. Digitaltechnik ist nur die technische Infrastruktur. Im Kontext Schule wird daraus die “Produktion von Humankapital mit validierten Kompetenzen” (Humankapitaltheorie).

Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern kann.

Die Theorien und Modelle im Kontext Schule sind empirische Bildungsforschung und datengestützte Schulentwicklung. Dafür braucht man immer mehr Daten, dafür werden von Psychologen immer neue Methoden entwickelt und an Schülerinnen und Schülern getestet, die per Learning Analytics ausgewertet werden. Im Grunde sind es uralte Hoffnungen: dass man alles berechnen und mit Hilfe der passenden Methoden, Medien und Techniken kontrollieren und steuern kann. Das Problem: Bei technischen Abläufen funktioniert es, nur sind Menschen zum Glück keine Maschinen, sondern Individuen. Damit kommt es zum Gegensatz Humanität versus Digitalität.

REALIST: Eine Digitalisierung, wie von Ihnen eben beschrieben, würde also letztlich zu einer “inhumanen Schule” führen?

Realist, das Magazin des Realschullehrerverband von Baden-Württemberg

LANKAU: Ja, wenn man Empirikern, Psychologen und Systemanbietern die Regie überlässt. Empiriker arbeiten mit Daten, wie jede Wissenschaft. Aber zur Auswertung gehören bei Empirikern wie Psychologen Statistik und Mustererkennung. Sobald man anfängt, Lernleistungen zu vermessen, muss man Prozesse und Ergebnisse standardisieren. Wir beobachten schon länger, dass immer mehr Tests in die Schulen kommen für nationale und internationale Rankings, PISA etwa. Diese Rankings sind aber nicht sehr aussagekräftig, weil sie weltweit normiert sind und die nationalen Bildungssysteme nicht berücksichtigen. In vielen asiatischen Schulen etwa ist es eine Ehre teilzunehmen, man vertritt die Schule und das Land und beschämt die Nation mit schlechten Ergebnissen. Bei uns ist die Teilnahme eher lästig. Oder in den USA: Amerikanische Jugendliche schnitten im Mathe-Test schlecht ab, letztes Drittel. Eine Forschergruppe hat ihnen daraufhin für jede richtig gelöste Mathematikaufgabe einen Dollar versprochen. Die gleiche Gruppe hat, ohne eine Stunde Mathe mehr, vergleichbar schwere Aufgaben so gut gelöst, dass sie im Mittelfeld gelandet wäre. Der Unterschied: Das Anreizsystem hat gestimmt. Noch wichtiger aber ist: Bildung ist nicht messbar ist. Wir verkürzen durch das ganze Testen Schule und Unterricht auf Messbares. Das bedient zwar die Testindustrie, sorgt aber nicht unbedingt für Verstehen bei Schülerinnen und Schülern. (…)

REALIST: Trotzdem wiederholen ja viele Bildungspolitiker und zahlreiche in der Öffentlichkeit sehr präsente Stiftungsvertreter von Firmen immer wieder gebetsmühlenartig, dass die Digitalisierung den Unterricht besser mache und auch für mehr “Bildungsgerechtigkeit” sorge. Stimmt das also nicht? Die “Corona-Krise” hat doch gezeigt, dass viele Schulen technisch auf Fernunterricht nur schlecht vorbereitet sind. Brauchen wir nicht gerade deshalb einen dramatischen Digitalisierungsschub für alle?

Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter.

Eine umfassende Studie der OECD aus dem Jahre 2012 zeigt ernüchternde Resultate

LANKAU: Keine Medientechnik und kein Medium macht Unterricht per se besser oder gerechter. Die OECD-Studie zu Resilienz belegt, dass der Einsatz von Computern die soziale Schere sogar aufgehen lässt, weil Kinder und Jugendliche auch in der Schule wieder vor einem Bildschirm sitzen und sich abgeschoben fühlen. Gerade Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten brauchen ein direktes Gegenüber, eine Lehrpersönlichkeit, die ihnen zugewandt ist. Lernen ist Interaktion, auf der Basis von Vertrauen. (…)

REALIST: Und die Medien?

