{"id":3323,"date":"2019-12-15T18:15:05","date_gmt":"2019-12-15T17:15:05","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=3323"},"modified":"2019-12-15T22:46:22","modified_gmt":"2019-12-15T21:46:22","slug":"bitte-nicht-nach-estland-pilgern","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2019\/12\/bitte-nicht-nach-estland-pilgern\/","title":{"rendered":"Bitte nicht nach Estland pilgern!"},"content":{"rendered":"
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Carl Bossard<\/figcaption><\/figure>\n

Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verst\u00e4ndig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie. Und dies im Land mit den h\u00f6chsten Kosten pro Sch\u00fcler! Von einer Schmach spricht der “Tages-Anzeiger”. Ein Viertel der 15-J\u00e4hrigen ist hierzulande nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Sie k\u00f6nnen das Geschriebene entziffern, verstehen aber das Gelesene nicht.<\/p>\n

Systemversagen st\u00f6rt nicht<\/strong><\/p>\n

Seit Jahren sinken die Leistungen der Schweizer Sch\u00fcler in den Pisa-Studien. Das \u201eProgramme for International Student Assessment\u201c, kurz Pisa, ist die gr\u00f6sse internationale Evaluation von Schulleistungen. Sie erfolgt im Auftrag der Organisation f\u00fcr Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Getestet wurden diesmal rund 600\u2018000 Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fcler in fast 80 L\u00e4ndern, davon 6\u2018000 Jugendliche in 200 Schweizer Klassen. Nach wie vor gut in Mathematik und durchschnittlich im Bereich der Naturwissenschaft, doch schwach im Lesen, lautet das j\u00fcngste PISA-Fazit f\u00fcr die 15-j\u00e4hrigen Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fcler unseres Landes.<\/p>\n

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Elsbeth Stern wies schon vor Jahren auf den Missstand hin.<\/figcaption><\/figure>\n

Bildungspolitiker zeigen sich erstaunt und reiben sich die Augen. Als ob man es nicht gewusst h\u00e4tte! Eigentlich m\u00fcssten die Alarmglocken l\u00e4uten. Schon vor Jahren hat die renommierte ETHZ-Lernforscherin Prof. Elsbeth Stern darauf hingewiesen, dass mindestens 15 Prozent der schulentlassenen Jugendlichen funktionale Analphabeten oder Illiteraten seien. Die Bildungsverantwortlichen schwiegen. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt schien sie nicht zu st\u00f6ren.[1]<\/a> Geschehen ist wenig.<\/p>\n

Der Schl\u00fcssel liegt im Schulzimmer <\/strong><\/p>\n

Viel wurde in den letzten Tagen geschrieben, noch mehr geredet und am h\u00e4ufigsten wohl ein flinkes Patentrezept pr\u00e4sentiert. Signifikant ist der Reflex des Schweizer Lehrerverbands. Der LCH begr\u00fcsst die “positiven [PISA-]Resultate” und fordert f\u00fcr die Schule bessere “Rahmenbedingungen”, sprich noch mehr Geld. Die Bildungspolitiker ihrerseits pl\u00e4dieren fast unisono f\u00fcr eine Fr\u00fchf\u00f6rderung. Das ist wichtig und richtig, darf aber nicht der einzige Fokus bleiben. Der zentrale Blick geh\u00f6rt ins Schulzimmer gerichtet.<\/p>\n

Die Antwort des LCH: Mehr Geld!<\/p><\/blockquote>\n

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Die Haltung des LCH: Mehr Geld, sonst ist alles gut.<\/figcaption><\/figure>\n

Das Lesen und das Schreiben trainieren<\/strong><\/p>\n

Von dieser Perspektive spricht erstaunlicherweise nur der \u201eTages-Anzeiger\u201c. Er redet Klartext und bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: \u201eDer falsche Reformeifer r\u00e4cht sich.\u201c[2]<\/a> Hier liege des Pudels Kern: Integration lernschwacher Sch\u00fcler in die Regelklasse, zwei fr\u00fche Fremdsprachen, Abbau von Deutschlektionen, \u00dcberfrachtung durch sozialp\u00e4dagogische Aufgaben. Das alles bringe die Schulen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen. Das Boot ist schwer beladen. N\u00f6tig w\u00e4re eine Konzentration aufs Wesentliche. Dazu geh\u00f6ren die Basiskompetenzen.<\/p>\n

Lehrerinnen und Lehrer haben heute kaum mehr Raum und Zeit, richtig und vertieft und immer wieder \u00fcbend ins Lesen einzuf\u00fchren.<\/p><\/blockquote>\n

Lesenlernen ist anspruchsvoll, das Ein\u00fcben grundlegender Lesetechniken eine schwierige didaktische Aufgabe. Lehrerinnen und Lehrer haben heute kaum mehr Raum und Zeit, richtig und vertieft und immer wieder \u00fcbend ins Lesen einzuf\u00fchren \u2013 oder im Klassenverband zu lesen, anleitend. Zu vieles muss in zu kurzer Zeit durchgenommen und behandelt werden. Korrektes und verstehendes Lesen m\u00fcsste auch mit einem vertiefenden Schreibunterricht verbunden sein \u2013 nicht einfach bis weit in die oberen Klassen mit einem “Schreiben nach Geh\u00f6r”.<\/p>\n

