{"id":6550,"date":"2020-10-05T02:02:30","date_gmt":"2020-10-05T00:02:30","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=6550"},"modified":"2020-10-05T07:36:40","modified_gmt":"2020-10-05T05:36:40","slug":"entwicklung-der-heilpaedagogik-in-der-schweiz","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2020\/10\/entwicklung-der-heilpaedagogik-in-der-schweiz\/","title":{"rendered":"Entwicklung der Heilp\u00e4dagogik in der Schweiz"},"content":{"rendered":"

Das Bed\u00fcrfnis nach qualifizierten Fachpersonen war seit der Einf\u00fchrung der Schulpflicht im 19. Jahrhundert stetig gewachsen. Da Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fcler mit Lernschwierigkeiten nur teilweise dem Unterricht folgen konnten, ert\u00f6nte bald der Ruf nach Sonderklassen und -schulen. Mit deren Schaffung ging die Forderung nach einer besonderen Ausbildung der Sonderschullehrkr\u00e4fte einher.<\/p>\n

Heilp\u00e4dagogisches Seminar Z\u00fcrich <\/strong><\/p>\n

1924 startete das Heilp\u00e4dagogische Seminar Z\u00fcrich (HPS) als Fortbildungseinrichtung f\u00fcr Lehrer mit drei Tischen, 19 St\u00fchlen, einer Wandtafel, einem Bleistift und einem St\u00fcck Kreide. Mitbegr\u00fcnder und bis 1941 Rektor des HPS war Heinrich Hanselmann (1885-1960). Er er\u00f6ffnete den ersten Jahreskurs mit acht Studierenden und ebenso vielen Dozenten. Das Sommersemester war der theoretischen und die verbleibenden zwei Drittel des Jahres der praktischen Vorbildung gewidmet. Im Mittelpunkt standen die praktischen Seminar\u00fcbungen mit w\u00f6chentlich 7-12 \u00dcbungsstunden. Gleichzeitig wurden die Kandidaten zum Besuch von regul\u00e4ren Vorlesungen w\u00e4hrend des Sommersemesters an der philosophischen Fakult\u00e4t der Universit\u00e4t Z\u00fcrich verpflichtet (Vorlesungen \u00fcber allgemeine und experimentelle Psychologie und P\u00e4dagogik, Geschichte der P\u00e4dagogik, Volksschulkunde, Heilp\u00e4dagogik und Hygiene).<\/p>\n

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Haus Turnegg, ehemaliges HPS Z\u00fcrich-Fluntern (Wikipedia)<\/figcaption><\/figure>\n

Das HPS wurde von Heinrich Hanselmann und sp\u00e4ter Paul Moor durch wichtige Einrichtungen, wie das Landerziehungsheim Albisbrunn als praktischem Ausbildungsort und eine Erziehungsberatungsstelle, erweitert. Der Schwerpunkt der Ausbildung lag in der praktischen Umsetzung der theoretischen<\/p>\n

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Landerziehungsheim Albisbrunn<\/figcaption><\/figure>\n

Grundlagen. Diese wurden im Laufe der Zeit zunehmend differenzierter und auch spezialisierter. Deshalb wurde 1972 das Studium neu in ein allgemeines Grundstudium und Spezialausbildungen gegliedert, die auch f\u00fcr das ausserschulische heilp\u00e4dagogische Berufsfeld qualifizierten. Dies waren insbesondere die Psychomotorische Therapie und die Logop\u00e4die. Zudem wurde die Abteilung \u201eAllgemeine Fortbildung” geschaffen und im Jahre 1981 erstmals ein \u201eSonderkurs f\u00fcr Fr\u00fcherzieher” durchgef\u00fchrt.<\/p>\n

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Erster Lehrstuhl f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik in Europa<\/strong><\/p>\n

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Heinrich Hanselmann
Foto: Wertebildung.de<\/figcaption><\/figure>\n

