{"id":6103,"date":"2020-08-16T20:28:46","date_gmt":"2020-08-16T18:28:46","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=6103"},"modified":"2020-08-19T12:41:20","modified_gmt":"2020-08-19T10:41:20","slug":"die-saeulen-der-volksschule","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2020\/08\/die-saeulen-der-volksschule\/","title":{"rendered":"Die S\u00e4ulen der Volksschule"},"content":{"rendered":"
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Philipp Stapfer, erster Bildungsbeauftragter der Helvetischen Republik: Die Schweiz war um 1800 den anderen europ\u00e4ischen L\u00e4ndern bildungspolitisch weit voraus.<\/figcaption><\/figure>\n

Bereits mit den Landschulverordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts wurde in verschiedenen Kantonen erstmals die Unterrichtspflicht eingef\u00fchrt. Die Schulpflicht wurde bewusst als Instrument gegen die Kinderarbeit durchgesetzt. Der in der Folge st\u00e4ndige Ausbau der Volksschule f\u00fchrte zur Entwicklung ihrer bew\u00e4hrten tragenden S\u00e4ulen:<\/p>\n

Schule f\u00fcr alle<\/strong><\/p>\n

Die junge Direkte Demokratie verlangte eine Schule f\u00fcr alle. Seit den 1830er Jahren garantieren die Kantone die Volksschule als Schule, die von Anfang an alle Kinder einschloss: reich und arm, Knaben und M\u00e4dchen.<\/p>\n

Organisationsform zur F\u00f6rderung des sozialen Zusammenhalts<\/strong><\/p>\n

Die heutige Organisationsform mit der Unterscheidung von Primarstufe und Sekundarstufe, mit \u00f6ffentlicher Aufsicht, Tr\u00e4gerschaft und Finanzierung \u00fcber Steuergelder entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die Volksschule umfasste zun\u00e4chst nur die Primar- oder Elementarschule und die daran anschliessende Primaroberstufe (auch Erg\u00e4nzungs-, Repetierschule, Wiederholungs- oder Realschule genannt), deren Besuch obligatorisch war. In der Primarschule werden alle Sch\u00fcler bis heute in nicht selektionierten Klassen unterrichtet, um den sozialen Zusammenhalt zu f\u00f6rdern.<\/p>\n

Der Besuch der Sekundar- oder Bezirksschulen, die in allen Kantonen im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts etabliert wurden, war zun\u00e4chst nicht obligatorisch und auch kostenpflichtig. Er war vor allem auf die Ausbildung des allm\u00e4hlich entstehenden Mittelstandes ausgerichtet und sollte mit ihren dezentralen Standorten einen Beitrag dazu leisten, die Benachteiligung der Landbev\u00f6lkerung hinsichtlich Bildung zu vermindern.<\/p>\n

In der Primarschule werden alle Sch\u00fcler bis heute in nicht selektionierten Klassen unterrichtet, um den sozialen Zusammenhalt zu f\u00f6rdern.<\/p><\/blockquote>\n

Ganzheitliche Erziehung zur Freiheit und Praxisbezug<\/strong><\/p>\n

Die Volksschule verfolgte einen ganzheitlichen, naturrechtlichen Ansatz nach dem Vorbild von Pestalozzis \u201eKopf, Herz und Hand\u201c. Im Sinne der \u201eArbeitsschule\u201c sollte die Volksschule die Kinder zu t\u00fcchtigen Berufsleuten und Staatsb\u00fcrgern heranbilden, um sie aus der Armut zu befreien. Auch die Lehrerausbildung hatte einen starken Praxisbezug, die Akademisierung der Lehrer war nicht erw\u00fcnscht. Ein Lehrerausbilder ohne Schulpraxis war undenkbar. Die Lehrmittel wurden von erfahrenen Lehrern und Lehrerausbildern verfasst.<\/p>\n

Homogene Jahrgangsklassen<\/strong><\/p>\n

Das Ziel des wirkm\u00e4chtigen Klassenunterrichts war, dass alle Sch\u00fcler im Sinne der Chancengleichheit den ganzen Stoff beherrschen mussten und die Jahrgangsziele erreichten. Damit der Klassenunterricht effizient gestaltet und alle Sch\u00fcler mitgenommen werden konnten, wurde auf gr\u00f6sstm\u00f6gliche Homogenit\u00e4t im Klassenverband geachtet. Bei ungen\u00fcgender Promotion am Ende des Schuljahres musste repetiert werden, was allerdings nur wenige Sch\u00fcler betraf. Jeder Lehrer war darauf bedacht, dass er dem Kollegen keine Klasse mit Stoffl\u00fccken \u00fcbergab. Auch innerhalb der l\u00e4ndlichen Gemeinschaftsschulen wurde nach Jahrgangsklassen unterrichtet.<\/p>\n