Verfehlte Reformen schaden schw\u00e4cheren Kindern<\/strong><\/p>\n

Dieser Zusammenhang geht leicht vergessen. Die 15-j\u00e4hrigen Jugendlichen waren nicht selten Versuchskaninchen f\u00fcr Experimente beim Lesen- und Schreibenlernen. Guten und begabten Sch\u00fclern schadet das nicht wesentlich. Auf schw\u00e4chere Kinder oder solche mit einer anderen Muttersprache als Deutsch wirkt es sich aus. Sie bleiben unter ihren M\u00f6glichkeiten: die Folgen falsch gelagerter Reformen oder methodischer Fehlgriffe.<\/p>\n

Gerade diese Kinder m\u00fcssen wirklich gut lesen lernen und die Laute sicher den Buchstaben zuordnen k\u00f6nnen \u2013 und dies, ohne sich zuerst eine falsche und dann eine korrekte Rechtschreibung einpr\u00e4gen zu m\u00fcssen. Etwas ganz Entscheidendes.[3]<\/a><\/p>\n

Die Kernfrage: Was l\u00e4uft denn falsch?<\/strong><\/p>\n

Die Leseleistungen unserer Sch\u00fcler haben sich\u00a0verschlechtert. Das ist Fakt. Die Bildungspolitik m\u00fcsste darum der Frage nachgehen, was in diesem Bereich passiert und warum vielleicht einiges falsch l\u00e4uft. Und dazu z\u00e4hlt eben auch die einseitig favorisierte Methode des selbstregulativen Lernens. Es gibt Klassen, in denen sich die Kinder in Lernwerkst\u00e4tten das Alphabet selber beibringen m\u00fcssen. Der Lehrer, die Lehrerin begleitet nur als Coach.<\/p>\n

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Viele Kinder brauchen das anregende und f\u00fchrende Gegen\u00fcber.<\/figcaption><\/figure>\n

Viele Kinder aber brauchen das anregende und f\u00fchrende Gegen\u00fcber. Sie ben\u00f6tigen Halt und ein sicheres Gel\u00e4nder. Allein sind sie \u00fcberfordert. Das wirkt sich aus. Wichtig w\u00e4ren lautes Lesen im Chor, im Tandem, auch allein und still vor sich hin. Das erh\u00f6ht die Lesefl\u00fcssigkeit. Stetes Wiederholen und feste Routinen helfen.<\/p>\n

Die “direkte Instruktion” als effektive Lehrform<\/strong><\/p>\n

Besonders im Elementarunterricht mit dem Lesen und Schreiben ist das gemeinsame Einf\u00fchren und das gemeinsame \u00dcben und Optimieren eine effektive Unterrichtsform. Empirische Studien belegen den Wirkwert der direkten Instruktion. Im Vergleich zu anderen Lehrmethoden f\u00fchrt sie zu h\u00f6heren Durchschnittsleistungen, zu st\u00e4rkerem Leistungszuwachs und zu besseren individuellen Lernergebnissen \u2013 vor allem auch bei schw\u00e4cheren Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fclern.<\/p>\n

Besonders im Elementarunterricht mit dem Lesen und Schreiben ist das gemeinsame Einf\u00fchren und das gemeinsame \u00dcben und Optimieren eine effektive Unterrichtsform.<\/p><\/blockquote>\n

Franz E. Weinert, Kronzeuge f\u00fcr den Lehrplan 21 und fr\u00fcherer Direktor des Max-Planck-Instituts f\u00fcr psychologische Forschung, hielt kurz und b\u00fcndig fest: “Zum Entsetzen vieler Reformp\u00e4dagogen erwies sich in den meisten seri\u00f6sen Studien eine Lehrform als \u00fcberdurchschnittlich effektiv, die [\u2026] als \u2018direkte Instruktion\u2019 bezeichnet wird. Sie verbessert die Leistungen fast aller Sch\u00fcler, erh\u00f6ht deren Selbstvertrauen in die eigene T\u00fcchtigkeit und reduziert ihre Leistungs\u00e4ngstlichkeit.\u201c[4]<\/a><\/p>\n

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Jetzt ja nicht<\/em> nach Estland pilgern!<\/figcaption><\/figure>\n

Das ferne Estland liegt im nahen Schulzimmer<\/strong><\/p>\n

Lesen k\u00f6nnen ist f\u00fcrs Leben entscheidend. Und lesen k\u00f6nnen ist die Grundlage der Lesefreude. Denn nur wer lesen kann, wird es auch gern tun. Und hier hapert es: Die Lesefreude unter den Jugendlichen sinkt. Eine problematische Tendenz.<\/p>\n

Schule muss gegenhalten, muss Gegenl\u00e4ufiges betonen. Das geh\u00f6rte schon immer zu ihrem Auftrag. Und dazu z\u00e4hlt die basale Lesef\u00e4higkeit. Und zwar aller Kinder. Diese Erkenntnis braucht keinen Bildungstourismus wie einst nach Finnland. Das ferne Estland liegt im nahen Schulzimmer.<\/p>\n

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[1]<\/a> SKBF (2018): Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle f\u00fcr Bildungsforschung, S. 73.<\/em><\/p>\n

[2]<\/a> Raphaela Birrer: Der falsche Reformeifer r\u00e4cht sich. In: Tagesanzeiger, 04.12.2019, S. 2.<\/em><\/p>\n

[3]<\/a> Heike Schmoll: Leseschwach. In: FAZ, 04.12.2019, S. 1.<\/em><\/p>\n

[4]<\/a> Gerd-Bodo von Carlsburg (Hrsg.\/ed.) (2008): Baltische Studien zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH, S. 100.<\/em><\/p>\n