{"id":3588,"date":"2020-01-06T13:08:22","date_gmt":"2020-01-06T12:08:22","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=3588"},"modified":"2020-01-06T13:08:22","modified_gmt":"2020-01-06T12:08:22","slug":"politische-bildung-sich-um-die-welt-als-ganzes-sorgen-machen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2020\/01\/politische-bildung-sich-um-die-welt-als-ganzes-sorgen-machen\/","title":{"rendered":"Politische Bildung: Sich um die Welt als Ganzes Sorgen machen"},"content":{"rendered":"
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B\u00e9atrice Ziegler, Historikerin: Es braucht ein neues Schulfach.<\/figcaption><\/figure>\n

Die Historikerin B\u00e9atrice Ziegler, die bis 2016 das Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der P\u00e4dagogischen Hochschule der FHNW in Aarau leitete, stellt in einem zweiseitigen Artikel der VPOD-Zeitschrift \u00abbildungspolitik\u00bb vom Oktober 2019 fest, dass politische Bildung im gymnasialen Schulunterricht nur marginal vertreten sei, und sie pl\u00e4diert daf\u00fcr, die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven st\u00e4rker zu ber\u00fccksichtigen.<\/p>\n

Der Beutelsbacher Konsens<\/h4>\n

Aspekte politischer Bildung seien in den Kantonen teilweise fachlich verankert, teilweise w\u00fcrden sie als \u00abElement der \u2039Schulkultur\u203a oder im \u00fcberfachlichen Bereich Ber\u00fccksichtigung finden.\u00bb Frau Ziegler hat nichts gegen partizipative Elemente der Schulgestaltung, doch die dabei gef\u00f6rderten Kompetenzen seien kaum solche der politischen Bildung, sondern mehr \u00fcberfachlicher Natur. Politische Bildung als Schulfach aber erm\u00f6gliche den Aufbau politischer Kompetenz bei Individuen. Sie solle sich nicht an der Werteerziehung, \u00absondern an der Wertereflexion orientieren.\u00bb So, wie es auch der 1976 in Deutschland vereinbarte Beutelsbacher Konsens meint, der sich auf folgende Prinzipien f\u00fcr das Fach \u00abPolitische Bildung\u00bb geeinigt hat: Indoktrinationsverbot, Kontroversit\u00e4t und Sch\u00fclerorientierung.<\/p>\n

F\u00fcr die Autorin ist die Sache klar: Politische Kompetenz werde nur wenig aufgebaut, \u00abwenn die Lehrpersonen nicht selbst in der Didaktik der Politischen Bildung ausgebildet werden. Es l\u00e4sst sich sogar zuspitzen: Egal, welche Lehrpersonen Politische Bildung unterrichten: Sie m\u00fcssen daf\u00fcr ausgebildet werden. Diese Ausbildung muss fachlich und insbesondere fachdidaktisch sein.\u00bb Das klingt alles sehr plausibel. Doch es ginge auch anders.<\/p>\n

Die Schule zur Polis machen<\/h4>\n

\"\"Halten wir fest: W\u00e4hrend gesamtgesellschaftlich Nationalismus, Populismus und Rassismus weltweit grassieren und die hereinbrechende Klimakatastrophe demokratiepolitisch eine enorme Herausforderung darstellt, werden die beiden Schulf\u00e4cher Geschichte und Geographie, die sich mit eben diesen Themen besch\u00e4ftigen, in der Volksschule stundenm\u00e4ssig reduziert und in einem neuen Sammelfach zusammengelegt, was zur Folge hat, dass eines der beiden Teilf\u00e4cher oft fachfremd unterrichtet wird. Gleichzeitig taucht auf der Sek-II-Stufe ein neues Fach namens \u00abPolitische Bildung\u00bb auf, das aber angesichts der Informatikoffensive an den Gymnasien einen schweren Stand haben wird. In der Logik der Argumentation von Frau Ziegler ist auch absehbar, dass man f\u00fcr die Unterrichtsberechtigung in diesem neuen Fach zwingend ein entsprechendes Zertifikat an einer P\u00e4dagogischen Hochschule wird erwerben m\u00fcssen.<\/p>\n

Ich pl\u00e4diere daf\u00fcr, dass an der Volksschule Geschichte und Geographie wieder zwei vollwertige Einzelf\u00e4cher werden und dass an den Gymnasien alle interessierten FachlehrerInnen Politische Bildung unterrichten d\u00fcrfen, egal, ob sie Franz\u00f6sisch, Geschichte oder Informatik studiert haben.<\/p><\/blockquote>\n

Ich pl\u00e4diere daf\u00fcr, dass an der Volksschule Geschichte und Geographie wieder zwei vollwertige Einzelf\u00e4cher werden und dass an den Gymnasien alle interessierten FachlehrerInnen Politische Bildung unterrichten d\u00fcrfen, egal, ob sie Franz\u00f6sisch, Geschichte oder Informatik studiert haben. Denn alle bringen ja eine didaktische Grundausbildung mit, alle sind es sich gewohnt, variantenreich Fachwissen altersgerecht herunterzubrechen. Das Fachwissen bringen sie in ihrem Selbstverst\u00e4ndnis als Citoyen und Citoyenne mit, als Staatsb\u00fcrgerInnen, die sich f\u00fcr das aktuelle politische Geschehen interessieren. Und es werden sich dabei wohl nur diejenigen KollegInnen an dieses Fach heranwagen, die eh schon eine Affinit\u00e4t zur Politik haben.<\/p>\n

