{"id":4123,"date":"2020-02-25T15:39:58","date_gmt":"2020-02-25T14:39:58","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=4123"},"modified":"2020-02-25T15:39:58","modified_gmt":"2020-02-25T14:39:58","slug":"wo-holistische-modelle-scheitern-ein-unterrichtsprotokoll","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2020\/02\/wo-holistische-modelle-scheitern-ein-unterrichtsprotokoll\/","title":{"rendered":"Wo holistische Modelle scheitern: Ein Unterrichtsprotokoll"},"content":{"rendered":"
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B. arbeitet nicht mehr an dieser Schule.<\/figcaption><\/figure>\n

Ich hatte als Fachlehrer eine Doppellektion im NMM-Natur an einer 7. Realklasse zu geben. Ich gebe gerne Naturlektionen. Es ging um den Themenbereich Mensch und Tier. Und da es sich um eine disziplinarisch schwierige Klasse handelte, bereitete ich mich auch entsprechend sorgf\u00e4ltig vor. Meine Doppellektion sah methodisch s\u00e4mtliche als modern geltenden methodischen Ans\u00e4tze vor, so wie es heute in den Lehrerausbildungsst\u00e4tten gelehrt wird. Ich plante:<\/p>\n

1. ein Pr\u00e4konzept zu erheben: Gruppenauftrag, Zuordnungen, intern differenziert, anschliessende Diskussion \u00fcber Ergebnisse, Erfahrungsaustausch<\/p>\n

2. und wenn noch Zeit bleibt, mit dem Film “Geschichte der Naturlandschaft Schweiz” weiterzuarbeiten (samt Erstellen eines gemeinsamen Filmprotokolls).<\/p>\n

F\u00fcr die Vorbereitung der Doppellektion (es beinhaltete neben Wandtafel-Eintr\u00e4gen auch das Bereitstellen von Material) ben\u00f6tigte ich knapp 50 Minuten, was ich am Mittag in der Schule erledigt hatte.<\/p>\n

Dieses Protokoll verfasste ich dann kurz nach den beiden gehaltenen Lektionen:<\/p>\n

13.45 Uhr\u00a0<\/strong><\/p>\n

Ich betrete das Klassenzimmer, es ert\u00f6nt ein rechtes Gegr\u00f6le, ich werde begr\u00fcsst mit: Hallo, Herr B., wie geht\u2019s, Herr B? Drei Sch\u00fcler reden miteinander, nehmen keine Notiz von mir. A. kommt zu mir und will etwas sagen. Es herrscht grosser L\u00e4rm. Ich rede laut, betone, dass ich jetzt hier sei, schicke alle an die Pl\u00e4tze, fordere A. auf, die Hand zu heben, um zu sagen, was er wolle. A. meint, er habe Kopfweh. Was ich damit tun solle, frage ich. Er brummelt etwas. Ich wiederhole noch einmal, dass ich immer noch nicht wisse, was er mir sagen wolle, ob er nach Hause gehen wolle, ich sei kein Arzt. Daraufhin winkt er ab.<\/p>\n

13.50 Uhr\u00a0\u00a0<\/strong><\/p>\n

Ich erkl\u00e4re die Unterrichtsinhalte und fordere die Klasse auf, sich in den NMM-Raum zu begeben. Vorher gebe ich an, was mitzunehmen sei: Dossier, Schere, Leim, Schreibzeug. Die Klasse gr\u00f6lt laut, alle rennen hinunter, die T\u00fcre ist verstopft, es kommt zu w\u00fcsten Wortwechseln, Sachen fallen auf den Boden.<\/p>\n

13.55 Uhr\u00a0<\/strong><\/p>\n

Ich erkl\u00e4re den Auftrag und weise die Sch\u00fclerInnen auf die Plakatdarstellung an der Wandtafel hin. Auch die Gruppen mit Namen sind an der Wandtafel aufgef\u00fchrt. Trotzdem kommt es vor, dass ich mich zur Tafel drehen muss. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, h\u00f6re ich ein lautes Zischen, vermutlich von E. und J. Ich ermahne die Betreffenden, dass sie mit den Ger\u00e4uschen unverz\u00fcglich aufh\u00f6ren sollen. Sie erkl\u00e4ren, sie t\u00e4ten ja gar nichts. Ich drehe mich wieder um, um etwas zu zeichnen, und h\u00f6re erneut \u2013 laut vernehmbar \u2013 ein Glucksen, was von einem Kichern begleitet wird. V. nervt sich und fordert laut Ruhe. Ich kann die T\u00e4ter nicht genau eruieren, spreche aber E. noch einmal direkt an und verwarne ihn.<\/p>\n

