{"id":8333,"date":"2021-04-19T14:58:15","date_gmt":"2021-04-19T12:58:15","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=8333"},"modified":"2021-04-19T14:58:15","modified_gmt":"2021-04-19T12:58:15","slug":"von-der-paedagogischen-ungewissheitsdynamik","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2021\/04\/von-der-paedagogischen-ungewissheitsdynamik\/","title":{"rendered":"Von der p\u00e4dagogischen Ungewissheitsdynamik"},"content":{"rendered":"
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Carl Bossard: Viele Ungewissheiten<\/figcaption><\/figure>\n

Wer wettkampfm\u00e4ssig einen Orientierungslauf bestreitet und sich bei der Routenwahl nicht einfach an sicheren Waldwegen und Leitlinien orientiert, der weiss: Trotz Karte und Kompass z\u00e4hlt zum OL das Ungewisse, geh\u00f6rt das Unverf\u00fcgbare wie Dickicht und T\u00fcmpel, rechnet sich das Zuf\u00e4llige, denn die gew\u00e4hlte Laufstrecke k\u00f6nnte meist auch eine andere sein: Darin liegt das Kontingente dieses Sports, und darin verbirgt sich sein Faszinosum. Es ist die Spannung zwischen Machbarem und Unsicherem, zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit des Gel\u00e4ndes, zwischen dem getroffenen Routenentscheid und dem konkreten Weg \u2013 der OL als Metapher f\u00fcrs nicht-lineare Unterrichtsgeschehen, f\u00fcrs Wirken im offenen und komplexen Raum des p\u00e4dagogischen Parterres.<\/p>\n

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Jede erfahrene Lehrerin kennt die Aspekte des Unplanbaren, jeder praxiserprobte Lehrer weiss um die Unsicherheit der Lernprozesse und der Lernergebnisse.<\/p><\/blockquote>\n

Ungewissheit als Kennzeichen p\u00e4dagogischen Handelns<\/strong><\/p>\n

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Prof. Dr. Niklas Luhmann: Sich nicht aus der Fassung bringen lassen.<\/figcaption><\/figure>\n

Kontingenz, Ungewissheit und das Unverf\u00fcgbare: Diese drei Eckwerte geh\u00f6ren darum konstitutiv zum Schulalltag; sie machen das Bermudadreieck des Unterrichts aus. P\u00e4dagogisches Handeln ist in hohem Grad von Ungewissheiten und Ambiguit\u00e4ten gepr\u00e4gt. Jede erfahrene Lehrerin kennt die Aspekte des Unplanbaren, jeder praxiserprobte Lehrer weiss um die Unsicherheit der Lernprozesse und der Lernergebnisse. Ungewissheit geh\u00f6rt zu ihrer T\u00e4tigkeit wie das Amen in der Kirche.[i]<\/a><\/p>\n

Darum wohl diagnostiziert der Systemtheoretiker Niklas Luhmann: \u201eWas der Lehrer lernen kann, ist demnach nicht als rezeptgenaues Handeln aufzufassen. [Er muss] mit einem bestimmten, unterrichtstypischen Verh\u00e4ltnis von Redundanz und Variet\u00e4t zurechtkommen. [\u2026] Unterrichtserfahrung heisst demnach auch\u201c, so f\u00e4hrt er fort, \u201edass man durch bestimmte \u00dcberraschungen und negative Erfahrungen sich nicht aus der Fassung bringen l\u00e4sst.\u201c[ii]<\/a> Luhmann verweist damit auf die Grenzen der Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit einer jeden Unterrichtsarbeit.<\/p>\n

