{"id":2701,"date":"2019-11-08T12:26:35","date_gmt":"2019-11-08T11:26:35","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=2701"},"modified":"2019-11-11T18:19:43","modified_gmt":"2019-11-11T17:19:43","slug":"im-spannungsfeld-von-schule-und-wirtschaft","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2019\/11\/im-spannungsfeld-von-schule-und-wirtschaft\/","title":{"rendered":"Im Spannungsfeld von Schule und Wirtschaft"},"content":{"rendered":"
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Condorcet-Autor Urs Kalberer, Sekundarlehrer, Linguist und Betreiber des Bildungsblogs “schuleschweiz.ch”<\/figcaption><\/figure>\n

Kinder sind keine Autos<\/strong><\/p>\n

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Schule und Spital sollen wie Zahnr\u00e4der funktionieren.<\/figcaption><\/figure>\n

Die Umwandlung der Schule in einen Zulieferbetrieb f\u00fcr die Industrie \u2013 wie von der UNO-Organisation f\u00fcr wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit den 1960-er Jahren angestrebt \u2013 widerspricht aber der Geschichte und Tradition unseres Bildungswesens. In der Schule geht es \u2013 im Unterschied zur Wirtschaft \u2013 nicht um Kundenzufriedenheit, sondern um einen Bildungsauftrag. Kinder sind keine Autos, die man nach Standards fertigt. Am Beispiel des Qualit\u00e4ts-Managements der Volksschule des Kantons St. Gallen zeigt Krautz, wie nahe sich die Schule bereits an wirtschaftliche Organisationsformen angen\u00e4hert hat. Jede Hierarchiestufe ist verantwortlich f\u00fcr die \u00abProduktion\u00bb von Daten (Evaluation, Feedback, Testsysteme), die weitergereicht werden. Eindr\u00fccklich ist auch, wie in Fragen der Schulqualit\u00e4t die eigentlich zentrale Rolle der Lehrpersonen zur\u00fcckgestuft wird. Die Lehrerinnen und Lehrer sind f\u00fcr die \u00abLernprozesssteuerung\u00bb gem\u00e4ss den Direktiven von oben zust\u00e4ndig \u2013 ihre eigene professionelle Expertise wird dadurch entwertet. Dabei wissen wir doch, dass p\u00e4dagogische Qualit\u00e4t nicht durch B\u00fcrokratisierung und Formalisierung erreicht werden kann.<\/p>\n

Wie konnte es soweit kommen?<\/strong><\/p>\n

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St\u00e4ndige Testserien ver\u00e4ndern den Unterricht.<\/figcaption><\/figure>\n

Dass es nicht einfach ist, eine jahrhundertealte p\u00e4dagogische Tradition umzukehren, zeigen die Strategien, die dabei angewendet werden. Die Initialz\u00fcndung lieferte PISA: Um den Druck auf die staatlichen Bildungswesen zu erh\u00f6hen, wurden in den Mitgliedstaaten Testserien durchgef\u00fchrt, welche grundverschiedene Schulsysteme ohne R\u00fccksicht auf ihre Lehrpl\u00e4ne in bestimmten, wirtschaftlich relevanten F\u00e4higkeiten vergleichen. Die Wirkung der breit in den Medien ver\u00f6ffentlichten Resultate verst\u00e4rkte den Anpassungsdruck auf die nationalen Bildungswesen. Fortan gilt es, im Wettbewerb zwischen den L\u00e4ndern mitzuhalten. Demokratisch legitimierte Lehrpl\u00e4ne werden durch kompetenzorientierte ersetzt, wobei der Fokus auf der praktischen Anwendbarkeit des Stoffes liegt. Dazu werden die Lerninhalte in Tausende von Kompetenzen zerst\u00fcckelt, welche alle einzeln \u00fcberpr\u00fcfbar sind. Dieser Paradigmenwechsel vom ganzheitlichen, humanistisch gepr\u00e4gten Bildungsideal zu einem funktionalen Bildungsbegriff erfolgte auch in einem Land wie der Schweiz mit ihren ausgebauten Volksrechten nahezu reibungslos.<\/p>\n

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Markus Mendelin, Change Management bei der Einf\u00fchrung des Lehrplans 21 im Kanton Thurgau<\/figcaption><\/figure>\n

