{"id":5568,"date":"2020-07-06T07:22:26","date_gmt":"2020-07-06T05:22:26","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=5568"},"modified":"2020-07-06T08:10:12","modified_gmt":"2020-07-06T06:10:12","slug":"lettres-waldorfiennes","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2020\/07\/lettres-waldorfiennes\/","title":{"rendered":"\u201eLettres waldorfiennes\u201c"},"content":{"rendered":"

Vor einigen Tagen fragte mich Alain Pichard, einer der Herausgeber des Condorcet-Blogs, ob ich von meiner Perspektive als ehemaliger Waldorflehrer gelegentlich Artikel zu diesem sinnvollen Projekt beitragen k\u00f6nnte. Dem will ich gerne nachkommen, glaube ich doch, dass Teile der “Waldorfp\u00e4dagogik” in der heutigen Reformdiskussion eine neue Aktuait\u00e4t erfahren haben.<\/p>\n

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Waldorf-P\u00e4dagogik: Methodensteinbruch f\u00fcr Innovationen des \u00f6ffentlichen Schulwesens<\/figcaption><\/figure>\n

Grunds\u00e4tzlich darf man ohne Weiteres feststellen, dass die Reformp\u00e4dagogik, vor allem Waldorf und Montessori, mindestens seit der Bildungsreform des letzten Jahrhunderts, immer schon als Methodensteinbruch f\u00fcr Innovationen des \u00f6ffentlichen Schulwesens gut war: Block- und Epochenunterricht beispielsweise haben \u2013 wenn auch leicht verw\u00e4ssert \u2013 Eingang in die Unterrichtsorganisation vieler Schulen gefunden. Vor allem im Primarschulbereich wurde eine Aufwertung k\u00fcnstlerischer Zug\u00e4nge zum Stoff \u00fcbernommen, und auch an positiv kritischer Literatur fehlt es nicht.<\/p>\n

Andererseits darf nicht verschwiegen werden, dass anthropologisch-weltanschauliche Grundannahmen der Waldorfp\u00e4dagogik im Allgemeinen auf gro\u00dfes Unverst\u00e4ndnis sto\u00dfen, schon wegen ihrer nicht zu leugnenden religi\u00f6sen Fundamentierung. Zwar lehnt die Waldorfp\u00e4dagogik es expressis verbis ab, eine Weltanschauung vorauszusetzen, was aber meiner Meinung nach sicher nicht stimmt. Ich will Ihnen ein Beispiel daf\u00fcr geben.<\/p>\n

Merw\u00fcrdige Rituale<\/strong><\/p>\n

Es gibt einen f\u00fcr Staatslehrer vielleicht etwas merkw\u00fcrdig anmutenden Brauch an Waldorfschulen, sich vor Unterrichtsbeginn zu einer kurzen gemeinsamen Meditation zu treffen. Die beginnt mit den S\u00e4tzen: \u201eDieses Kind ist zu dir heruntergestiegen, du sollst sein R\u00e4tsel l\u00f6sen \u2026\u201c Das ist nat\u00fcrlich f\u00fcr jeden aufgekl\u00e4rten Zeitgenossen starker Tobak: Wie selbstverst\u00e4ndlich wird hier eine pr\u00e4existierende Seele vorausgesetzt.<\/p>\n

Ein Waldorflehrer kann in der Praxis glauben, was er will. Er muss an solchen Ritualen nicht teilnehmen.<\/p><\/blockquote>\n

Es sei an dieser Stelle betont, dass diese weltanschaulichen Voraussetzungen f\u00fcr das Personal nicht verbindlich sind, geschweige denn \u201egelehrt\u201c werden. Ein Waldorflehrer kann in der Praxis glauben, was er will. Er muss an solchen Ritualen nicht teilnehmen. Nicht wenige arbeiten an Steinerschulen aus v\u00f6llig anderen Gr\u00fcnden. Dennoch steht Derartiges quasi als H\u00fcrde da. Man kann hin\u00fcberspringen oder davor stehenbleiben.<\/p>\n

Ich selber habe, durchaus versehen mit Staatsexamen und allen h\u00f6heren Weihen des Lehramts, vor mehr als drei\u00dfig Jahren meinen Waldorfweg angetreten. Der war durchaus gelegentlich mehr als holprig. Ich bin auch phasenweise aus Ingrimm ins staatlich Schulwesen abgebogen, nicht lange, aber \u00f6fter.<\/p>\n

Ist man einmal an die bei Waldorf \u00fcbliche kollegiale F\u00fchrung gew\u00f6hnt, f\u00e4llt einem die Unterordnung im doch letztlich hierarchischen staatlichen System schwer.<\/p><\/blockquote>\n

Dennoch hat mich ein Grund immer wieder in die Waldorfp\u00e4dagogik zur\u00fcckgef\u00fchrt:<\/p>\n