14.05\u00a0\u00a0<\/strong><\/p>\n

Die (einfachen) Auftr\u00e4ge sind erkl\u00e4rt, die Gruppen eingeteilt (8 Gruppen, und H., ein motivierter und ambitionierter Sch\u00fcler erh\u00e4lt einen Zusatzsprachauftrag). Rund die H\u00e4lfte der Sch\u00fclerInnen hat weder Leim noch Schere, andere holen das Schreibzeug. Ich habe vorgesorgt und halte Ersatzwerkzeug bereit. Die Gruppen sind auf dem Stockwerk verteilt und k\u00f6nnen auch auf dem Gang arbeiten. Ich gehe von Gruppe zu Gruppe. Im Gang bemerke ich, wie drei Gruppen, Schk., A. \/J, Ay., R. \/ S. und B. miteinander reden, ohne am Auftrag zu arbeiten. Ich ermahne sie, setze sie auseinander, markiere Pr\u00e4senz. Alle drei Gruppen wissen trotz Erkl\u00e4rung und schriftlich formuliertem Auftrag nicht, was zu tun ist. Ich erkl\u00e4re ihnen den Auftrag noch einmal, betone, sie m\u00fcssten bis 14.25 Uhr fertig sein. Ich gehe in den NMM-Raum, dort\u00a0 arbeiten die Gruppen relativ gut. Ich hole die Gruppe im Gang und zeige, wie gearbeitet wird. Noch zehn Minuten. A. fragt mich, ob er auf die Toilette gehen d\u00fcrfe. Ich erkl\u00e4re ihm, es dauere noch zehn Minuten, der Gruppenauftrag m\u00fcsse fertig werden. Das sei kein Problem, meint A., geht auf die Toilette und erscheint nach 7\u00a0 Minuten wieder. Die Sch\u00fclerin in seiner Gruppe macht alles alleine, schafft es aber nicht, zeitgem\u00e4ss fertig zu werden. Ebenso die anderen Gruppen im Gang: S. und B. machen alles falsch, was man falsch machen kann. Nur zwei Gruppen schaffen den Auftrag in der entsprechenden Zeit.<\/p>\n

Pause<\/strong><\/p>\n

Nach der Pause sind 5 Sch\u00fcler nicht im NMM-Raum. Sie seien oben im Klassenzimmer, heisst es. Ich lasse sie holen. Sie sagen lachend, sie h\u00e4tten gedacht, die 2. Lektion finde oben im Klassenzimmer statt. Die Klasse beginnt pl\u00f6tzlich zu gr\u00f6len. Es folgt ein hysterisches Kreischen, einige flippen fast aus. Der Grund: Notizzettel sind wie ein Kifferjoint zusammengedreht im Mundwerk des Skeletts hinter dem Lehrerpult zu sehen, ein anderer Notizzettel h\u00e4ngt im Genitalbereich. Ich nehme die Papiere weg, versuche zu beruhigen, was nur schwer gelingt. Ar. lacht sich fast \u201ekaputt\u201c. Ich kann einige nicht bremsen und muss sie hinausschicken. Riesige Unruhe, ich werde laut, die Klasse verstummt. Ein Gespr\u00e4ch \u00fcber die Ergebnisse ist so nicht m\u00f6glich. Ich entschliesse mich, auf Pr\u00e4sentation und Interpretation der Resultate zu verzichten. Ich fahre mit dem begonnenen Film fort und bitte die Klasse, die Dossiers hervorzunehmen. 8 Sch\u00fclerInnen haben keine. Ich schicke sie hinauf, um sie zu holen. Erneut lautes Gegr\u00f6le und Gekreische. Ich wende mich an die Sch\u00fcler, die sich im NMM-Raum befinden, ob sie sich nicht manchmal genieren wegen ihres Verhaltens. Mehrere Sch\u00fclerInnen (vor allem die M\u00e4dchen) beklagen sich heftig \u00fcber ihr Benehmen. \u201eEs ist peinlich,\u201c meint V. \u201eWir sind eine Behindertenklasse,\u201c meint ein anderer. Ich sage ihnen, dass ich hier sei, damit sie etwas lernen. Sie m\u00fcssten halt auch Mitverantwortung \u00fcbernehmen. Sie meinen, das n\u00fctze ja eh nichts.<\/p>\n

14.45<\/strong><\/p>\n

Ich beginne den zweiten Teil, das Abspielen einer DVD, allerdings ohne die acht Sch\u00fclerInnen, die immer noch oben im Klassenzimmer sind, um angeblich ihr Dossier zu suchen. Die Fragen zum Film haben sie schon das letzte Mal erhalten. Da zwei Sch\u00fcler nicht da waren und mit Se. auch noch ein Neuer in der Klasse ist, wiederhole ich die ersten Fragen des Filmprotokolls und lasse die aufmerksamen Sch\u00fclerInnen die Antworten vorlesen. Das geht sehr gut, sie machen mit.<\/p>\n

