{"id":1329,"date":"2019-06-08T11:27:35","date_gmt":"2019-06-08T09:27:35","guid":{"rendered":"https:\/\/lvb.kdt-hosting.ch\/?p=1329"},"modified":"2019-06-08T11:27:35","modified_gmt":"2019-06-08T09:27:35","slug":"schulische-integration-auf-dem-rueckzug","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2019\/06\/schulische-integration-auf-dem-rueckzug\/","title":{"rendered":"Schulische Integration auf dem R\u00fcckzug"},"content":{"rendered":"

Vermehrt konnte man in den vergangenen Wochen lesen, dass die schulische Integration von behinderten Sch\u00fclern so nicht weitergef\u00fchrt werden k\u00f6nne. Als Grund werden vor allem die verhaltensauff\u00e4lligen Kinder und Jugendlichen genannt, die ihre Lehrkr\u00e4fte an den Rand der Belastbarkeit f\u00fchren \u2013 oder gar dar\u00fcber hinaus. Dies ist, aus meiner Sicht, eine fatale Argumentation, weil der \u00abSchwarze Peter\u00bb hier einer Gruppe von Kindern zugewiesen wird, die gar nichts f\u00fcr das Scheitern des Ansatzes k\u00f6nnen. Ausgeblendet wird, dass die schulische Integration behinderter Kinder \u2013 dies betrifft sowohl lern- als auch geistig behinderte Kinder \u2013 in der praktizierten Form gar nicht durchf\u00fchrbar ist. Unabh\u00e4ngig von der Frage, ob die Regelschule der komplexen Aufgabe, behinderte Kinder ad\u00e4quat zu f\u00f6rdern, \u00fcberhaupt gerecht werden kann und ob dies ihre Aufgabe ist, darf nicht vergessen werden, dass insbesondere der oft ins Feld gef\u00fchrte soziale Aspekt gar nicht zum Tragen kommt.<\/p>\n

\u00dcberforderung als Markenzeichen der Integration<\/strong><\/p>\n

Oft wird postuliert, wie \u00absch\u00f6n\u00bb es doch sei, wenn behinderte und nicht-behinderte Kinder und Jugendliche zusammenk\u00e4men. Und nat\u00fcrlich, dem ist zuzustimmen. Ob dies allerdings gerade in einem intellektuellen Raum des Lehrens und Lernens geschehen kann, erscheint mehr als fraglich. Wenn ein Sch\u00fcler Tag f\u00fcr Tag miterlebt, dass er grosse Teile des im Unterricht behandelten Stoffes nicht versteht, wird ihn das wohl kaum gl\u00fccklich machen. Die Zahlen von behinderten Sch\u00fclern, die in der Mittel- bzw. Oberstufe an eine Heilp\u00e4dagogische Sonderschule wechseln, legen hiervon beredtes Zeugnis ab. Insbesondere die soziale Austauschsituation \u00fcberfordert h\u00e4ufig behinderte genauso wie nicht-behinderte Kinder. An einer Primarschule im Kanton Z\u00fcrich habe ich beobachten k\u00f6nnen, wie der Lehrer mit den Regelsch\u00fclern heimlich \u2013 also ohne Wissen des behinderten Kindes \u2013 einen Begleit-\u00c4mtliplan aufgestellt hat, damit jeweils zwei Kinder sich eine Woche lang um den behinderten Mitsch\u00fcler k\u00fcmmern. Zuvor hatte dieser n\u00e4mlich wochenlang ganz alleine seine Pausen verbracht.<\/p>\n

