{"id":6329,"date":"2020-09-10T09:38:38","date_gmt":"2020-09-10T07:38:38","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=6329"},"modified":"2020-09-10T10:55:21","modified_gmt":"2020-09-10T08:55:21","slug":"das-ganze-im-blick","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2020\/09\/das-ganze-im-blick\/","title":{"rendered":"Das Ganze im Blick"},"content":{"rendered":"
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Carl Bossard: Der steuernde Blick f\u00fcr das Ganze<\/figcaption><\/figure>\n

Sie hat mich fr\u00fch fasziniert, diese lebensgrosse Bronzeplastik aus dem antiken Apollon-Heiligtum von Delphi. Die Figur des Wagenlenkers ist uns zwar nur als Bruchst\u00fcck erhalten. Ein Arm ist abgebrochen. In der Hand h\u00e4lt der junge Mann die Z\u00fcgel f\u00fcr einen Rennwagen mit dem Viergespann, so deuten die Kunsthistoriker. Der Blick ist konzentriert und in die Ferne gerichtet. Es kann jederzeit losgehen.<\/p>\n

Grosse Zusammenh\u00e4nge oder isolierte Details?<\/strong><\/p>\n

Der Wagenlenker von Delphi ist Fragment einer Gruppe. Die Achsen, Winkel und Masse weisen auf das gr\u00f6ssere Ganze hin. Doch dieses gr\u00f6ssere Ganze bleibt uns geheimnisvoll verborgen. Genau so geht es vielen von uns. Das grosse Ganze bleibt meist unsichtbar; doch es ist immer wieder mit zu bedenken: Das Handeln im Detail braucht den weiten und breiten Blick f\u00fcrs Ganze oder negativ formuliert: Das Hineinzoomen ins Detail kann den Blick aufs Ganze versperren.<\/p>\n

Sind die Teile aus dem Ganzen herzuleiten oder f\u00fchren die Teile schrittweise zu einem Ganzen?<\/p><\/blockquote>\n

Die operativen Teile und das gewollte Ganze: Die Attraktivit\u00e4t einer antagonistischen Gegen\u00fcberstellung der Teile und des Ganzen geht zur\u00fcck in meine Mittelschulzeit. Zu den Themen Geschichte und Geographie stellte sich immer wieder die Frage nach dem Ganzen und nach den Teilen, nach ihrem spezifisch Bedeutsamen und nach einer allf\u00e4lligen Priorit\u00e4t. Sind die Teile aus dem Ganzen herzuleiten oder f\u00fchren die Teile schrittweise zu einem Ganzen? Dazu kam die didaktische Frage: Wo war mit dem Lernen zu beginnen: bei den grossen Zusammenh\u00e4ngen oder bei den isolierten Details? Eines habe ich schnell gemerkt: Es gibt kein polarisierendes Entweder-oder; das f\u00fchrt in die Sackgasse. Es gibt nur die Plausibilit\u00e4t des Sowohl-als-auch.<\/p>\n

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Wie entsteht ein Gesamtbild?<\/figcaption><\/figure>\n

Wie entsteht aus den Teilen ein Ganzes?<\/strong><\/p>\n

Seither meldet sich das Problem immer wieder, und es meldet sich in nahezu allen Lebensbereichen. Zu diesen Bereichen geh\u00f6ren auch Schule und Unterricht, geh\u00f6rt die p\u00e4dagogisch ewig nagende Frage: \u201eWie wird bei den Schulkindern aus den einzelnen Mosaiksteinen des schulischen Alltags das Gesamtbild \u201aBildung\u2018? Wie entsteht aus den verschiedenen Wissens(bruch)st\u00fccken das gewollte Ganze, wie bildet sich ein gefestigtes und anwendbares K\u00f6nnen?\u201c Konkret: Ein klug und koh\u00e4rent formulierter Gedanke ist mehr als ein paar aneinandergereihte W\u00f6rter, eine gute Geschichte mehr als hundert orthografisch richtig geschriebene S\u00e4tze.<\/p>\n

Die Teile sind Grundlage des Ganzen; die Qualit\u00e4t im Kleinen bleibt unerl\u00e4sslich f\u00fcr das Niveau des Gesamten.<\/p><\/blockquote>\n

Wie formt es sich?<\/strong><\/p>\n

P\u00e4dagogisches Wirken kreist darum vielfach um die Problematik: \u201eWie kristallisiert sich aus einer Addition von Partikeln ein Ergebnis heraus, das nicht nur mehr als die Summe ist, sondern auch anders als das nur Zusammengef\u00fcgte? Und wie baut sich Haltung auf, wie formt sich das notwendige kulturell-ethische Orientierungswissen?\u201c<\/p>\n