Mit der Er\u00f6ffnung des ersten europ\u00e4ischen<\/strong> Universit\u00e4tslehrstuhls f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich wurde die Verbindung des HPS mit der Universit\u00e4t noch enger. Heinrich Hanselmann wurde 1931 zum ersten Professor f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik ernannt. 1937 wurde er erster Pr\u00e4sident der 1937 gegr\u00fcndeten Internationalen Gesellschaft f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik<\/em>.<\/p>\n

Hanselmann und sein Nachfolger Paul Moor (1899-1977) geh\u00f6ren zu den Pionieren der Heilp\u00e4dagogik in der Schweiz. Moor leitete das HPS von 1949 bis 1961 und \u00fcbernahm 1951 an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich als ausserordentlicher Professor den Lehrstuhl f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik.<\/p>\n

Heilp\u00e4dagogik als neue humanwissenschaftliche Disziplin\u00a0 <\/strong><\/p>\n

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Paul Moor \u00fcbernahm 1951 an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich als ausserordentlicher Professor den Lehrstuhl f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik<\/figcaption><\/figure>\n

Hanselmann erweiterte die bis dato stark durch die Medizin gepr\u00e4gte Heilp\u00e4dagogik, definierte sie als Wissenschaft neu und erm\u00f6glichte andere Perspektiven und M\u00f6glichkeiten. F\u00fcr Hanselmann war die folgende Differenzierung f\u00fcr die Etablierung der Heilp\u00e4dagogik als Disziplin essentiell.<\/p>\n

\u00abDarum ist Heilp\u00e4dagogik auch etwas anderes als eine blosse Kompilation von gewissen medizinischen und psychologischen Kenntnissen. Sie ist mehr und anders als eine blosse Addition gewisser psychotherapeutischer Methoden und p\u00e4dagogischer Massnahmen.\u00bb (Hanselmann, 1932, S. 17).<\/p>\n

Durch die Beschreibung der Entwicklung des Menschen und des Zusammenhangs zwischen Anlage und Umwelt wird deutlich, welche Themen und Fragestellungen zu Beginn durch Hanselmann vordringlich gestellt und bearbeitet wurden. Im Mittelpunkt stand die \u00dcberlegung, die Behinderung nicht nur einem Individuum zuschreibt, sondern auch dessen Umwelt miteinbezieht.<\/p>\n

Hanselmann wollte die Heilp\u00e4dagogik nicht nur zu einer eigenst\u00e4ndigen wissenschaftlichen Disziplin machen, sondern er legte auch den Grundstein f\u00fcr ein ver\u00e4ndertes Bewusstsein im Umgang mit behinderten Menschen, das sich durch das ganze 20. Jahrhundert zog und bis heute hochaktuell ist.<\/p><\/blockquote>\n

Erzieher m\u00fcssen in besonderer Weise vorbereitet werden<\/strong><\/p>\n

Die Institutionalisierung der Heilp\u00e4dagogik war nicht nur durch die Differenzierung inhaltlicher Aspekte, sondern auch durch die Konzeption der eigenst\u00e4ndigen Ausbildung von Heilp\u00e4dagoginnen und Heilp\u00e4dagogen gekennzeichnet. 1928 schrieb Hanselmann im Aufsatz \u00ab\u00dcber heilp\u00e4dagogische Ausbildung\u00bb, dass Erzieher und Lehrer auf die Erziehung \u00abdes entwicklungsgehemmten Kindes\u00bb in besonderer Weise vorbereitet werden m\u00fcssen. Hanselmann wollte die Heilp\u00e4dagogik nicht nur zu einer eigenst\u00e4ndigen wissenschaftlichen Disziplin machen, sondern er legte auch den Grundstein f\u00fcr ein ver\u00e4ndertes Bewusstsein im Umgang mit behinderten Menschen, das sich durch das ganze 20. Jahrhundert zog und bis heute hochaktuell ist.<\/p>\n