Man wollte alles und hat nichts erreicht.<\/p><\/blockquote>\n

So eine Vorgehensweise ist gut gemeint, zeigt aber deutlich auf, dass eine solche (Schein-)Integration, die lediglich auf eine gemeinsam verbrachte Zeit hinausl\u00e4uft, wohl kaum den hohen Zielen, die sich die Bef\u00fcrworter auf ihre Fahnen geschrieben haben, gerecht werden kann. Dass nun gerade die verhaltensauff\u00e4lligen Sch\u00fcler daf\u00fcr herhalten m\u00fcssen, dieses Experiment zu beerdigen, macht die Sache nicht besser. Alternative Modelle, wie beispielsweise eine Teil-Integration oder gemeinsam durchgef\u00fchrte Projekte wie Lager, Zoo-Besuche oder vergleichbare M\u00f6glichkeiten, die Integration auf einem \u00absanfteren\u00bb Weg durchzuf\u00fchren, haben nie Anklang bei der Bildungsdirektion gefunden. Man wollte alles und hat nichts erreicht.<\/p>\n

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H\u00f6hlenwanderung einer Oberstufenklasse des OSZ-Orpund mit einer Lerngruppe der heilp\u00e4dagogischen Tagesschule in Biel. Foto: api<\/figcaption><\/figure>\n

Erh\u00f6hte Anzahl an Teilpensen als Reaktion der Lehrerschaft<\/strong><\/p>\n

Zu guter Letzt soll noch auf einen Widerspruch hingewiesen werden, der im Zusammenhang mit der Misere steht. Die Bildungsdirektion in Z\u00fcrich strebt an, die Teilpensen an Schulen zu reduzieren, um dem zunehmenden Lehrermangel Herr zu werden. Wie das umgesetzt werden soll, ist nicht bekannt. Denn gerade die heutige Integrationspraxis ist massgeblich daf\u00fcr verantwortlich, dass die Teilpensen \u00fcppig ins Kraut geschossen sind. Viele der Heilp\u00e4dagoginnen, die in mehreren Klassen die stundenweise Begleitung behinderter Kinder sicherstellen und sich immer wieder auf neue Situationen und Kooperationen einstellen m\u00fcssen, arbeiten n\u00e4mlich Teilzeit. Diverse Gemeinden haben l\u00e4ngst damit begonnen, kleine Klassen einzurichten, die den fr\u00fcheren Kleinklassen in auffallender Weise gleichen \u2013 nur dass diese nicht von Heilp\u00e4dagogen gef\u00fchrt werden, sondern von nicht dazu ausgebildeten Oberstufenlehrkr\u00e4ften. Dass andererseits viele verhaltensauff\u00e4llige Sch\u00fcler umgeteilt werden auf Heilp\u00e4dagogische Sonderschulen, die aber inzwischen auf Sch\u00fcler mit einer geistigen Behinderung ausgerichtet sind, zeigt deutlich die \u00dcberforderung s\u00e4mtlicher Stellen, die sich mit dieser sogenannten Integration, die eben keine ist, auseinandersetzen m\u00fcssen. Die Frage ist nun: Wie kommen die verantwortlichen Stellen ohne Gesichtsverlust aus dieser Nummer wieder heraus? Es w\u00e4re ehrlich und notwendig zugleich, wenn man zugeben w\u00fcrde, dass man a) es versucht und b) sich geirrt habe.<\/p>\n

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Zum Autor:<\/em><\/strong><\/p>\n

Riccardo Bonfranchi ist promovierter Heilp\u00e4dagoge, Ethiker, Supervisor in sozialp\u00e4dagogischen Institutionen.<\/em><\/p>\n

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Schulische Integration von behinderten Sch\u00fclern k\u00f6nne so nicht weitergef\u00fchrt werden. Als Grund werden vor allem die verhaltensauff\u00e4lligen Kinder und Jugendlichen genannt, die ihre Lehrkr\u00e4fte an den Rand der Belastbarkeit f\u00fchren. Condorcet-Autor Riccardo Bonfranchi h\u00e4lt dies f\u00fcr eine fatale Argumentation, weil der \u00abSchwarze Peter\u00bb hier einer Gruppe von Kindern zugewiesen wird.<\/p>\n","protected":false},"author":21,"featured_media":1330,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[66,63,128],"coauthors":[],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1329"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/21"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=1329"}],"version-history":[{"count":1,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1329\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":1332,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/1329\/revisions\/1332"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/1330"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=1329"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=1329"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=1329"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=1329"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}