LANKAU: Ein Kollege erklärt wunderbar an der Tafel, die andere Kollegin mit Hilfe von Tablet und Beamer oder umgekehrt. Wir setzen seit über 30 Jahren PCs, Laptops und heute Tablets ein, das ist kein Qualitätsmerkmal, eher im Gegenteil. Wer glaubt, die technische Ausstattung von Schulen sei ein Garant für gelingenden Unterricht irrt oder verfolgt eine eigene, meist kommerzielle Agenda. Man sollte es den Lehrkräften überlassen, welche Medien sie im Unterricht einsetzen.

 

Dass die Schulen auf Fernunterricht nicht vorbereitet waren, ist richtig. Das mussten sie auch nicht sein, weil Schulen in Deutschland normalerweise Präsenzschulen sind – und bleiben müssen. (…)

In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient.

REALIST: Wem nützt also die Digitalisierung, die von diesen Digitalisierungsbefürwortern propagiert wird?

LANKAU: In Amerika gibt es einen simplen Spruch dafür: Follow the money. Bei uns heißt er: Cui bono? Wem nützt es? Bei den von der IT-Wirtschaft vertretenen Konzepten wie etwa Tablet-Klassen profitieren eindeutig die Anbieter von Hard- und Software und entsprechenden Dienstleistungen. Versprochen wird eine IT-Infrastruktur aus einer Hand (Apple, Google, Microsoft u.a.). Die großen Vertreter der Global Education Industries (GEI) und der EdTEch-Startups (Education Technologies) bereiten sich ihre Märkte. Für diese Anbieter sind alle Bildungseinrichtungen Märkte, die wie andere Märkte beworben und bespielt werden. In Deutschland gibt es z.B. eine gemeinnützige Stiftung, die in Studien die Digitalisierung fordert und mit ihrem nicht gemeinnützigen Unternehmen gleichen Namens den Bildungsmarkt bedient. Es ist ein Milliardenmarkt. (…)

Es sind Manager, die Bildung als Produkt vermarkten

REALIST: Sie sprachen gerade von einer “gemeinnützigen Stiftung”, die vehement die Digitalisierung fordert und gleichzeitig mit ihrem Unternehmen den Bildungsmarkt bedient. Ich denke mal, dass Sie damit die “Bertelsmann-Stiftung” meinen. Bei meinen Recherchen zum Thema bin ich auf der Seite der Bertelsmann AG im Bereich “Strategie Wachstumsplattformen” auf einen Satz gestoßen, der mich nachhaltig irritiert hat. Da stand “Gleichzeitig sorgt die Digitalisierung dafür, dass Bildung auch online in guter Qualität ausgeliefert werden kann”. Ist Bildung für diese Unternehmen eine Pizza, die auf Bestellung geliefert werden kann?

LANKAU: Ja, es sind Manager, die “Bildung” als Produkt vermarkten wie eine Pizza oder wie eine Dienstleistung, etwa einen Streamingdienst. Man bezahlt für Kurse und bekommt Zertifikate. Das ist der Deal. Die Gütersloher versprechen unter dem Label Bertelsmann Education Group, das “Lernen im 21. Jahrhundert”. Schwerpunkte sind derzeit Hochschulen und E-Learning-Angebote wie Relias sowie Beteiligungen an HotChalk und Udacity. Dazu kommen Dienstleistungen in der Weiterbildung. Der aktuelle Umsatz liegt bei 333 Mio. Euro, aber der internationale Bildungsmarkt ist, auch ohne Covid-19, einer der dynamischsten expandierenden Märkte.

REALIST: Ein bekannter Verfechter der, ich nenne es jetzt vereinfacht mal “Automatisierung der Schule” aus der Schweiz hat vor kurzem gefordert, dass sich Lehrerinnen und Lehrer nicht um Datenschutz zu kümmern haben. Schließlich würde er als Lehrer auch nicht, bevor er seine Schule betritt, die Erdbebensicherheit des Schulgebäudes überprüfen. Können wir es uns so einfach machen?

