{"id":16130,"date":"2024-03-10T16:45:39","date_gmt":"2024-03-10T15:45:39","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=16130"},"modified":"2024-03-10T16:45:39","modified_gmt":"2024-03-10T15:45:39","slug":"vom-elend-der-historischen-bildung","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2024\/03\/vom-elend-der-historischen-bildung\/","title":{"rendered":"Vom Elend der historischen Bildung"},"content":{"rendered":"

Am einem 31. Oktober fragte ich die Sch\u00fcler meines Geschichtskurses in der Gymnasialen Oberstufe eines Berliner Gymnasiums, ob sie w\u00fcssten, welchen Tag wir heute feierten. “Halloween” schallte es mir vielstimmig entgegen. An meiner Miene, die sich verfinsterte, sahen die Sch\u00fcler, dass ihre Antwort nicht optimal ausgefallen war. Nach einigem Hin und Her fand schliesslich eine Sch\u00fclerin, die in einer evangelischen Gemeinde aktiv ist, die richtige Antwort: Es war der Reformationstag. Was Luther damals wollte und worin seine bleibende geschichtliche Leistung besteht, wussten die Sch\u00fcler spontan nicht zu sagen. Im Geschichtsunterricht war das sicher irgendwann einmal “dran gewesen”. Nur h\u00e4ngengeblieben ist nichts.<\/p>\n

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Gastautor Rainer Werner<\/figcaption><\/figure>\n

So sieht es auch mit anderen wichtigen historischen Ereignissen aus. Kaum ein Sch\u00fcler weiss etwas \u00fcber die wichtigsten r\u00f6mischen Kaiser der Deutschen im Mittelalter zu sagen, die Fragen nach den demokratischen Bestrebungen im 19. Jahrhundert, nach Wartburgfest, Hambacher Fest und Paulskirche, bleiben ohne Antwort. Selbst Ereignisse, die ihre Eltern oder Grosseltern noch selbst erlebt haben, wie der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR oder der Mauerfall 1989, sind im Ged\u00e4chtnis der Sch\u00fcler nicht pr\u00e4sent.<\/p>\n

Turnvater Jahn entsorgt<\/strong><\/h4>\n

Szenenwechsel: Im Fr\u00fchjahr 2015 wurde die Turnvater-Jahn-Grundschule in Berlin-Prenzlauer Berg umgetauft. Der Name des Begr\u00fcnders des Massensports in Deutschland, Friedrich Ludwig Jahn, war als Namenspatron nicht mehr gefragt. Stattdessen erhielt die Grundschule den Namen des Bierbrauers B\u00f6tzow. Was war passiert? Einige Eltern und Lehrer hatten an Jahns Gesinnung Anstoss genommen. Der Turnvater sei als Namenspatron in der heutigen Zeit nur noch “schwer vermittelbar”, weil er “nationalistisch” gewesen sei und “gegen die ethnische Vermischung des Volkes” agitiert habe.<\/p>\n

Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn gebildete Menschen historische Pers\u00f6nlichkeiten nicht mehr aus ihrer Zeit heraus verstehen k\u00f6nnen, sondern unhistorisch aus heutiger Sicht die Messlatte der politischen Korrektheit anlegen.<\/p><\/blockquote>\n

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Solche Haltungen findet man bei so gut wie allen Geistesgr\u00f6ssen vergangener Jahrhunderte. Wer erinnert sich nicht an den fanatischen Judenhass von Martin Luther? Friedrich Ludwig Jahn “Nationalismus” vorzuwerfen, ist Ausdruck eines erschreckenden Unwissens \u00fcber die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. F\u00fcr die einheitliche deutsche Nation einzutreten, war im Deutschen Bund mit seinen 39 Einzelstaaten durchaus fortschrittlich, man k\u00f6nnte sogar sagen, ein linkes Projekt, zumal das nationale Streben mit der Forderung nach einer demokratischen Verfassung einherging.<\/p>\n