Als weitere Etappenziele in dieser Entwicklung erw\u00e4hnt Krautz Methoden wie Classroom Walkthrough und dem aus der Wirtschaft bekannten Change Management. Beide Techniken sollen durch manipulativen Druck den Widerstand der Lehrer brechen. Wer Fragen stellt, wird an den Pranger gestellt und gilt als Ewiggestriger. In den Kollegien werden Angst und eine Kultur der vorauseilenden Anpassung erzeugt. Aus selbst\u00e4ndig denkenden, zur kritischen Reflexion f\u00e4higen Lehrkr\u00e4ften entstehen so Marionetten der Bildungsb\u00fcrokratie. Die staatlichen Bildungswesen werden nun von ausserstaatlichen, der demokratischen Kontrolle entr\u00fcckten, Institutionen konkurrenziert, welche die angestrebten Ver\u00e4nderungen jeweils als alternativlos bezeichnen.<\/p>\n

Begleitet wird der Wechsel von sch\u00f6nf\u00e4rberischen, inflation\u00e4r verwendeten Begriffen wie Individualisierung und selbstorganisiertes Lernen. Man denkt, jedes Kind werde nun individuell gef\u00f6rdert, doch in Wirklichkeit werden die Kinder separiert, jedes lernt nun allein am Wochenplan oder am Computer. Es wird eben gerade nicht individualisiert, sondern sozial atomisiert. Die f\u00fcr das Lernen unabdingbare Beziehungs-Komponente wird unterbrochen. Beim selbstorganisierten Lernen findet gar kein gemeinsamer Unterricht mehr statt. Es bildet eine Vorstufe zur Digitalisierung im Grossraumb\u00fcro mit gegenseitiger Kontrolle. Die Hauptaufgabe der Lehrer beschr\u00e4nkt sich dabei noch auf das Kopieren und die Hilfestellung bei Computerproblemen. Die inhaltlichen Inputs werden als digitale H\u00e4ppchen in unterschiedlichen Zeitintervallen an die einzelnen Sch\u00fcler weitergereicht.<\/p>\n

Gef\u00e4hrdete Demokratie<\/strong><\/p>\n

Die oben genannten Ver\u00e4nderungen im Unterricht haben Folgen: Die Lehrer werden zu blossen Coaches degradiert und deprofessionalisiert. Ihre p\u00e4dagogische Freiheit (Methoden, Lehrmittel) wird eingeschr\u00e4nkt. Die F\u00f6rderung rein anwendungsbezogener Inhalte f\u00fchrt zu einem Abbau von Wissen und K\u00f6nnen bei den Sch\u00fclern. Dabei werden ausgerechnet die Schwachen geschw\u00e4cht. Wer es sich leisten kann, bedient sich ausserhalb der \u00f6ffentlichen Schule: Privatschulen, Nachhilfeunterricht und vermehrte elterliche Unterst\u00fctzung sind die Folge. Unsere anspruchsvolle direkte Demokratie ben\u00f6tigt B\u00fcrger, welche die elementaren Kulturtechniken beherrschen. Eine transparente Bildungspolitik ohne manipulative G\u00e4ngelung wird so zum staatstragenden Akt.<\/p>\n

Wer den Gebrauch der Freiheit f\u00fcrchtet, ist ihr heimlicher Gegner<\/p><\/blockquote>\n

Was tun?<\/strong><\/p>\n

Angesichts der ernsten Lage m\u00fcssen wir Lehrerinnen und Lehrer uns auf unsere Professionalit\u00e4t besinnen und uns nicht durch Kopien aus Management-Seminaren zu Befehlsempf\u00e4ngern degradieren lassen. Wir als Lehrer und Lehrerinnen sind gefordert unsere Position mit Selbstvertrauen und Beharrlichkeit gegen\u00fcber den Steuerungsorganen zu erkl\u00e4ren. Die Kunst des Unterrichtens erfordert in erster Linie die Freiheit, unser Wissen und K\u00f6nnen auch anzuwenden. Oder wie Carl Bossard zusammenfasst: \u00abWer den Gebrauch der Freiheit f\u00fcrchtet, ist ihr heimlicher Gegner. Man muss sich Freiheit nehmen. Man muss sie wollen und sie erk\u00e4mpfen \u2013 erst recht in ungewissen und bedrohlichen Zeiten.\u00bb<\/p>\n