14.50<\/strong><\/p>\n

Ich m\u00f6chte den Film jetzt zeigen, aber die 8 Sch\u00fclerInnen sind immer noch nicht da. Ich schicke B. hinauf, da er nun auch gemerkt hat, dass er das Dossier mit den Fragen zum Film nicht bei sich hat. Ich schalte noch eine Frage dazwischen, B. kommt hinunter (mit seinem Dossier). Die anderen seien oben am suchen (es sind jetzt bereits 11 Minuten vergangen!!!). Ich starte den Film.<\/p>\n

14.53\u00a0 <\/strong><\/p>\n

Die Sch\u00fclerInnen von oben treten in den NMM-Raum. Ich schicke sie hinaus, w\u00e4hrend der Film l\u00e4uft und stelle sie zur Rede. Sechs haben das Dossier nicht mehr, zwei haben es gefunden. Ich notiere die Namen.<\/p>\n

14.58<\/strong><\/p>\n

Ich halte den Film an. Die Sch\u00fclerInnen sollen die Fragen 10-14 beantworten. Viele haben M\u00fche, wissen nicht, was gesagt wurde, ich helfe, werde aber von J. immer wieder mit bewusst falschen Antworten (“Wiesentier?”\u2013 Antwort: “Nashorn”, kicher, kicher) unterbrochen. Es wird lauter.<\/p>\n

15.02<\/strong><\/p>\n

Ich habe genug. Jetzt \u00e4ndere ich den Unterrichtsstil und schalte um. Ich beschliesse, die Klasse eng zu f\u00fchren. K\u00fcndige dies an und schicke den ersten Sch\u00fcler, der herummault, mit einem Schreibauftrag hinaus. Ich sorge f\u00fcr strikte Ruhe. Ich zeige Filmsequenzen, halte den Film an, lasse mir die Antworten diktieren, schreibe sie an die Tafel, die Klasse schreibt ab. Es herrscht Ruhe, zum ersten Mal kommt so etwas wie Konzentration auf, wir kommen vorw\u00e4rts. Ein weiterer Sch\u00fcler wird mit Auftrag (den er ohnehin nicht machen wird) hinausgewiesen.<\/p>\n

15.20<\/strong><\/p>\n

Ich sammle das ausgeliehene Material ein. Es fehlen zwei Scheren und drei Leimstifte. Nach l\u00e4ngerem Insistieren kommen die Scheren zum Vorschein, die Leimstifte bleiben verschwunden.<\/p>\n

Mein Fazit: <\/strong><\/p>\n

Ich kann in dieser Klasse kaum einen f\u00f6rdernden, den konstruktivistischen Prinzipien verpflichtenden individualisierenden NMM-Unterricht durchf\u00fchren. Darunter leiden vor allem die leistungswilligen Sch\u00fclerInnen, die es regelrecht \u201eanscheisst\u201c. Andere Sch\u00fclerInnen sind v\u00f6llig \u00fcberfordert, wenn ich nicht individualisiere, das heisst ganz einfach, Auftr\u00e4ge zu erteilen. Individualisierung aber setzt die Bereitschaft voraus, selbst\u00e4ndig zu arbeiten. Mir f\u00e4llt der aussergew\u00f6hnlich r\u00fcde Umgangston w\u00e4hrend der Gruppenarbeit auf. Aus den nichtigsten Anl\u00e4ssen (A: “Wo hast du das hingeklebt?” \u2013 S.: “Unter S\u00e4ugetiere.” \u2013 A.: “Halt d\u2019Fresse du huere Lugisiech!”) werden kr\u00e4nkende und unsch\u00f6ne Dialoge gef\u00fchrt. Der von mir in der letzten Viertelstunde praktizierte \u201egef\u00fchrte Unterricht\u201c sorgt dagegen f\u00fcr Ruhe, ist etwas effizienter und f\u00fchrt zu kleinen Lernerfolgen.<\/p>\n

Der Lehrer \u2013 er ist nicht der Klassenlehrer – schickte mir sein Unterrichtsprotokoll, das er urspr\u00fcnglich f\u00fcr <\/em>die Schulleitung erstellt hat. Es ist anonymisiert. <\/em><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Ein junger Lehrer unterrichtet an einer 7. Reaklasse zwei Lektion NMM-Natur. Er will es gut machen, ganz wie er es in seiner Ausbildung gelernt hat: Gruppenarbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Diskussionen. In der Absicht, dass die Sch\u00fcler etwas lernen. Er st\u00f6sst auf Hindernisse und reagiert. Lesen Sie das anonymisierte Unterrichtsprotokoll von B. auf unserem Condorcet-Blog. <\/p>\n","protected":false},"author":5,"featured_media":4126,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[137,699,698],"coauthors":[],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4123"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/5"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=4123"}],"version-history":[{"count":11,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4123\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":4137,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4123\/revisions\/4137"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/4126"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=4123"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=4123"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=4123"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=4123"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}