Mit derselben Berechtigung k\u00f6nnte man die Heinrich-Heine-Schulen umtaufen, weil Heine ebenfalls ein gl\u00fchender Verfechter der nationalen Einheit Deutschlands war. Jahns Kampf um Freiheitsrechte brachte ihm immerhin sechs Jahre Kerkerhaft ein und danach 15 Jahre Polizeiaufsicht. Es ist ein geistiges Armutszeugnis, wenn gebildete Menschen historische Pers\u00f6nlichkeiten nicht mehr aus ihrer Zeit heraus verstehen k\u00f6nnen, sondern unhistorisch aus heutiger Sicht die Messlatte der politischen Korrektheit anlegen.<\/p>\n

Sozialdemokratischer Altkanzler im Putin-Sprech<\/strong><\/h4>\n

Im Mai 2014 bestritt der fr\u00fchere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) in einem Zeitungsinterview, “dass es ein Volk der Ukrainer, eine nationale Identit\u00e4t” gebe. Drei Monate zuvor hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim milit\u00e4risch besetzt und sp\u00e4ter durch ein Scheinreferendum der Russischen F\u00f6deration einverleibt. Historiker mit osteurop\u00e4ischer Expertise warfen dem Altkanzler Unkenntnis der ukrainischen Geschichte vor.<\/p>\n

In den Turbulenzen der Oktoberrevolution 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik aus den ukrainischen Gebieten, die bis dahin zum Russischen Kaiserreich geh\u00f6rt hatten, gegr\u00fcndet. Im russischen B\u00fcrgerkrieg eroberten die Bolschewiki Kiew und l\u00f6sten den selbst\u00e4ndigen ukrainischen Staat auf. Er wurde als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion eingegliedert. Weil Lenin nationalistische Aufst\u00e4nde bef\u00fcrchtete, gab er der Ukraine den Status einer eigenen Sowjetrepublik. Bei der Gr\u00fcndung der Vereinten Nationen 1946 wurde die Ukraine auf Betreiben Stalins sogar als eigener Staat aufgenommen.<\/p>\n

Schmidts Leugnung historischer Fakten ist ein gutes Beispiel daf\u00fcr, wie selbst demokratische Politiker versucht sind, wegen aktueller Opportunit\u00e4ten die Geschichte zu verf\u00e4lschen.<\/p><\/blockquote>\n

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Als die Sowjetunion 1990 zerfiel, erkl\u00e4rte die Ukraine ihre Selbst\u00e4ndigkeit. 1991 best\u00e4tigten 90 Prozent der Ukrainer bei einer Volksabstimmung den Status als unabh\u00e4ngige Nation. Schmidts Leugnung historischer Fakten ist ein gutes Beispiel daf\u00fcr, wie selbst demokratische Politiker versucht sind, wegen aktueller Opportunit\u00e4ten die Geschichte zu verf\u00e4lschen. Schmidt wollte die Ostpolitik Willy Brandts verteidigen, der bei seinen Verhandlungen mit der Sowjetunion auch keine R\u00fccksicht auf die Interessen der kleinen Staaten an der \u00f6stlichen Peripherie Europas genommen hatte. Die Ukraine und Belarus kamen im Weltbild der Sozialdemokratie nicht vor, weil sie sich bei ihrer Ostpolitik immer nur mit Sowjet-Russland ins Benehmen setzte.<\/p>\n

Die Sowjetunion und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs<\/strong><\/h4>\n

Seit der Entspannungspolitik von Willy Brandt in den 1970er Jahren gilt die SPD als die deutsche Partei mit einem besonderen Verh\u00e4ltnis zu Russland. Manche Historiker sprechen von einer irrationalen Russlandliebe. In den zahlreichen Reden, die deutsche Sozialdemokraten \u2013 allen voran Frank-Walter Steinmeier \u2013 auf die deutsch-russische Freundschaft hielten, liessen sie ein Faktum stets ausser Acht, das man in den Geschichtsb\u00fcchern leicht finden kann: Die Sowjetunion war \u00fcber den Hitler-Stalin-Pakt von August 1939 an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs milit\u00e4risch beteiligt.<\/p>\n