Kaum etwas verl\u00e4uft gradlinig und krisenlos<\/strong><\/p>\n

Die systematische Unsicherheit dieses p\u00e4dagogischen Handelns zeigt sich in vielen Fragen: \u201eWerde ich die Kinder vom Wert des Lernens und des \u201eGet involved!\u201c \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, und bauen sie ein nachhaltiges Interesse f\u00fcr das Thema auf? Kann ich mein \u201aProgramm\u2018 sinnvoll bearbeiten, und f\u00e4llt mir zum richtigen Zeitpunkt der richtige Impuls ein? Was geschieht in den K\u00f6pfen der Jugendlichen? Werden sie die Aufgabe verstehen und bearbeiten k\u00f6nnen? Und wer von meinen Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fclern kommt wann und wie ans Ziel? Wo bauen sie Widerst\u00e4nde auf, wo erfahren sie Irritationen?\u201c Das und manches mehr m\u00f6chten Lehrerinnen und Lehrer wissen, doch sie k\u00f6nnen sich dessen nie ganz gewiss sein.<\/p>\n

P\u00e4dagoginnen und Ausbildner erleben diese Spannung immer dann, wenn sie Lektionen planen und durchf\u00fchren. Warum? Sie sind konfrontiert mit der Komplexit\u00e4t von Lehr- und Lernprozessen, mit der Unvorhersehbarkeit von sozialen Dynamiken in der Klasse und dem unvermeidbaren Eingehen von Risiken im Lektionsgeschehen.[iii]<\/a> Unterrichten ist ein stetes Suchen nach dem M\u00f6glichen und Notwendigen. Im Zuf\u00e4lligen und Unverf\u00fcgbaren, in dem, was nicht geplant werden kann, liegt das Kontingente dieses anspruchsvollen Berufs. Zum Ausdruck kommt das im charakteristischen Satz: \u201eEs k\u00f6nnte auch ganz anders m\u00f6glich sein.\u201c<\/p>\n

Das belebt und macht die kreative Vielfalt und Freiheit dieser Aufgabe aus.<\/p><\/blockquote>\n

Spannung darf nicht zum pers\u00f6nlichen Problem werden<\/strong><\/p>\n

Was auch anders m\u00f6glich ist, er\u00f6ffnet Handlungsoptionen und Gestaltungsspielr\u00e4ume, bietet Alternativen, generiert Perspektiven. Das ist einerseits bereichernd, das belebt und macht die kreative Vielfalt und Freiheit dieser Aufgabe aus. Anderseits kann diese Offenheit, dieses Unplanbare auch verunsichern, kann dieses kontingente \u201eEs k\u00f6nnte auch anders sein\u201c, dieses implizite \u201eAuch-anders-handeln-K\u00f6nnen\u201c irritieren und beunruhigen. Manche Lehrpersonen nehmen dieses Vieldeutige, diese Spannung zwischen Machbarkeit und Unsicherheit, eher als Problem und Last wahr und weniger als befl\u00fcgelndes Stimulans. Das zeigt die Forschung.<\/p>\n

Die engen Vorgaben wollen kontingente Situationen eliminieren und das Bildungsgeschehen kontrollieren.<\/p><\/blockquote>\n

Unterrichten ist Handeln in kontingenten Situationen <\/strong><\/p>\n

Unterricht detailliert planen und alle Eventualit\u00e4ten mitbedenken, das geh\u00f6rt zum erworbenen Grundhabitus von Lehrpersonen. So lernen sie es in der Grundausbildung und in Weiterbildungskursen. Sicher und gewiss m\u00f6chten sie sein, vielleicht sogar \u201eeindeutig\u201c, m\u00f6chten den Ablauf linear-zielorientiert steuern und kontrollieren. Es sollte nichts passieren, nichts danebengehen.<\/p>\n

So suggerieren es auch Lehrpl\u00e4ne und Papiere aus den Bildungsst\u00e4ben. Die engen Vorgaben wollen kontingente Situationen eliminieren und das Bildungsgeschehen kontrollieren. Sie setzen auf Sicherheit und damit auf einen beherrschbaren, stringent planbaren und rational lenkbaren Unterrichtsverlauf; im Grunde laufen solche Direktiven immer auch auf Wenn-Dann-Korrelationen hinaus \u2013 wie beispielsweise: Wenn die Kinder selbstorientiert ihre Aufgaben bearbeiten, dann sind sie intrinsisch motiviert.<\/p>\n