Kinder werden als soziale Wesen verstanden<\/strong><\/p>\n

Grundlage f\u00fcr die heilp\u00e4dagogische Arbeit war ein an der europ\u00e4ischen Wissenschaftstradition orientiertes personales Menschenbild. Die Lebensgeschichte des Kindes war Ausgangspunkt der heilp\u00e4dagogischen Arbeit und der Erziehungs- und Beziehungsaspekt stand im Zentrum. Diese personale Auffassung des Kindes wurde bis in die 1980er-Jahre gelehrt und praktiziert. Heinrich Hanselmann, Paul Moor, Ernst Scheidegger, Emil E. Kobi, um nur einige der bekannten Schweizer Heilp\u00e4dagogen zu nennen, bildeten die angehenden Heilp\u00e4dagogen in diesem Sinne aus.<\/p>\n

Neue Heilp\u00e4dagogik: Abkehr von P\u00e4dagogik und ganzheitlichem Ansatz<\/strong><\/p>\n

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Verh\u00e4ngnisvolle Entwicklung<\/figcaption><\/figure>\n

Eine folgenschwere Weichenstellung in der Heilp\u00e4dagogik erfolgte unter anderen im Kanton Z\u00fcrich mit dem Bildungsratsbeschluss vom 4. September 2006: Man erkl\u00e4rte ein Verfahren f\u00fcr die Arbeit mit Kindern mit \u00abbesonderen Bed\u00fcrfnissen\u00bbf\u00fcr verbindlich, das auf dem Hintergrund der \u00abInternationalen Klassifikation der Funktionsf\u00e4higkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)\u00bb ausgearbeitet worden war. Damit vollzog sich ein Paradigmenwechsel vom personalen Menschenbild zu einem theoriefreien, auf rein deskripitiv-empirischer Grundlage beruhenden Konzept, das der angloamerikanischen Wissenschaftsauffassung entsprang. Die Heilp\u00e4dagogik wurde damit von der P\u00e4dagogik in den medizinisch-psychiatrischen Fachbereich \u00fcberf\u00fchrt. Heute sind kinderpsychiatrische oder -psychologische Abkl\u00e4rungsverfahren \u00fcblich, aus denen Diagnosen resultieren, wie sie im internationalen psychiatrischen Klassifizierungssystem ICD-10 aufgef\u00fchrt sind, das in der Heilp\u00e4dagogik im ICF seine Entsprechung hat.<\/p>\n

Mit der Kinderversion des ICF werden die Beobachtungen durch einheitliche Kriterien und eine einheitliche Sprache erfasst und in den Rastern der vorgegebenen Bereiche auflistet.<\/p><\/blockquote>\n

Mit der Kinderversion des ICF werden die Beobachtungen durch einheitliche Kriterien und eine einheitliche Sprache erfasst und in den Rastern der vorgegebenen Bereiche auflistet. Daraus werden F\u00f6rderziele abgeleitet und F\u00f6rderpl\u00e4ne erstellt, nach denen Eltern, Lehrer und Therapeuten arbeiten. Auch wenn stets von Ressourcenorientiertheit gesprochen wird, richtet sich der Scheinwerfer im Grunde genommen auf die Defizite und das Unverm\u00f6gen der Kinder und schr\u00e4nkt den p\u00e4dagogischen Spielraum auf blosse Verhaltenskonditionierung (Behaviorismus) ein. Die heutige heilp\u00e4dagogische Ausbildung und Praxis folgt diesen Richtlinien.<\/p>\n

Zwischen 2005 und 2006 wurden die Studieng\u00e4nge der Fachhochschulen an die \u201eErkl\u00e4rung von Bologna\u201c angepasst.<\/p><\/blockquote>\n

Ausbildung und Praxis folgen internationalem psychiatrischem Klassifizierungssystem<\/strong><\/p>\n