Ist man einmal an die bei Waldorf \u00fcbliche kollegiale F\u00fchrung gew\u00f6hnt, f\u00e4llt einem die Unterordnung im doch letztlich hierarchischen staatlichen System schwer. Bei Waldorf war der Unterricht meine Sache, solange er funktionierte und auch die staatlichen Pr\u00fcfungen bestanden wurden. Der Lehrplan hatte in etwa den Stellenwert einer roten Ampel in der T\u00fcrkei, ein Vorschlag, mehr nicht. Diese Freiheiten gew\u00f6hnt man sich schlecht ab.<\/p>\n

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Viele wertvolle Impulse f\u00fcr die Staatsschule<\/figcaption><\/figure>\n

Wichtig ist allerdings, dass neben der Standardpolemik gegen Waldorfschulen (z. B. Steiner sei ein Rassist oder dergleichen, was im Kern schlicht ein \u201eSchmarren\u201c ist) bei positiver Grundhaltung Faktoren \u00fcbersehen werden, die generell f\u00fcr Schule hilfreich sein k\u00f6nnten.<\/p>\n

Diese darzustellen, ist das Ziel meiner Beitr\u00e4ge.<\/p>\n

Gestern las ich in einem Artikel in der \u201eWelt\u201c eine Art von Jereminade, dass deutsche Sch\u00fcler in der Mehrheit die Sicherheit eines Beamtenverh\u00e4ltnisses anstreben w\u00fcrden und der Gr\u00fcnder- , Erfinder-, T\u00fcftlerimpuls, der in der Vergangenheit den deutschen Mittelstand gro\u00df gemacht hat, verschwinden w\u00fcrde. Die Technik-MINT-Orientierung ostasiatischer Schulen, die Mathegenies in Serie produzieren, wurde herausgearbeitet und es wurde darauf verwiesen, dass deren unaufhaltsame \u00dcberlegenheit sich nicht mehr nur aus dem fr\u00fcher auch den Japanern zugeschriebenen perfekten Kopieren herleitet, sondern schon l\u00e4ngst, ausgewiesen durch die Zahl der Patentanmeldungen, f\u00fcr die schwindende \u00dcberlegenheit des Westens bedrohlich geworden ist. Alain Pichard schrieb \u00c4hnliches \u00fcber den Mathematikunterricht in diesem Blog.<\/p>\n

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Grosse Anzahl von Stunden in praktischen F\u00e4chern: Gartenbau, Handarbeit, Schneidern, Holzbearbeitung bis zum Bau einfacher M\u00f6bel, Metallverarbeitung und Schmieden, Steinbearbeitung, Buchbinden<\/figcaption><\/figure>\n

Betrachtet man das Curriculum und die Stundenpl\u00e4ne der Waldorfschulen, f\u00e4llt einem sofort die massive Anzahl von Stunden in praktischen F\u00e4chern auf: Gartenbau, Handarbeit, Schneidern, Holzbearbeitung bis zum Bau einfacher M\u00f6bel, Metallverarbeitung und Schmieden, Steinbearbeitung, Buchbinden, Drucktechniken im Kunstunterricht, dies alles nimmt einen erheblichen Teil der Unterrichtszeit ein und dient bewusst als Gegengewicht zu den intellektuellen F\u00e4chern.<\/p>\n

Mit h\u00e4ufig fast mehr als 50 Prozent einer Sch\u00fclerpopulation betrachte ich hierzulande Gymnasien und Gesamtschulen schon l\u00e4ngst als die eigentlichen Hauptschulen der Nation. Und in diesen scheint der oben erw\u00e4hnte praktische Unterricht, von gelegentlichen Projekten und Neigungsgruppen abgesehen, im Grunde ein Totalausfall.<\/p>\n

Ich habe in den letzten Jahren an einem w\u00fcrttembergischen Gymnasium unterrichtet, keinem schlechten \u00fcbrigens. Den T\u00e4tigkeitsdrang vor allem j\u00fcngerer Sch\u00fcler zu sehen und zu erkennen, dass diesem kaum entsprochen wird, tat mir weh.<\/p>\n

Wer immer nur Bleistifte gespitzt hat, wird nicht pl\u00f6tzlich zum Hammer greifen, ja, er wei\u00df wom\u00f6glich noch nicht mal, wo der h\u00e4ngt.<\/p><\/blockquote>\n

Dazu kommt, dass die Kinder, die h\u00e4ufig vom Babyalter an in Institutionen betreut sind, zunehmend von Lehrern unterrichtet werden, die eigentlich auch nichts anderes als das Schul- bzw. Universit\u00e4tssystem durchlaufen haben. Wie kann man dann erwarten, dass die Sch\u00fcler pl\u00f6tzlich massenweise in Bereiche der Praxis abbiegen, die sie aus Erfahrung \u00fcberhaupt nicht kennen. Wer immer nur Bleistifte gespitzt hat, wird nicht pl\u00f6tzlich zum Hammer greifen, ja, er wei\u00df wom\u00f6glich noch nicht mal, wo der h\u00e4ngt.<\/p>\n