Das geheime Zusatzprotokoll des Vertrags sah n\u00e4mlich vor, dass die kleineren Staaten zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich in Einflusszonen aufgeteilt werden. Als Hitler am 1. September 1939 Polen \u00fcberfiel, wartete Stalin noch 17 Tage, bis er seinerseits mit der Roten Armee von Osten her in Polen einmarschierte. An der Demarkationslinie der eroberten Gebiete feierten Wehrmacht und Rote Armee den gemeinsam errungenen Sieg.<\/p>\n

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Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen<\/figcaption><\/figure>\n

Dieses Faktum wird in der russischen Geschichtsschreibung bis heute schamhaft verschwiegen. Wenn es westliche Historiker zur Sprache bringen, wird es von Russland bestritten. Das ist zwar t\u00f6richt, weil die Dokumente jederzeit einsehbar sind. Die Geschichtsl\u00fcge ist aber notwendig, um die Legende von der Friedensmacht Sowjetunion aufrechterhalten zu k\u00f6nnen. Als indirektes Eingest\u00e4ndnis der Beteiligung am Kriegsausbruch kann man deuten, dass in der russischen Geschichtsschreibung der Grosse Vaterl\u00e4ndische Krieg erst mit dem Jahr 1941 beginnt.<\/p>\n

Auss\u00f6hnungspolitik nicht besch\u00e4digen<\/h4>\n

Die SPD hat in Bezug auf die Verstrickung der SU in den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine merkw\u00fcrdige Haltung eingenommen. Als g\u00e4be es ein Schweigegebot, wird der 17. September 1939, ein Datum, das in Polen jedes Schulkind kennt, in Reden niemals erw\u00e4hnt. Der Grund ist einfach. Die ganze Auss\u00f6hnungspolitik der SPD gegen\u00fcber Russland w\u00e4re besch\u00e4digt, wenn sie auch einem Aggressor gelten w\u00fcrde.<\/p>\n

Es r\u00e4cht sich, dass die SPD ihre Russlandpolitik bis heute nicht schonungslos aufgearbeitet hat. Dass in der Mitte Berlins am sowjetischen Ehrenmal zwei russische Panzer vom Typ T-34\/76 stehen, hat, wenn man die Aggressionsgeschichte Russlands kennt, einen makabren Beigeschmack. Mit solchen Panzern hat die Rote Armee Polen und Finnland \u00fcberfallen, sie werden heute auch noch im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt. Im sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park gibt es die Inschrift: “Im Juni 1941 \u00fcberfiel Hitlerdeutschland wortbr\u00fcchig unser Land in brutaler und niedertr\u00e4chtiger Weise”. Historisch getreu m\u00fcsste in den sowjetischen Gedenkst\u00e4tten zugleich daran erinnert werden, dass sich Stalins Sowjetunion an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beteiligte: Am 17. September 1939 \u00fcberfiel die Rote Armee Polen, am 30. November 1939 \u00fcberfiel sie Finnland.<\/p>\n

Christliches Kreuz abgeh\u00e4ngt<\/strong><\/h4>\n

Beim Aussenministertreffen der G7-Staaten im November 2022 in M\u00fcnster h\u00e4ngten die Beamten der gr\u00fcnen Aussenministerin Annalena Baerbock im Friedenssaal des Rathauses das Ratskreuz ab, weil sie den Teilnehmern, die sich nicht zum christlichen Glauben bekennen, nicht zumuten wollten, unter dem Kreuz zu tagen. Im Friedenssaal wurde 1648 der Friedensvertrag unterzeichnet, der dem 30-j\u00e4hrigen Gemetzel des Glaubenskrieges ein Ende setzte. Historiker bewerten den Westf\u00e4lischen Frieden als historischen Beitrag zu einer europ\u00e4ischen Friedensordnung gleichberechtigter Staaten.<\/p>\n

Der Vertrag habe eine Entwicklung in Gang gesetzt, die zur Herausbildung des modernen V\u00f6lkerrechts gef\u00fchrt habe. Der ausgerufene Religionsfriede sah zudem vor, dass die christlichen St\u00e4nde beider Konfessionen k\u00fcnftig auf die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele verzichten. Die Trennung von Staat und Religion, die zu unserer heutigen Staatsverfassung geh\u00f6rt, wurde damals auf den Weg gebracht.<\/p>\n

