{"id":2711,"date":"2019-11-08T13:43:50","date_gmt":"2019-11-08T12:43:50","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=2711"},"modified":"2019-11-09T19:39:55","modified_gmt":"2019-11-09T18:39:55","slug":"oekonomisierung-der-kindheit-interview-mit-jochen-krautz","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2019\/11\/oekonomisierung-der-kindheit-interview-mit-jochen-krautz\/","title":{"rendered":"\u00d6konomisierung der Kindheit – Interview mit Jochen Krautz"},"content":{"rendered":"

\u00abProf. Krautz, was m\u00fcssen wir uns unter der Formulierung \u00ab\u00d6konomisierung der Kindheit\u00bb vorstellen?<\/strong><\/p>\n

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Prof. Dr. Jochen Krautz, Pr\u00e4sident der GBW, Buchautor, Kritiker der Bildungsreformen<\/figcaption><\/figure>\n
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Yasemin Dinekli, Gymnasiallehrerin in Z\u00fcrich, Pr\u00e4sidentin des Tr\u00e4gervereins des Condorcet-Blogs, f\u00fchrte das Interview mit Jochen Krautz.<\/figcaption><\/figure>\n

Man stellt sich meistens zun\u00e4chst auf einer \u00e4usseren Ebene vor, dass Kinder immer mehr in die Konsum- und Warenwelt hineingezogen werden. Ganz offensichtlich ist das bei Spielzeug, Kleidung und digitalen Ger\u00e4ten, die schon ab der Kinderwiege Kinder als Konsumenten ansprechen. Das beschreibt die \u00e4ussere \u00d6konomisierung der Kindheit. In Bezug auf das Thema Bildung und Schule zeigt sich noch eine ganz andere Ebene, dass n\u00e4mlich zunehmend \u00f6konomisch gepr\u00e4gte Denk- und Handlungsmuster auf Erziehung und Bildung \u00fcbertragen werden. Das heisst, Kinder werden nicht nur zu Konsumenten erzogen, sondern Schule \u2013 und damit Bildung und Erziehung \u2013 funktioniert zunehmend nach \u00f6konomischen Kriterien und nach Handlungsmustern, die eigentlich aus dem Management, aus der Betriebswirtschaft, kommen und in p\u00e4dagogischen Handlungszusammenh\u00e4ngen nichts verloren haben. Wir erleben insgesamt die \u00dcbertragung eines \u00f6konomischen Menschenbildes, des sogenannten Homo oeconomicus, auf Zusammenh\u00e4nge, in denen dieses Menschenbild nichts verloren hat. Das f\u00fchrt dazu, dass man Sch\u00fcler, Kinder, immer st\u00e4rker als sogenanntes Humankapital versteht, in das man investieren muss. Die Sch\u00fcler sollen auch in sich selbst investieren, in ihre eigene Bildung. Sie gelten sozusagen als \u00abUnternehmer ihrer selbst\u00bb, als Verwerter ihres eigenen Bildungskapitals.<\/p>\n

Das sogenannte Kompetenzverst\u00e4ndnis, das dort vertreten wird, reduziert Bildung auf anwendungsbezogene Fertigkeiten. Kompetenz wird verstanden \u2013 auch das steht w\u00f6rtlich in den OECD-Papieren \u2013 als \u00a0Anpassungsf\u00e4higkeit an die Erfordernisse der globalen \u00d6konomie.<\/p><\/blockquote>\n

Wie ist diese \u00d6konomisierung in den Bildungsbereich gelangt?<\/strong><\/p>\n

Das hat Einzug gehalten seit Anfang der 1990er Jahre und dann verst\u00e4rkt seit Anfang der 2000er Jahre durch die PISA-Studien. Dieses Menschenbild, also der Homo oeconomicus und die Humankapital-Theorie, sind ausdr\u00fccklich Grundlage des Bildungsverst\u00e4ndnisses der PISA-Studien. Es steht w\u00f6rtlich in den Studien, dass der ganze Ansatz, der hinter den scheinbar objektiv-empirischen Tests steht, sich in diesen Humankapitaleinsatz einordnet. Das sogenannte Kompetenzverst\u00e4ndnis, das dort vertreten wird, reduziert Bildung auf anwendungsbezogene Fertigkeiten. Kompetenz wird verstanden \u2013 auch das steht w\u00f6rtlich in den OECD-Papieren \u2013 als \u00a0Anpassungsf\u00e4higkeit an die Erfordernisse der globalen \u00d6konomie.<\/p>\n