Philippe Wampfler: Lehrer sollten sich nicht um Datenschutz kümmern.
Photo: Florian Bachmann

LANKAU: Nein. Schweizer Freunde haben mir den Beitrag[i] geschickt und ich bin entsetzt. Das Erschreckende ist, dass dieser Lehrer sich vehement für Digitaltechnik in Schulen einsetzt, aber jede Form von kritischem Diskurs verweigert. Ich habe dazu eine Replik geschrieben: “Digital-Apostel in Vogel-Strauß-Manier oder: Sprechverbote über den Einsatz von Digitaltechnik und Datenschutz in Schulen sind keine Lösung”[ii] und auch einen längeren Beitrag[iii]. Denn was bei der Argumentation dieses Digitalisten prototypisch zu beobachten ist, ist die Delegation der Verantwortung an vermeintliche “Experten”.

(…) Immanuel Kant schrieb 1784 in seinem Text “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”: “Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.” Verdrießliche Geschäfte sollen andere machen? Eine meiner Thesen zur Digitalisierung ist: Digitaltechnik, wie sie derzeit aus dem Silicon Valley kommt, ist Technik der Gegenaufklärung. Menschen werden daran gewöhnt zu tun, was Maschinen ihnen sagen. Das ist Erziehung zur Unmündigkeit und widerspricht dem Bildungsauftrag von Schulen.

REALIST: Wir vom Realschullehrerverband wehren uns seit Jahren vehement gegen den Begriff “Lernbegleiter”, der vor allem an Gemeinschaftsschulen für Lehrkräfte verwendet wird. Gerne werden wir dafür als “Ewig-Gestrige” bezeichnet. Wie sehen Sie die Verwendung des Begriffes “Lernbegleiter”? Nur eine modernere Bezeichnung oder steckt aus Ihrer Sicht mehr dahinter?

Der Bergiff ist für mich ein Synomym für Arbeitsverweigerung

LANKAU: Der Begriff Lernbegleiter ist für mich das Synonym für pädagogische Arbeitsverweigerung. Wir sind als Pädagogen keine Begleiter, sondern ganz entscheidende Akteure. Wir strukturieren und gestalten den Unterricht, lehren und unterstützen individuell. Wir sind aufgrund unseres Studiums und der Lebens- wie zunehmender Lehrerfahrung in der Lage, binnendifferenziert zu fördern, und sind vor allem als Lehrpersönlichkeit Ansprechpartner und Vorbild. (…)

Die ewig Morgigen

Der Vorwurf, “ewig Gestriger” zu sein, ist lachhaft. Der Mensch lernt heute nicht anders als vor 100 oder 1000 Jahren. Biologische Veränderungen der Physis, Psyche oder Kognition ändern sich nicht in den Rhythmen technischer Innovationen. Wir können den Spieß aber gerne umdrehen: Egal, welche Technik auf den Markt kommt, werden sich immer Vertreter in den Kollegien finden, die deren Einsatz umgehend im Unterricht fordern. Der Schweizer Pädagoge Carl Bossard nennt solche Technikfetischisten die „ewig Morgigen“. Alles wird sofort im Unterricht eingesetzt. Wenn dann etwas nicht funktioniert, kommt sogleich ein „es funktioniert noch nicht, weil … die Lehrer/innen die Technik noch nicht richtig einsetzen würden, die Schüler/innen den Umgang erst lernen müssten, die Systeme noch nicht richtig konfiguriert seien, die Programme erst noch optimiert werden müssten etc.pp. Dabei kommt es im Unterricht auf anderes an als Technik: auf das Miteinander.

REALIST: Wie sieht für Sie eine sinnvolle, den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schülern gerecht werdende Digitalisierung der Schule aus? Welchen Weg sollten Schulen einschlagen? Und gibt es Grenzen dabei, die nicht überschritten werden sollten?