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Es ist geschichtsvergessen, zu leugnen, dass der Westf\u00e4lische Frieden unter dem christlichen Kreuz geschlossen wurde. Es gemahnt die Nachfahren bis heute, den kostbaren Frieden zu bewahren. “Das christliche Kreuz ist ein Zeichen der Vers\u00f6hnung”, unterstrich der M\u00fcnsteraner Oberb\u00fcrgermeister Marcus Lewe, der damals auf die Entfernung des Kreuzes mit Unverst\u00e4ndnis reagierte.<\/p>\n

Eine Pointe des Kreuz-Streites von M\u00fcnster liegt darin, dass die beiden christlichen Konfessionen mit ihrem Gewaltverzicht schon im 17. Jahrhundert einen Schritt getan haben, auf den wir beim Islam immer noch warten. In den meisten islamischen Staaten gilt der Islam als Staatsreligion, was eine Trennung von Staat und Gesellschaft unm\u00f6glich macht.<\/p>\n

Bismarck gecancelt<\/strong><\/h4>\n

Im Aussenministerium lie\u00df Baerbock das Bismarck-Zimmer in “Saal der Deutschen Einheit” umbenennen. Auch das Portrait des Kanzlers des (zweiten) Deutschen Reiches wurde abgeh\u00e4ngt. Die Umbenennung trage “der Tatsache Rechnung, dass das Ausw\u00e4rtige Amt seine Traditionslinie massgeblich in der demokratischen Geschichte Deutschlands verankert sieht”. Ohne Geschichtsvergessenheit geht es bei der gr\u00fcnen Aussenministerin nicht ab. Bismarck hat nicht nur die deutsche Einheit 1870\/71 bewirkt. Er ist auch der Sch\u00f6pfer der modernen Sozialgesetzgebung. Durch seine B\u00fcndnispolitik hat er Deutschland in Europa so verortet, dass es maximal abgesichert war. Eine so einseitige Abh\u00e4ngigkeit von einer Macht, wie es die BRD vom Energielieferanten Russland war, h\u00e4tte er nie zugelassen.<\/p>\n

Die Apologeten der Cancel Culture legen an Herrscher vergangener Zeiten die Messlatte heutiger Moral an, womit sie mit dem zentralen Axiom der Geschichtswissenschaft brechen, wonach man historische Ereignisse und Pers\u00f6nlichkeiten nur aus ihrer Zeit heraus verstehen kann.<\/p><\/blockquote>\n

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Das Deutsche Reich geriet erst auf die schiefe Bahn, als Bismarck von Kaiser Wilhelm II. entlassen wurde. Danach bestimmten Imponiergehabe und die Fahrl\u00e4ssigkeit eines Dilettanten die Aussenpolitik. Vielleicht liegt Baerbocks Aversion gegen\u00fcber Bismarck darin, dass seine Aussenpolitik strikte Interessenpolitik war, w\u00e4hrend die gr\u00fcne Aussenministerin einer “feministischen Au\u00dfenpolitik” den Vorzug gibt.<\/p>\n

Identit\u00e4tspolitik verhindert historische Einsichten<\/strong><\/h4>\n

Woher kommen solche Anfl\u00fcge von Geschichtsvergessenheit? Die Parteien des linken Spektrums sind beeinflusst von der Identit\u00e4tspolitik, die in den letzten Jahren den Weg aus dem angels\u00e4chsischen Raum nach Deutschland gefunden hat. Deren zentrale These besagt, dass es in den Gesellschaften der demokratischen Staaten einen “strukturellen Rassismus” gebe, der dazu diene, die kulturelle Hegemonie der weissen, patriarchalen Eliten aufrechtzuerhalten. Um die weisse Dominanz zu brechen, sei es legitim, die Opfergruppen gegen\u00fcber dem Mainstream der Gesellschaft zu bevorzugen.<\/p>\n