Der messbare, quantitative Outcome ist entscheidend, nicht die Qualit\u00e4t.<\/p><\/blockquote>\n

Ganz konkret gefragt: An welchen Anzeichen kann man erkennen, ob in Schulen Entscheidungen nicht mehr nach p\u00e4dagogischen, sondern nach \u00f6konomistischen Gesichtspunkten gef\u00e4llt werden?<\/strong><\/p>\n

Das sind Anzeichen, die man wom\u00f6glich erst mal gar nicht damit verbindet. Ich nenne zwei Beispiele: Es ist z.B. \u00fcblich \u2013 in Deutschland ganz besonders \u2013 dass man Schulen als autonome Einheiten versteht. Da denkt man erst einmal: Sch\u00f6n, wenn Schulen sich selbst bestimmen k\u00f6nnen. Tats\u00e4chlich heisst das nur, dass jetzt die Sch\u00fclerzahlen, die Absolventenquoten wichtig sind, also Output-Kriterien. Der messbare, quantitative Outcome ist entscheidend, nicht die Qualit\u00e4t. Das hat zur Folge, dass Schulen nun in einem k\u00fcnstlich inszenierten Wettbewerb stehen und alles M\u00f6gliche an \u00d6ffentlichkeitsarbeit, an Projekten, an bunten Veranstaltungen organisieren, aber der Kern, n\u00e4mlich Unterricht und Erziehung, immer unwichtiger wird. Zunehmend richten sich dann auch Eltern nach dem bunten Angebot, ohne zu fragen, was eigentlich Aufgabe der Schule ist und was ihren Kindern tats\u00e4chlich gut tut.<\/p>\n

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Modernes Klassenzimmer
Bild: api<\/figcaption><\/figure>\n

Ein anderes Beispiel ist das auch in der Schweiz sehr dominante \u00abselbstgesteuerte\u00bb oder \u00abselbstorganisierte Lernen\u00bb. Das klingt zun\u00e4chst einmal recht kinderfreundlich und etwas nach Reformp\u00e4dagogik: Eine Lernumgebung wird gestaltet, in der die Kinder nicht mehr unterrichtet werden, sondern selbstgesteuert Aufgaben abarbeiten nach Wochenpl\u00e4nen und \u00c4hnlichem, in Klassenr\u00e4umen, die wie Grossraumb\u00fcros aussehen. Tats\u00e4chlich wird so gerade nicht Individualit\u00e4t gef\u00f6rdert, sondern solche Individualisierung vereinzelt und isoliert die Kinder. Sie lernen, Vorgaben abzuarbeiten. In einem tats\u00e4chlich schon wie in einem Grossraumb\u00fcro organisierten Setting lernen sie, Aufgaben zu bearbeiten, dar\u00fcber Rechenschaft abzulegen, sich selbst zu kontrollieren und Kompetenzfortschritte in Raster einzutragen. Sie werden sozial atomisiert, und damit l\u00f6st sich eigentlich das Grundverh\u00e4ltnis von P\u00e4dagogik auf. Ganz interessant ist, dass damit das kapitalistische Marktprinzip Einzug h\u00e4lt, denn mit dieser Situation werden die ohnehin starken Sch\u00fcler, die von Zuhause schon kulturelles \u00abKapital\u00bb mitbringen, besser zurechtkommen als die Schwachen. Gerade aber die schwachen Sch\u00fcler, die sehr konkrete Anleitung und Beziehung br\u00e4uchten, gehen darin unter. Man hat auf eine ganz merkw\u00fcrdige Art und Weise eine Art radikalkapitalistisches System installiert, das nach dem Prinzip des \u00absurvival of the fittest\u00bb selektiv wirkt. Derjenige, der sich behaupten kann, kommt durch, und die anderen gehen unter. Hinter all diesen nat\u00fcrlich sehr blumig als Fortschritt beschriebenen Lernformen geht eigentlich genau das verloren, worum es angeblich immer geht, n\u00e4mlich Bildungsgerechtigkeit herzustellen.<\/p>\n