Schule muss die Ambivalenz vermitteln

LANKAU: Digitaltechnik ist, wie jede Technik, ambivalent. Auf der einen Seite faszinierend, auf der anderen ein potentielles Überwachungs- und Kontrollsystem. (…) Das Ziel von Schulen muss sein, diese Ambivalenz des Digitalen und die Unterscheidungskriterien zu vermitteln, um zwischen sinnvollen und nur kommerziellen Angeboten zu differenzieren. Denn als Werkzeug und Instrument können Digitaltechniken sehr hilfreich sein, aber Technik darf den Menschen nicht beherrschen oder (etwa unterbewusst) manipulieren.

“Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.” Einstein

Daher ist die zweite Aufgabe die Dekonstruktion der ganzen Heilslehren der Digitaltechnik bis zum Transhumanismus, d.i. die unhaltbare Behauptung, man könne das menschliche Bewusstsein technisch transformieren und ins Netz laden und damit (wieder einmal) unsterblich werden.  (… W)as Algorithmen, also Handlungsanweisungen für Rechner, machen, ist im Kern Mustererkennung, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit lassen sich viele (technische) Aufgaben lösen, aber wie Einstein gesagt haben soll: “Nicht alles, was zählt, ist zählbar, und nicht alles, was zählbar ist, zählt.” Was sich nicht berechnen (und standardisieren) lässt, ist das Soziale, das Humane und das Individuelle. Wir müssen wieder lernen zu unterscheiden, bei was Technik uns helfen kann und wo der Mensch als Mensch gefragt ist.

REALIST: Welche Rolle sollen dabei künftig die Lehrkräfte einnehmen?

Die Lehrerin oder der Lehrer ist der Gegenpol

LANKAU: Lehrerinnen und Lehrer sind in einer zunehmend technisierten, digitalisierten und in Pandemie-Zeiten auch in der Schule virtualisierten Welt ein wichtiger und notwendiger Anker und Gegenpol. Sie sind als Lehrpersönlichkeit eine zentrale Bezugspersonen und im Idealfall Vorbild. Gerade junge Menschen sind den ganzen Optionen und Versuchungen der virtuellen Welten ohne ausreichendes Reflexionsvermögen ausgesetzt. Daher müssen Lehrende in allen (Hoch)Schulformen ihren Schülerinnen und Schülern oder Studierenden Methoden und ein Instrumentarium vermitteln, damit sie selbst qualifiziert analysieren und entscheiden können, was sie von all den neuen Techniken, Medien und Geräten brauchen – und was nicht. Nur, weil etwas auf dem Markt ist, muss ich es nicht konsumieren. Noch wichtiger ist zu vermitteln, dass das echte Leben nicht im digitalen Raum oder an Display und Touchscreens stattfindet, sondern notwendig in der realen Welt, in Gemeinschaft mit realen anderen. Für das Miteinander braucht man gemeinsame Zeit und Vertrauen, vielleicht das Schlüsselwort der Pädagogik. „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ (Paul Claudel)

REALIST: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Lankau!

 

Prof. Dr. Lankau unterrichtet seit 1985 als promovierter Pädagoge mit analogen und seit 1987 mit digitalen Medien und Techniken, davon 20 Jahre als Fernlehrer. Seit 2002 hat er an der Hochschule Offenburg eine Professur für Digitaldesign, Mediengestaltung und -theorie inne.

 

 

[i] Philippe Wampfler: Lehrer sollten nicht mehr über Datenschutz sprechen. In: https://schulesocialmedia.com/2020/09/25/lehrkraefte-sollten-nicht-mehr-ueber-datenschutz-sprechen/

[ii] https://condorcet.ch/2020/10/digital-apostel-in-vogel-strauss-manier-oder-sprechverbote-ueber-den-einsatz-von-digitaltechnik-und-datenschutz-in-schulen-sind-keine-loesung/

[iii] https://fu-tur-iii.de/2020/10/23/digital-apostel-in-vogel-strauss-manier-2/

 

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