Die Identit\u00e4tspolitik macht auch vor historischen Pers\u00f6nlichkeiten nicht halt. Sie sollen aus dem kollektiven Ged\u00e4chtnis getilgt, ihre Denkmale aus dem \u00f6ffentlichen Raum entfernt werden. Die Apologeten der Cancel Culture legen an Herrscher vergangener Zeiten die Messlatte heutiger Moral an, womit sie mit dem zentralen Axiom der Geschichtswissenschaft brechen, wonach man historische Ereignisse und Pers\u00f6nlichkeiten nur aus ihrer Zeit heraus verstehen kann.<\/p>\n

Gef\u00e4hrdung unserer Erinnerungskultur<\/strong><\/h4>\n

Rechtsextremisten bek\u00e4mpften immer schon das in Deutschland gepflegte Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten, vor allem an die Millionen Juden, die im Holocaust fabrikm\u00e4ssig ermordet wurden. Sie sprechen von einem “irren Schuld-Kult”, dem die Deutschen in masochistischer Manier verfallen seien. Sie m\u00f6chten stattdessen die Glanztaten der Deutschen, gerne auch die Heldengeschichten aus ihren Kriegen, ins Zentrum r\u00fccken, um den Heranwachsenden Stolz auf ihr Deutschsein einzuimpfen.<\/p>\n

Die Turbulenzen nach dem Terror\u00fcberfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, die sich in Deutschland entluden, haben gezeigt, dass es in unserem Land noch weitere Gegner unserer Erinnerungskultur gibt: radikale Muslime und Linksextremisten.<\/p>\n

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Islamisten bek\u00e4mpfen das Holocaust-Gedenken, weil der Holocaust f\u00fcr die Deutschen eine wichtige Begr\u00fcndung f\u00fcr die Existenz des Staates Israel darstellt. Linksextremisten demonstrieren mit der Parole “Free Palestine from German Guilt”. Die Pal\u00e4stinenser sollen \u2013 so die Logik der Losung \u2013 nicht durch die deutsche Schuld am Holocaust in ihrem “gerechten Befreiungskampf” behindert werden. Untermauert wird diese Forderung durch die Theorie des Postkolonialismus, derzufolge Israel mit seiner Staatsgr\u00fcndung den Status als Opfer verloren habe und als “Kolonialstaat” selbst zum Unterdr\u00fccker geworden sei. Der Terrorakt der Hamas am 7. Oktober 2023 wird zum Widerstandsakt einer unterdr\u00fcckten Gesellschaft gegen eine weisse Kolonialmacht verkl\u00e4rt.<\/p>\n

Diese T\u00e4ter-Opfer-Umkehr ist bei jungen Menschen, die sich dem linken politischen Spektrum zuordnen, beliebt, weil sie psychische Entlastung bietet f\u00fcr die Verstrickung der Grosseltern in das Menschheitsverbrechen der Schoa. Dass AfD-Politiker \u00e4hnliche Parolen verk\u00fcnden (“Schluss mit dem Schuld-Kult”), st\u00f6rt die linken Intellektuellen nicht.<\/p>\n

Antisemitismus resultiert auch aus Unwissen<\/strong><\/h4>\n

Der Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat in Deutschland viele Muslime zu Freudenbekundungen veranlasst. Im Politik- und Geschichtsunterricht sahen sich Lehrkr\u00e4fte einer massiven Stimmungsmache arabischer und t\u00fcrkischer Sch\u00fcler gegen\u00fcber, die das Massaker an Zivilisten als “Notwehr” bezeichneten und Israel als “Kinderm\u00f6rderland” verunglimpften.<\/p>\n

In keinem Geschichtsbuch wird unmissverst\u00e4ndlich dargestellt, dass die Pal\u00e4stinenser ihr Schicksal selbst verschuldet haben, indem sie den ihnen 1947 von den Vereinten Nationen zugestandenen Staat abgelehnt haben.<\/p><\/blockquote>\n

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Dass Lehrer bei der Besprechung des Nahostkonflikts so sehr in die Defensive geraten sind, hat auch etwas damit zu tun, dass in der \u00f6ffentlichen Meinung und in Schulb\u00fcchern eine merkw\u00fcrdige \u00c4quidistanz zu Israel und den Pal\u00e4stinensern herrscht, die sich um die historischen Tatsachen herumdr\u00fcckt. In keinem Geschichtsbuch wird unmissverst\u00e4ndlich dargestellt, dass die Pal\u00e4stinenser ihr Schicksal selbst verschuldet haben, indem sie den ihnen 1947 von den Vereinten Nationen zugestandenen Staat abgelehnt haben. Stattdessen \u00fcberfielen die Armeen Jordaniens, Syriens, des Irak, \u00c4gyptens und Jordaniens den frisch gegr\u00fcndeten Staat Israel, um ihn \u2013 wie die arabischen Herrscher offen zugaben \u2013 von der Landkarte zu tilgen.<\/p>\n