Die Teile sind Voraussetzung des Ganzen<\/strong><\/p>\n

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Lehrplan 21: 470 Seiten, 2’300 Kompetenzstufen<\/figcaption><\/figure>\n

Es sind Fragen, die jede Lehrerin bewegt, die jeden Lehrer leitet. Und nat\u00fcrlich auch die kontrastive Frage: \u201eWie viele Elemente sind zu viel und dem Ganzen abtr\u00e4glich?\u201c Verantwortungsbewusste Lehrpersonen wissen aus Erfahrung: Die Teile sind Grundlage des Ganzen; die Qualit\u00e4t im Kleinen bleibt unerl\u00e4sslich f\u00fcr das Niveau des Gesamten. In diesem Sinne wirken die einzelnen Teile laufend auf das Ganze, w\u00e4hrend das Ganze seinerseits wieder die Teile beeinflusst.<\/p>\n

Es ist die Vielfalt wechselseitiger Interdependenzen innerhalb des Ganzen und zwischen den Teilen, die das Ganze ausmacht. Lehrerinnen und Lehrer steuern diese Prozesse. Gleichzeitig stehen sie aber t\u00e4glich den Anforderungen des Lehrplans 21 gegen\u00fcber \u2013 einer 470-seitigen Lehrplanliste mit unz\u00e4hligen Kompetenzen und \u00fcber 2\u2018300 Kompetenzstufen.<\/p>\n

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Immer mehr<\/figcaption><\/figure>\n

Wenn der Lehrplan das Ganze aus den Augen verliert<\/strong><\/p>\n

Nicht umsonst haben sich viele gegen diese Lehrplan-F\u00fclle gewehrt, dies mit dem Argument: \u201eSo zerlegt man die Schule [\u2026] in ihre Einzelteile \u2013 so lange, bis man das Ganze aus den Augen verliert.\u201c[1]<\/a> Einige verwiesen dabei auf Theodor Storms M\u00e4rchen \u201eDer kleine H\u00e4welmann\u201c, diesen Buben, der immer \u201eMehr, mehr, mehr\u201c schreit. Niemals ist er zufrieden, niemals sagt er: Es ist genug, danke sch\u00f6n, oder gar: Es ist zu viel! Er will immer nur mehr. Am Ende der Geschichte wird der kleine H\u00e4welmann zur Strafe von der Sonne verstossen; er st\u00fcrzt ins Meer.<\/p>\n

Rivalit\u00e4t zwischen den Teilen und dem Ganzen<\/strong><\/p>\n

Kein Kind darf abst\u00fcrzen; kein Kind darf an einem Zuviel scheitern. Das ist bei der heutigen \u00dcberf\u00fclle an Themen und Aufgaben und dem st\u00e4ndigen Mangel an (\u00dcbungs-)Zeit leicht gesagt. Umso schwieriger ist es f\u00fcr die einzelne Lehrperson, die grossen schulischen Zusammenh\u00e4nge und damit die Teile und das Ganze im Blick zu haben und gleichzeitig jedem Individuum gerecht zu werden. Das ist ein hoher Anspruch. Er bringt viele an Grenzen.<\/p>\n

Gute Lehrerinnen und Lehrer brauchen darum eines ganz besonders: eine geschickte Hand im Operativen und den steuernden Blick f\u00fcrs Ganze \u2013 wie der griechische Wagenlenker von Delphi.<\/p><\/blockquote>\n

Es gibt \u2013 auch in der Schule \u2013 kein harmonisches Nebeneinander der Teile und des Ganzen. Das Einzelne und das Umfassende stehen sich, in einer ersten Phase, immer als Rivalen gegen\u00fcber.[2]<\/a> Gute Lehrerinnen und Lehrer brauchen darum eines ganz besonders: eine geschickte Hand im Operativen und den steuernden Blick f\u00fcrs Ganze \u2013 wie der griechische Wagenlenker von Delphi.<\/p>\n

[1]<\/a> Susanne Loacker, Lehrplan 21. Das regulierte Schulkind, in: Beobachter, 17.02.2015.<\/em><\/p>\n

[2]<\/a> Robert Holzach (1988), Herausforderungen. Weinfelden: Wolfau Druck Rudolf M\u00fchlemann, S. 187.<\/em><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Die Teile und das Ganze! In welchem Verh\u00e4ltnis stehen sie zueinander? Und wie ergeben die zusammengef\u00fcgten Teile eben dieses gewollte Ganze? Der Wagenlenker von Delphi erinnere an diese bedeutsame Frage, meint Condorcet-Autor Carl Bossard.<\/p>\n","protected":false},"author":11,"featured_media":6330,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[608,471,279,745],"coauthors":[936],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6329"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/11"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=6329"}],"version-history":[{"count":6,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6329\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6340,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6329\/revisions\/6340"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/6330"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=6329"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=6329"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=6329"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=6329"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}