Es ist wohl kein Zufall, dass dieses neue Fach weder \u00abStaatsb\u00fcrgerkunde\u00bb noch \u00abPolitikwissenschaft\u00bb genannt wird. Der Begriff \u00abPolitische Bildung\u00bb zielt darauf ab, Motivierungshilfe zu einem Engagement in unserer Gesellschaft zu leisten. Wenn wir uns heute um die Welt als Ganzes sorgen m\u00fcssen, dann sollen auch alle Lehrkr\u00e4fte, die sich von dieser Besorgnis angesprochen f\u00fchlen, mit dazu beitragen, diesen Blick aufs Ganze und aufs beispielhaft Einzelne zu sch\u00e4rfen. Je interdisziplin\u00e4rer und von der politischen Gesinnung her bunter der Haufen der Engagierten ist, umso besser! Dabei sollte aber m\u00f6glichst vermieden werden, allzu moralisch belehrend daherzukommen und die Stossrichtung eines m\u00f6glichen Engagements normativ vorzutragen.<\/p>\n

Der Gefahr der Demoralisierung durch die Riesenhaftigkeit der aktuellen Herausforderungen sind sowohl die Sch\u00fclerInnen wie die Lehrkr\u00e4fte ausgeliefert. Heute sollen sich die Leute auf der Strasse und die Kinder in der Schule Sorgen machen, die fr\u00fcher einem Aussenminister angestanden h\u00e4tten, wie es der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk einmal flapsig formuliert hat. Das neue Fach soll probieren, mit kritischer Reflexion eine Richtschnur des Handelns zu formulieren, die aller Konfusionen zum Trotz eine hinreichend starke Orientierung bietet. Dabei ist es n\u00f6tig und hilfreich, die Jugendlichen, wenn immer m\u00f6glich, als gleichberechtigte PartnerInnen mit ins Boot zu holen und den Kurs als Team zu gestalten.<\/p>\n

In diesem Fach sollten wir mit den Jugendlichen zusammen erlernen, was es heisst, sich in der Gemeinschaft der Schule, des Staates und des Global Village zu engagieren. Wir m\u00fcssen die Schule zur Polis machen.<\/p><\/blockquote>\n

Wenn das Fach \u00abPolitische Bildung\u00bb mehr sein soll als eine Wiederholung der Dringlichkeiten, wie sie etwa in Geographie, Biologie, Geschichte, Wirtschaft und Recht oder Philosophie vermittelt werden, dann geht es vor allem um die Ausgestaltung eines neuen Begriffes von konkreter Solidarit\u00e4t mit universalen Implikationen. In diesem Fach sollten wir mit den Jugendlichen zusammen erlernen, was es heisst, sich in der Gemeinschaft der Schule, des Staates und des Global Village zu engagieren.<\/p>\n

Dabei soll es nicht nur um die globalen Herausforderungen gehen, sondern auch um die verhandelbare Ausgestaltung der eigenen Schule und um das Zusammenleben in der eigenen Stadt oder Gemeinde. Der Schaffung von demokratischer \u00d6ffentlichkeit kommt dabei eine Schl\u00fcsselrolle zu.<\/p><\/blockquote>\n

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Aus der Schule eine Polis machen<\/figcaption><\/figure>\n

Wir m\u00fcssen die Schule zur Polis machen, in der man, wie es der P\u00e4dagoge Hartmut von Hentig formulierte, \u00abim Kleinen die Versprechungen und Schwierigkeiten der grossen res publica erf\u00e4hrt, sich und seine Ideen erprobt und die wichtigsten T\u00e4tigkeiten \u00fcbt: ein Problem oder Interesse definieren und es \u00f6ffentlich verhandeln, andere Menschen \u00fcberzeugen und sich von ihnen \u00fcberzeugen lassen, Entscheidungen treffen, Zust\u00e4ndigkeiten bestimmen und dergleichen mehr.\u00bb Dabei soll es nicht nur um die globalen Herausforderungen gehen, sondern auch um die verhandelbare Ausgestaltung der eigenen Schule und um das Zusammenleben in der eigenen Stadt oder Gemeinde. Der Schaffung von demokratischer \u00d6ffentlichkeit kommt dabei eine Schl\u00fcsselrolle zu.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Soll ein Fach “Politische Bildung” eingef\u00fchrt werden, wie die Historikerin B\u00e9atrice Ziegler fordert? Condorcet-Autor Georg Geiger ist skeptisch. <\/p>\n","protected":false},"author":10,"featured_media":1571,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[294,153,152,617,616],"coauthors":[],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3588"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/10"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=3588"}],"version-history":[{"count":4,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3588\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":3598,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/3588\/revisions\/3598"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/1571"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=3588"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=3588"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=3588"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=3588"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}