Da Israel den Unabh\u00e4ngigkeitskrieg gewann, versuchten es die arabischen Staaten noch weitere Male: im Suezkrieg 1956, im Sechstagekrieg 1967 und im Jom-Kippur-Krieg 1973. Bis heute haben die pal\u00e4stinensischen F\u00fchrer das Existenzrecht Israels nicht anerkannt, bis heute tr\u00e4umen sie davon, “alle Juden ins Meer zu treiben”, wie es der \u00e4gyptische Staatspr\u00e4sident Gamal Abdel Nasser 1967 formulierte. Wenn Deutschland immer wieder betont, Israels Existenzrecht geh\u00f6re zur deutschen Staatsr\u00e4son, muss sich dieses Bekenntnis auch darin niederschlagen, dass wir in den Schulen und Hochschulen viel entschiedener als bisher \u00fcber die historischen Tatsachen aufkl\u00e4ren. Nur so k\u00f6nnen wir den Geschichtsl\u00fcgen der pal\u00e4stinensischen F\u00fchrer, die alle keine Demokraten sind, entgegentreten.<\/p>\n

Geschichtsunterricht in der Krise<\/strong><\/h4>\n

Dass der Geschichtsunterricht in der Krise ist, l\u00e4sst sich an den vielen Reformversuchen ablesen, die dieses wichtige Schulfach in den letzten Jahren hat \u00fcber sich ergehen lassen m\u00fcssen. Als zu Beginn der 2000er Jahre die Kompetenzorientierung des Fachunterrichts eingef\u00fchrt wurde, zeigte sich bald, dass dieses Fach, das wie kein anderes auf die Vermittlung von Faktenwissen angewiesen ist, unter dem Vorrang der Kompetenzen besonders litt. Viele Geschichtslehrer hielten die didaktischen Vorgaben f\u00fcr verfehlt und unterliefen sie in der Praxis.<\/p>\n

Fragw\u00fcrdig ist auch die Mode, in der Unterstufe der weiterf\u00fchrenden Schulen Geschichte nur noch im Verbund mit den benachbarten F\u00e4chern Sozialkunde (Politik) und Geografie zu unterrichten. Das neue Label heisst “Gesellschaftswissenschaften”. Eine Folge ist, dass Geschichte als das schwierigste der drei F\u00e4cher unter dem Zusammenschluss besonders leidet, zumal es oft von fachfremden Lehrkr\u00e4ften unterrichtet wird.<\/p>\n

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Einen Sturm der Entr\u00fcstung unter den Geschichtslehrern rief die Entscheidung der Berliner Schulverwaltung hervor, im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I das chronologisch-genetische Strukturierungsprinzip zugunsten von thematischen L\u00e4ngsschnitten aufzugeben. Die L\u00e4ngsschnitte sollten von heutigen, lebensweltlich wichtigen Fragestellungen ausgehen. Kritiker sahen die Gefahr darin, dass bei einem solchen Ansatz erst gar nicht versucht werde, geschichtliche Epochen aus sich selbst heraus zu verstehen.<\/p>\n

Mittelalterliche Lebensformen kann man nur verstehen, wenn man sich auf eine intensive Besch\u00e4ftigung mit der damaligen Gesellschaft einl\u00e4sst. Der Unterricht in L\u00e4ngsschnitten l\u00e4sst eine solche Intensit\u00e4t gar nicht zu.<\/p><\/blockquote>\n