Anerkannte fachliche und erzieherische Autorit\u00e4t<\/strong><\/p>\n

Mit der Gr\u00fcndung praxisorientierter Lehrerseminare wurde die Lehrerausbildung professionalisiert (Z\u00fcrcher Seminar K\u00fcsnacht 1832, Berner Seminar Hofwil\/M\u00fcnchenbuchsee 1832). Die Lehrer wurden von den Eltern und in der Gemeinde als fachliche und erzieherische Autorit\u00e4ten hoch geachtet und waren oft auch in den lokalen Milizbeh\u00f6rden und Vereinen aktiv.<\/p>\n

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Jeremias Gotthelf stellte sich als Schulinspektor zur Verf\u00fcgung.<\/figcaption><\/figure>\n

Demokratische Schulaufsicht und Lehrerwahl<\/strong><\/p>\n

Mit der demokratischen Schulaufsicht und der Lehrer- und Schulbeh\u00f6rdenwahl war die Volksschule stark im Volk verankert. Die Schulaufsicht garantierte das hohe Niveau der Volksschule und war bei deren Weiterentwicklung an vorderster Front t\u00e4tig. Bekannte Pers\u00f6nlichkeiten wie Jeremias Gotthelf stellten sich als Schulinspektoren zur Verf\u00fcgung, beteiligten sich an der \u00f6ffentlichen, direktdemokratischen Schuldebatte und machten in der \u00d6ffentlichkeit auf Fehlentwicklungen aufmerksam.<\/p>\n

F\u00fcr behinderte Kinder gab es spezialisierte private Einrichtungen, wie diejenige des Pfarrers und Taubstummenlehrers Heinrich Keller, der 1777 in seinem Pfarrhaus in Schlieren die erste kleine Taubstummenschule gr\u00fcndete, in der er die Lautsprache lehrte.<\/p><\/blockquote>\n

Differenzierung und Spezialisierung<\/strong><\/p>\n

Neue Erkenntnisse aus verwandten Disziplinen (Philosophie, Tiefenpsychologie, Heilp\u00e4dagogik usw.) wurde in die p\u00e4dagogische Arbeit einbezogen. Das f\u00fchrte zur Entwicklung neuer differenzierter Schulformen und zur Spezialisierung bei der Lehrerausbildung.<\/p>\n

F\u00fcr behinderte Kinder gab es spezialisierte private Einrichtungen, wie diejenige des Pfarrers und Taubstummenlehrers Heinrich Keller, der 1777 in seinem Pfarrhaus in Schlieren die erste kleine Taubstummenschule gr\u00fcndete, in der er die Lautsprache lehrte. Die Bildung \u201etaubstummer\u201c <\/em>Menschen und die Frage nach M\u00f6glichkeiten des Spracherwerbs wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (Theologie, Medizin, Philosophie, P\u00e4dagogik) diskutiert und trug daher neben der organisationalen, auch zur professionellen Institutionalisierung (Verb\u00e4nde, private Heime oder Hilfsklassen) der Heilp\u00e4dagogik im 19. Jahrhundert bei. Mit der Beschulung von behinderten Kindern und Jugendlichen unter dem Dach der Volksschule erfuhr die Heilp\u00e4dagogik zunehmende Relevanz.<\/p>\n

Wenn einzelne in der Schule zuru\u0308ckgebliebene Kinder durch besondere unterrichtliche Bemu\u0308hungen imstande waren, Stoff- und Klassenziele ihrer Altersstufe wieder restlos einzuholen, wurde ihr Ru\u0308ckstand nicht als Folge einer echten Entwicklungshemmung verstanden, die eine heilp\u00e4dagogische Bildung erfordert h\u00e4tte.<\/p>\n

1931 wurde an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich der Lehrstuhl f\u00fcr Heilp\u00e4dagogik geschaffen, der zugleich der erste in Europa war.<\/p>\n