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Bild: Adobe Stock<\/figcaption><\/figure>\n

Gibt es in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz?<\/strong><\/p>\n

Ich kann das nur aus meiner Beobachtung beurteilen. Die Unterschiede scheinen sich mehr und mehr anzugleichen. Deutschland war seit Anfang der 2000er Jahre weit voraus in der Umsetzung dieser Reformen. Die Schweiz hat aber in den letzten Jahren rasant und auch mit einer erstaunlichen Brutalit\u00e4t das System adaptiert und umgesetzt. Meiner Beobachtung nach ist das fast zu einer Gleichschaltung im p\u00e4dagogischen Denken und Handeln gekommen. Die Instrumente, die in der Schweiz eingesetzt werden, wirken meiner Einsch\u00e4tzung nach sch\u00e4rfer, weil in Deutschland die Lehrer verbeamtet sind \u2013 was aufgrund der deutschen Historie immer ambivalent ist: Deutsche Lehrer sind grunds\u00e4tzlich erst mal misstrauisch gegen das, was von oben kommt, machen vieles auch einfach nicht mit, sind aber gesichert. In der Schweiz scheint zunehmend der Druck auf Lehrerinnen und Lehrer ausge\u00fcbt zu werden, so dass es tats\u00e4chlich zu Entlassungen oder Androhungen von Entlassungen kommt, was in der Schweiz ja m\u00f6glich ist. Die \u00f6ffentliche Diskussion um diese Fragen scheint inzwischen in beiden L\u00e4ndern zu beginnen. Ich kann der Schweiz nur w\u00fcnschen, dass dies zunimmt.<\/p>\n

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Sie haben dieses Jahr die Pr\u00e4sidentschaft der Gesellschaft f\u00fcr Bildung und Wissen<\/em> (GBW) \u00fcbernommen. Die GBW ist ein Zusammenschluss von Hochschullehrenden und Wissenschaftlern, der sich gegr\u00fcndet hat, nachdem die Universit\u00e4ten gegen ihren Willen mit der Bologna-Reform \u00fcberrannt wurden. Ziel war es, die Hintergr\u00fcnde des Paradigmenwechsels in der gesamten Bildungsdebatte eingehend zu verstehen und ein Instrument gegen den damit einhergehenden Abbau von Bildung und Wissen in den Hochschulen zu entwickeln. K\u00f6nnen Sie uns etwas \u00fcber die Arbeitsweise und den Wirkungsradius der GBW sagen?<\/strong><\/p>\n

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Prof. Dr. Hans Peter Klein gr\u00fcndete die GBW,
Autor von “Abitur und Bachelor f\u00fcr alle \u2013 wie ein Land seine Zukunft verspielt”<\/figcaption><\/figure>\n

Die Gesellschaft wurde eigentlich in der Nachfolge der \u00abFrankfurter\u00a0Einspr\u00fcche gegen die \u00d6konomisierung des Bildungswesens\u00bb von 2006 gegr\u00fcndet. Sie geht zur\u00fcck auf eine Initiative der Kollegen Gruschka und Klein aus Frankfurt. Von Anfang an bestand die Gesellschaft nicht nur aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern genauso aus Lehrerinnen und Lehrern und anderen p\u00e4dagogisch T\u00e4tigen. D.h., es ist ein inzwischen doch recht grosser Zusammenschluss eben von Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft mit denen aus der p\u00e4dagogischen Praxis. Ich halte genau das f\u00fcr wichtig, um den Austausch zwischen dem, was man wissenschaftlich analysieren kann mit der Praxis herzustellen. Zur Arbeitsweise: Es ist ein freier Zusammenschluss als Plattform f\u00fcr den Austausch \u00fcber diese Fragen. Der l\u00e4uft vor allem \u00fcber die Webseite der Gesellschaft. Wir haben zudem regelm\u00e4ssig grosse Tagungen veranstaltet, in Frankfurt, in K\u00f6ln, in Offenburg, in Wuppertal, mit jeweils 300 bis 400 Teilnehmern. Die Tagungen bringen einerseits \u00a0die inhaltliche Analyse voran und sind zum anderen \u00a0M\u00f6glichkeit des Austauschs. Aus einigen der Tagungen entstanden auch Publikationen, die z.T. online zug\u00e4nglich sind. Zudem halten viele Kolleginnen und Kollegen zahllose Vortr\u00e4ge in Deutschland, \u00d6sterreich und der Schweiz.<\/p>\n