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Ich habe nach diesem Prinzip die Themen “Migration” und “Armut und Reichtum” unterrichtet und feststellen m\u00fcssen, dass das von den Schulbuchverlagen angebotene Material dem \u00dcbel Vorschub leistet, historische Ereignisse mit der Elle heutiger Moral zu messen, was zu absurden Kurzschl\u00fcssen f\u00fchrt. Aber nat\u00fcrlich waren Bettelm\u00f6nche nicht deshalb arm, weil es im Mittelalter das B\u00fcrgergeld noch nicht gab, sondern weil sie diese Lebensform freiwillig gew\u00e4hlt hatten, um frei von weltlichen G\u00fctern Gott n\u00e4her zu sein. Mittelalterliche Lebensformen kann man nur verstehen, wenn man sich auf eine intensive Besch\u00e4ftigung mit der damaligen Gesellschaft einl\u00e4sst. Der Unterricht in L\u00e4ngsschnitten l\u00e4sst eine solche Intensit\u00e4t gar nicht zu.<\/p>\n

N\u00f6tig ist eine nationale Geschichtserz\u00e4hlung <\/strong><\/h4>\n

Alle aktuellen Lehrpl\u00e4ne vermeiden die Entscheidung, ob der Geschichtsunterricht einen Kanon von Wissensbest\u00e4nden vermitteln soll, der f\u00fcr Heranwachsende unverzichtbar ist. Die politischen Eliten unseres Landes schrecken davor zur\u00fcck, eine nationale Geschichtserz\u00e4hlung zu etablieren, wie sie in anderen L\u00e4ndern selbstverst\u00e4ndlich ist. Zu gross ist die Angst, das Narrativ k\u00f6nnte ins Nationalistische abgleiten und die b\u00f6sen Geister der Vergangenheit heraufbeschw\u00f6ren. Auch die Bundeszentrale f\u00fcr politische Bildung h\u00e4lt sich hier vornehm zur\u00fcck, obwohl die Vermittlung historischen Wissens zu ihrem Bildungsauftrag geh\u00f6rt, der vor allem darin besteht, das demokratische Bewusstsein zu festigen.<\/p>\n

Eine patriotische Einstellung der Deutschen ist auch 79 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nach Holocaust und Krieg, noch keinesfalls selbstverst\u00e4ndlich. Nur im Sport g\u00f6nnen wir uns eine kurzfristige patriotische Aufwallung, die nach dem Ende des Ereignisses schnell wieder verfliegt und einer affektiven N\u00fcchternheit Platz macht. Schwarz-rot-goldene Per\u00fccken und F\u00e4hnchen am Auto statt patriotischer Haltung.<\/p>\n

Verfassungspatriotismus als identifikatorische Magerkost<\/strong><\/h4>\n

Gerne wird darauf verwiesen, dass das von Dolf Sternberger und J\u00fcrgen Habermas entwickelte Konzept des Verfassungspatriotismus ausreiche, um Deutsche und Zuwanderer mit unserem Gemeinwesen zu vers\u00f6hnen. Der erste Artikel des Grundgesetzes ist zwar eine Perle, vor allem auch in seiner sprachlichen Pr\u00e4gnanz (“Die W\u00fcrde des Menschen ist unantastbar”), zur Identifikation mit einem Staatswesen tragen jedoch vor allem Narrative bei, die man emotional besetzen kann.<\/p>\n

Nur im Sport g\u00f6nnen wir uns eine kurzfristige patriotische Aufwallung, die nach dem Ende des Ereignisses schnell wieder verfliegt und einer affektiven N\u00fcchternheit Platz macht. Schwarz-rot-goldene Per\u00fccken und F\u00e4hnchen am Auto statt patriotischer Haltung.<\/p><\/blockquote>\n

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Autorit\u00e4re Staaten dieser Welt wissen um die Wirkung “nationaler Erz\u00e4hlungen” und nutzen sie intensiv zur Indoktrination ihrer V\u00f6lker. Sie scheuen auch vor Geschichtsklitterung oder vor offenem Revisionismus nicht zur\u00fcck, wie das Beispiel Russlands lehrt. Einer Demokratie w\u00e4re ein solches Verfahren nat\u00fcrlich unw\u00fcrdig. Einen aufgekl\u00e4rten Patriotismus hingegen k\u00f6nnte unser Land gerade dann, wenn es in seiner Zusammensetzung immer heterogener wird, gut vertragen.<\/p>\n