Qualitativ hochstehendes Bildungswesen<\/strong><\/p>\n

Das Zusammenspiel der verschiedenen bew\u00e4hrten S\u00e4ulen der Volksschule f\u00fchrte zu einem weltweit anerkannten hohen Niveau der Schweizer Volksschule, die unter anderem bis nach Japan ausstrahlte. Diese breite Volksbildung auf hohem Niveau erm\u00f6glichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Transformation der agrarisch gepr\u00e4gten Schweizer Wirtschaft zu einer f\u00fchrenden Industrienation und bildete die Grundlage f\u00fcr unseren heutigen hohen Lebensstandard. Sie war gleichzeitig ein wichtiger Faktor beim Ausbau der direkten Demokratie und der Entwicklung des Milizsystems. Die Volksschule machte die Schweiz zum Land der Nobelpreistr\u00e4ger und zum Patentweltmeister.<\/p>\n

Die Volksschule, ein Kind ihrer Zeit<\/strong><\/p>\n

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Bei aller Anerkennung darf man nat\u00fcrlich die Schattenseiten nicht vergessen, Schulhaus Kern, Z\u00fcrich, Wikipedia.<\/figcaption><\/figure>\n

Die Volksschule ist aus teilweise heftigen politischen und p\u00e4dagogischen Auseinandersetzungen in der Schuldebatte hervorgegangen. Aus heutiger Sicht g\u00e4be es vieles zu bem\u00e4ngeln, wie etwa die Pr\u00fcgelstrafe, autorit\u00e4re Wertvorstellungen, Lehrerinnenz\u00f6libat usw. Die Schule ist immer auch ein Abbild der jeweiligen Gesellschaft, ihrer Vorstellungen von Erziehung, ihrer politischen Zust\u00e4nde, ihres Menschenbildes usw.<\/p>\n

\u201eNever change a winning horse\u201c<\/strong><\/p>\n

Was in \u00fcber hundert Jahren in engem Praxisbezug an humaner p\u00e4dagogisch-psychologisch orientierter Bildung von unseren Vorfahren sorgf\u00e4ltig aufgebaut wurde, ist heute nur noch rudiment\u00e4r vorhanden. Die tragenden S\u00e4ulen wurden innert weniger Jahre mit vorwiegend ideologischen Begr\u00fcndungen scheibchenweise abgebaut. Die Reformer wollten die Volksschule \u201evom hohen p\u00e4dagogischen Ross\u201c herunterholen.<\/p>\n

Heute stehen wir vor einem Tr\u00fcmmerhaufen und sind dennoch fest \u00fcberzeugt, unser zeitgem\u00e4sses, modernes Bildungswesen sei fortschrittlich und allem bisherigen und allen anderen \u00fcberlegen. Selbst die PISA-Resultate mit der von Mal zu Mal gr\u00f6sser werdenden Schar 15-j\u00e4hriger funktionaler Analphabeten, die mittlerweile 25% der Schulabg\u00e4nger ausmacht, kann uns offenbar nicht zur Einsicht und Umkehr bewegen.<\/p>\n

Peter Aebersold<\/p>\n

Quellen: <\/strong><\/p>\n

https:\/\/stapferenquete.ch\/projekt\/publikationen<\/a><\/p>\n

https:\/\/www.schulmuseum.ch\/media\/1526\/nzz-geschichte-vs2.pdf<\/a><\/p>\n

Lucien Criblez: Eine Schule f\u00fcr die Demokratie: Zur Entwicklung der Volksschule in der Schweiz im 19. Jahrhundert.<\/em> Lang, Bern<\/p>\n

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Peter Aebersold hat wieder einmal seine reiche historische Bildungs-Schatzkammer durchforscht. Dem ist ein weiterer Artikel f\u00fcr den Condorcet-Blog entsprungen, der eine vergessene Errungenschaft unseres Landes in Erinnerung ruft. Die Schweiz war schon zu Lebzeiten Pestalozzis mit ihrem Bildungssystem den meisten europ\u00e4ischen Staaten weit voraus, wie aktuelle Auswertungen der Stapfer-Enqu\u00eate von 1799 zeigen. Sie galt um 1800 als eigentliche \u00abSchulhochburg\u00bb, in der fast alle Kinder die Schule besuchten. <\/p>\n","protected":false},"author":5,"featured_media":6106,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[959,796],"coauthors":[940],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6103"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/5"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=6103"}],"version-history":[{"count":7,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6103\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":6127,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/6103\/revisions\/6127"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/6106"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=6103"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=6103"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=6103"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=6103"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}