Das Heilp\u00e4dagogische Seminar Z\u00fcrich wurde 2001 zur Interkantonalen Hochschule f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik Z\u00fcrich (HfH). Schweizweit wurden die p\u00e4dagogisch-praktisch orientierten Seminare abgeschafft und durch akademisch orientierte Fachhochschulen ersetzt. Zwischen 2005 und 2006 wurden die Studieng\u00e4nge der Fachhochschulen an die \u201eErkl\u00e4rung von Bologna\u201c angepasst (Bachelor- und Masterstudium). Die Ausbildung folgt den oben beschriebenen Grundlagen.<\/p>\n

Seit etwa 2010 beunruhigen Meldungen, dass immer mehr Kinder psychologisch abgekl\u00e4rt werden m\u00fcssen und therapeutische Massnahmen erhalten. Viele Kinder werden schon im fr\u00fchen Alter mit schweren psychiatrischen Diagnosen belastet. Es folgen vielerlei Therapien, die oft \u00fcber Jahre andauern. Die Regelklassen sind oft stark belastet durch Kinder, die dem Unterricht kaum folgen k\u00f6nnen. Die Frage nach dem Warum ist selten zu h\u00f6ren, w\u00e4re aber einschneidend bei einer allf\u00e4lligen Wiedereinf\u00fchrung von Kleinklassen. Denn es stellt sich die Frage, ob die heutigen Heilp\u00e4dagogen in den P\u00e4dagogischen Fachhochschulen unter diesen Pr\u00e4missen das entsprechende praktische R\u00fcstzeug und (heil-)p\u00e4dagogische Fachwissen vermittelt bekommen, um eine Kleinklasse mit Sondersch\u00fclern erfolgreich f\u00fchren zu k\u00f6nnen. Ohne jene Zeit glorifizieren zu wollen, bedeutete erfolgreich f\u00fcr viele Kinder und Jugendliche, die eine Kleinklasse besuchten, dass sie eine Lehre machen konnten und eine Perspektive f\u00fcr ihr Leben erhielten.<\/p>\n

Quellen:<\/strong><\/p>\n

Hanselmann, H. (1928). \u00dcber heilp\u00e4dagogische Ausbildung. In: Zeitschrift f\u00fcr Kinderforschung, 2,<\/em> 113-124.<\/p>\n

Hanselmann, H. (1932). Was ist Heilp\u00e4dagogik? In: Arbeiten aus dem heilp\u00e4dagogischen Seminar, 1<\/em>, 1-18.<\/p>\n

Paul Moor. Heilp\u00e4dagogik. Ein p\u00e4dagogisches Lehrbuch. Bern\/Stuttgart 1969 (Neuauflage 1993),<\/p>\n

Schriber, Susanne (1994): Das Heilp\u00e4dagogische Seminar Z\u00fcrich \u2013 Eine Institutionsgeschichte. Dissertation. Z\u00fcrich: Zentralstelle der Studentenschaft.<\/p>\n

https:\/\/de.wikipedia.org\/wiki\/Heinrich_Hanselmann<\/a><\/p>\n

https:\/\/de.wikipedia.org\/wiki\/Paul_Moor_(P%C3%A4dagoge)<\/a><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Die immer gr\u00f6sseren Schwierigkeiten der sogenannten Integration bzw. Inklusion (in den USA \u201eMainstreaming\u201c genannt) f\u00fchrt dazu, dass der Ruf nach Kleinklassen immer lauter wird. Doch stellt sich damit die Frage, ob eine solche strukturelle Massnahme allein die Probleme l\u00f6sen w\u00fcrde. Wie verh\u00e4lt es sich mit der Ausbildung der Heilp\u00e4dagogen. Werden sie daf\u00fcr ausgebildet, solche Klassen zu f\u00fchren? Peter Aebersolds Blick in die Geschichte zeigt eine interessante Trendwende auf.<\/p>\n","protected":false},"author":5,"featured_media":4324,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[1019,66,1020],"coauthors":[940],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6550"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/5"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=6550"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6550\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6564,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6550\/revisions\/6564"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/4324"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=6550"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=6550"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=6550"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=6550"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}