So produziert unser System munter Studienberechtigte, die das anstreben, was sie kennen, und das ist Verwaltung und Beamtentum.<\/p>\n

Kollegial gef\u00fchrte Schule<\/strong><\/p>\n

Ich m\u00f6chte noch einen wichtigen Aspekt herausheben: Die Lehrer in diesen Waldorfschulen sind h\u00e4ufig Handwerksmeister\/innen und haben einen doch anderen mentalen Hintergrund als zum Beispiel ein\/e klassische\/r Sprachlehrer\/in. Ich schreibe hier gendergerecht, weil hervorzuheben ist, dass sich halt in den k\u00f6rperlich anstrengenden Berufen h\u00e4ufig M\u00e4nner finden, M\u00e4nner, die ja ohnehin als Rollenvorbilder an der Schule zunehmend fehlen, vor allem f\u00fcr die im Pubert\u00e4tsalter gebeutelten Jungs.<\/p>\n

Waldorfschule ist im Kern eine kollegial gef\u00fchrte Schule, das hei\u00dft hier konkret, in der Schulf\u00fchrung hat der Schreinermeister genauso viel zu melden wie eine Frau Dr. der Germanistik. Meiner Erfahrung nach tut das dem Gesamtbetrieb gut und funktioniert auch. Das Bild, das sich dem Sch\u00fcler hier pr\u00e4sentiert, ist umfassender, die Rollenmodelle sind differenzierter.<\/p>\n

An einer der Schulen, an denen ich unterrichtet habe,\u00a0 galt es als gr\u00f6\u00dfte Auszeichnung f\u00fcr einen Oberstufensch\u00fcler, in der Equipe der B\u00fchnentechnik, geleitet vom Hausmeister, der B\u00fchnenmeister war, mitarbeiten zu d\u00fcrfen. Man konnte da nicht einfach hin, man wurde berufen und dass das alles zeitaufwendig war, war kein Hindernis. Aber dieses Privileg schloss eine halbe Elektrikerausbildung und dergleichen mit ein.<\/p>\n

Die Kluft zwischen den sozialen Klassen aufheben<\/strong><\/p>\n

Eins von Steiners Grundanliegen war, die Kluft zwischen den sozialen Klassen, zwischen manuell und intellektuell Arbeitenden etwas aufzuheben. Gegr\u00fcndet wurde die Waldorfschule als Betriebsschule f\u00fcr die Arbeiter einer Zigarettenfabrik in Stuttgart, der Waldorf-Astoria. Das Konzept hat sich schon fr\u00fch in Richtung aufs Gymnasiale fortentwickelt, aber die Praxisbetonung, wenn auch manchmal etwas kunstgewerblich, blieb bestehen.<\/p>\n

Ich bin in einem kleinen Dorf in Bayern aufgewachsen: Neben reichlich Natur gab\u2019s Bauernh\u00f6fe, eine Schreinerei, eine Landmaschinenwerkstatt. \u00dcberall konnte man hineingehen und auch mal mithelfen. Gebaut wurde immer, kurz, an Realerfahrung war kein Mangel<\/p>\n

Das alles fehlt der heutigen Sch\u00fclergeneration. Und ohne reale Erfahrung keine entsprechende Berufsorientierung. Da hilft auch ein gelegentlicher \u201egirls day\u201c oder ein Schnupperpraktikum wenig.<\/p>\n

An Waldorschulen ist die Praxisfraktion schon als eine Art von Lobby vertreten. Die p\u00e4dagogische Theorie st\u00fctzt ihre Anspr\u00fcche auch \u00f6konomisch. Nicht wenige Schulen haben Schreinereinen mit der Ausstattung kleiner Betriebe, dito in anderen Gewerken.<\/p>\n

Dies und noch vieles andere sind durchaus befruchtende Impulse f\u00fcr das \u00f6ffentliche Schulwesen.<\/p>\n

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Mit Hubert Geissler (D) haben wir einen neuen Autor f\u00fcr den Condorcet-Blog gewonnen. Der ehemalige Waldorf-P\u00e4dagoge hat ein kritisch-wohlwollendes Verh\u00e4ltnis zur Waldorf-P\u00e4dagogik und versucht in seinem Beitrag zu erkl\u00e4ren, wo die \u00f6ffentlich-rechtliche Schule auch von den Erfahrungen der Waldorfschulen lernen k\u00f6nnte. <\/p>\n","protected":false},"author":5,"featured_media":5569,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[845,232,846,847],"coauthors":[],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/5568"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/5"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=5568"}],"version-history":[{"count":14,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/5568\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":5588,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/5568\/revisions\/5588"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/5569"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=5568"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=5568"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=5568"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=5568"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}