Angesichts der vielen Fremden, die in unser Land kommen, weil sie es sch\u00e4tzen, k\u00f6nnten wir uns guten Gewissens von der bei vielen kritischen Geistern verbreiteten “negativen Identifikation” mit Deutschland, die der Philosoph Hermann L\u00fcbbe “S\u00fcndenstolz” genannt hat, verabschieden und zu einer positiven Identifikation finden. Abiturientinnen, die als Ehrenamtliche in der Fl\u00fcchtlingshilfe t\u00e4tig waren, erz\u00e4hlten mir, dass sie w\u00e4hrend der Willkommenskultur zum ersten Mal erlebt h\u00e4tten, wie es sich anf\u00fchlt, “stolz auf unser Land zu sein”.<\/p>\n

Echter Patriotismus vertr\u00e4gt sich immer mit einer weltb\u00fcrgerlichen Gesinnung. Goethe schuf das Wort “Weltliteratur”. Als Kosmopolit war er stets offen f\u00fcr andere Kulturen, er lernte mehrere Sprachen und \u00f6ffnete sich in seinem Lyrik-Zyklus “West-\u00f6stlicher Divan” der damals fremden orientalischen Kultur. Gleichzeitig war er tief verwurzelt in der Geschichte deutscher Sprache und Kultur.<\/p>\n

Stationen der demokratischen Entwicklung als Orientierung<\/strong><\/h4>\n

Welche Geschichtserz\u00e4hlung w\u00e4re in unseren Schulen angebracht? In einer Zeit, in der die Demokratie immer aggressiver von autokratischen Herrschern und diktatorischen Staaten herausgefordert wird, b\u00f6te es sich an, die Ereignisse unserer Geschichte in den Mittelpunkt zu r\u00fccken, die die demokratische Identit\u00e4t unserer Nation begr\u00fcndeten. Jeder Sch\u00fcler, der die Schule verl\u00e4sst, sollte wissen, was sich 1813, 1817, 1832, 1848, 1918, 1944, 1948, 1953 und 1989 ereignet hat. Ein Geschichtsunterricht der Beliebigkeit und der vordergr\u00fcndigen Aktualisierung wird dazu f\u00fchren, dass das geschichtliche Bewusstsein der Sch\u00fcler noch weiter verk\u00fcmmert. Ein guter Geschichtsunterricht ist aber ein wichtiger Beitrag zur Festigung unserer Demokratie.<\/p>\n

In Zukunft werden Sch\u00fcler die Schule verlassen, denen ein fragw\u00fcrdiges Unterrichtskonzept den historischen Kompass f\u00fcr ihr Leben vorenth\u00e4lt. Man kann nur hoffen, dass ihnen \u00e4hnlich schmerzliche Lernprozesse wie den Generationen vor uns erspart bleiben.<\/p><\/blockquote>\n

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Von dem amerikanischen Philosophen spanischer Herkunft George Santayana (1863\u20131952) stammt der Satz “Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen”. In Zukunft werden Sch\u00fcler die Schule verlassen, denen ein fragw\u00fcrdiges Unterrichtskonzept den historischen Kompass f\u00fcr ihr Leben vorenth\u00e4lt. Man kann nur hoffen, dass ihnen \u00e4hnlich schmerzliche Lernprozesse wie den Generationen vor uns erspart bleiben.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er stellt im Cicero fest, dass die Sch\u00fcler gro\u00dfe historische Wissensl\u00fccken offenbaren. Weitere Vorw\u00fcrfe: Politiker verbiegen die Geschichte, wenn es ihnen opportun erscheint. Seine Forderung: Geschichtsunterricht sollte der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein und auch die demokratische Identit\u00e4t der Nation st\u00e4rken. <\/p>\n","protected":false},"author":5,"featured_media":16131,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[2005,291,392,2244,2246,1245,2243,2241,2245,2242,249],"coauthors":[1170],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/16130"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/5"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=16130"}],"version-history":[{"count":3,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/16130\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":16139,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/16130\/revisions\/16139"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/16131"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=16130"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=16130"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=16130"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=16130"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}