\"\"Kontingenz ist allgegenw\u00e4rtig<\/strong><\/p>\n

Doch der freie Geist geht immer wieder nebenhinaus; das Offene und Unvorhersehbare geh\u00f6rt zum Unterricht. Das Kreative braucht eben einen Schuss Chaos. Darum ist die Kontingenz in der Schule \u2013 wie auch im t\u00e4glichen Leben \u2013 allgegenw\u00e4rtig; sie l\u00e4sst sich weder restlos beherrschen noch eliminieren. Im Gegenteil: In unplanbaren Situationen liegen manche \u00fcberraschende, wertvolle Aspekte des Unterrichts.<\/p>\n

Zentrale Spannungsfelder lassen sich nicht aufl\u00f6sen <\/strong><\/p>\n

Jede OL-L\u00e4uferin, jeder OL-Wettk\u00e4mpfer erlebt auf der Route zum n\u00e4chsten Posten das Unsichere und Ungewisse. Das Kontingente l\u00e4uft sozusagen mit. Es ist die stete Frage: H\u00e4tte ich nicht gegenteilig entscheiden und eine andere Strecke w\u00e4hlen sollen? Die Ungewissheit ist kein Defizit; sie geh\u00f6rt zum Gelingen. Jeder OL-Crack nimmt sie als dynamisches Element seines Sports an.<\/p>\n

Und genau gleich gewinnen erfahrene Lehrpersonen ein konstruktives Verh\u00e4ltnis zum Problem der Kontingenz und der Ungewissheit.[iv]<\/a> Das Spannungsfeld von Gewissheit und M\u00f6glichkeit, von prinzipiell Geplantem und konkret Machbarem l\u00e4sst sich nicht aufl\u00f6sen; es l\u00e4sst sich nur aushalten und gewinnbringend gestalten. Das bleibt f\u00fcr die Lehrpersonen eine zentrale Aufgabe ihres p\u00e4dagogischen Handelns. Zugunsten ihrer Kinder und Jugendlichen.<\/p>\n

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[i]<\/a> Vgl. Andreas Gruschka 2018), Ungewissheit, der innere Feind f\u00fcr unterrichtliches Handeln,<\/em> in: Ingrid B\u00e4hr et al. (Hrsg.), Irritation als Chance. <\/em>Bildung fachdidaktisch denken,<\/em> Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 163.<\/p>\n

[ii]<\/a> Niklas Luhmann (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen.<\/em> Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 45f.<\/p>\n

[iii]<\/a> Vgl. Klaus Schneider (2021), Der Berufseinstieg von Lehrpersonen. \u00dcbergang und erste Berufsjahre im Kontext lebenslanger Professionalisierung<\/em>. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 21.<\/p>\n

[iv]<\/a> Arno Combe (2015), Schulkultur und Professionstheorie. Kontingenz als Handlungsproblem des Unterrichts<\/em>, in: Jeanette B\u00f6hme et al. <\/strong>(Hrsg.), Schulkultur. Theoriebildung im Diskurs<\/em>. Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 118.<\/p>\n

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Unterrichten ist ein komplexes Geschehen, Schule-Geben ein Handeln in kontingenten Situationen. Doch das bleibt in Ausbildung und [Schul-]Alltag ein blinder Fleck. Ein Er-innerungsversuch von Condorcet-Autor Carl Bossard.<\/p>\n","protected":false},"author":11,"featured_media":8341,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[211,51,372],"coauthors":[936],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8333"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/11"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=8333"}],"version-history":[{"count":4,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8333\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":8345,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/8333\/revisions\/8345"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/8341"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=8333"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=8333"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=8333"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=8333"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}