Zudem versuchen wir Stellungnahmen zu aktuellen Problemen zu erarbeiten. Es gibt eine Publikation der GBW, den \u00abBildungsrat\u00bb, der politisch Verantwortlichen eine M\u00f6glichkeit geben will, sich auch positiv zu orientieren, was Schule und Unterricht eigentlich ausmacht. Die Publikation zeigt, dass das, was heute passiert, nicht alternativlos ist, sondern dass die P\u00e4dagogik in ihrer Geschichte und Systematik sehr wohl andere M\u00f6glichkeiten hat, p\u00e4dagogisches Handeln zu gestalten.<\/p>\n

Und eine j\u00fcngere Entwicklung ist, dass sich regionale Gespr\u00e4chsgruppen in der GBW organisieren, so dass auch der Austausch vor Ort in kleineren Kreisen vorankommt. Ich halte das f\u00fcr wichtig, weil viele Lehrerinnen und Lehrer unter diesen Entwicklungen massiv leiden und der wechselseitige Austausch und die Best\u00e4rkung enorm wichtig sind, um dem fast totalit\u00e4ren Druck, der ausge\u00fcbt wird, \u00fcberhaupt standzuhalten.<\/p>\n

Besteht auch mit der Schweiz eine Zusammenarbeit?<\/strong><\/p>\n

Ja, wir haben einen Vizepr\u00e4sidenten der Gesellschaft in der Schweiz, das ist der Kollege Carl Bossard, ebenso wie einen Vizepr\u00e4sidenten in \u00d6sterreich, den Kollegen Konrad Paul Liessmann, so dass wir auch in die Schweiz und \u00d6sterreich hinein einen Austausch haben.<\/p>\n

Meine Erfahrung ist auch, dass an vielen Stellen Kolleginnen und Kollegen sitzen, die sehr froh sind \u00fcber solche M\u00f6glichkeiten und dar\u00fcber, im Condorcet-Blog etwas anderes zu lesen und zu h\u00f6ren, selbst wenn man von diesen Leserinnen und Lesern nichts h\u00f6rt.<\/p><\/blockquote>\n

Nun eine letzte Frage in eigener Sache. Wir haben ja unseren Blog gebildet, um auch innerhalb der Schweiz einen solchen Austausch zu erm\u00f6glichen. Was halten Sie vom Schweizer Condorcet-Blog?<\/strong><\/p>\n

Mich hat es sehr gefreut, dass diese Initiative zustande kam und dieser Blog nun eine Plattform bildet, der \u00e4hnlich wie die GBW eine M\u00f6glichkeit er\u00f6ffnet, die Diskussion und den \u00f6ffentlichen Diskurs voranzubringen. Soweit ich den Condorcet-Blog beobachte, spriesst das ja sehr erfreulich und sehr lebhaft. Ich kann nur w\u00fcnschen, dass sich das weiter so entwickelt. Denn der Bedarf daran, die Diskussion voranzubringen, ist gross. Meine Erfahrung ist auch, dass an vielen Stellen Kolleginnen und Kollegen sitzen, die sehr froh sind \u00fcber solche M\u00f6glichkeiten und dar\u00fcber, im Condorcet-Blog etwas anderes zu lesen und zu h\u00f6ren, selbst wenn man von diesen Leserinnen und Lesern nichts h\u00f6rt. Er ist als M\u00f6glichkeit von Vernetzung, Austausch und Kl\u00e4rung der Sache von grosser Bedeutung.<\/p>\n

Danke f\u00fcr diese R\u00fcckmeldung und das Gespr\u00e4ch, Prof. Krautz.<\/strong><\/p>\n