{"id":12482,"date":"2022-12-04T18:09:47","date_gmt":"2022-12-04T17:09:47","guid":{"rendered":"https:\/\/condorcet.ch\/?p=12482"},"modified":"2022-12-04T18:09:47","modified_gmt":"2022-12-04T17:09:47","slug":"sprachnotstand-an-den-unis-jetzt-koennen-sogar-studierende-nicht-mehr-richtig-deutsch","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/condorcet.ch\/2022\/12\/sprachnotstand-an-den-unis-jetzt-koennen-sogar-studierende-nicht-mehr-richtig-deutsch\/","title":{"rendered":"Sprachnotstand an den Unis? Jetzt k\u00f6nnen sogar Studierende nicht mehr richtig Deutsch"},"content":{"rendered":"
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Nadja Pastega, studierte Germanistin und Historikerin, arbeitet f\u00fcr den Nachrichten- und Hintergrundbund \u00abFokus\u00bb der SonntagsZeitung.<\/figcaption><\/figure>\n

Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich, muss zum Rotstift greifen. Schon wieder. Vor ihm liegen die schriftlichen Arbeiten von Jus-Studierenden im dritten Semester, soeben eingetrudelt, nach einer Frist von etwa acht Wochen. Bereits beim zweiten Text kommentiert Griffel: \u00abZahllose elementare Orthografie-, Grammatik- und Kommafehler! Satzbau und Formulierungen \u00fcberwiegend ungelenk bis fehlerhaft.\u00bb Sein Rat an den Verfasser: \u00abArbeiten Sie daran! In einem juristischen Beruf werden Sie so nicht t\u00e4tig sein k\u00f6nnen.\u00bb<\/p>\n

Klagen \u00fcber das sinkende Niveau bei Jung-Akademikern gibt es seit langem. Das weiss auch Griffel. Er liest und beurteilt seit 35 Jahren Texte von Studierenden der Rechtswissenschaften. Sein Eindruck ist klar: Die Schreibkompetenz hat \u00abinsgesamt abgenommen, und zwar massiv. Wir bewegen uns heute sprachlich zwei Etagen tiefer \u2013 gewissermassen im Untergeschoss.\u00bb Sprachliche Eleganz und Leichtigkeit? K\u00f6nne man oft vergessen.<\/p>\n

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Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universit\u00e4t Z\u00fcrich<\/figcaption><\/figure>\n
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\u00abDie Schreibkompetenz hat insgesamt abgenommen, und zwar massiv. Wir bewegen uns heute sprachlich gewissermassen im Untergeschoss\u00bb<\/p>\n

Rechtsprofessor Alain Griffel\u00a0<\/em><\/p>\n<\/blockquote>\n

Auch Marianne Heer kennt das Sprachdebakel. \u00abDie schriftliche Ausdrucksweise hat an Qualit\u00e4t eingeb\u00fcsst\u00bb, sagt die ehemalige Oberrichterin. Sie ist langj\u00e4hriges Mitglied der Luzerner Anwaltspr\u00fcfungskommission und Lehrbeauftragte an den Universit\u00e4ten Bern und Freiburg.<\/p>\n

Orthografie, Kommaregeln, Satzlogik \u2013 schlicht inexistent<\/strong><\/p>\n

An Ausdr\u00fccke wie \u00abmega\u00bb oder \u00abwoke\u00bb hat sich Heer l\u00e4ngst gew\u00f6hnt. Die Sprache sei schliesslich st\u00e4ndig im Wandel. \u00abWas ich aber negativ beurteile, sind die stilistischen Fehler und die mangelnden Orthografiekenntnisse.\u00bb Und die, sagt Heer, seien zum Teil \u00abkrass\u00bb.<\/p>\n

Beim Korrigieren von Arbeiten an der Uni Freiburg fragte sie sich einmal, ob es sich beim Autor um einen Studenten handelt, der franz\u00f6sischsprachig aufgewachsen sei. Sie nahm die n\u00e4chsten Arbeiten vom Stapel. Nach etwa zehn fehlerhaften Texten wurde sie stutzig: \u00abSo viele Romands sassen gar nicht im Raum\u00bb, sagt Heer. Sie schaute auf den Deckbl\u00e4ttern mit den pers\u00f6nlichen Angaben nach \u2013 Muttersprache: Deutsch.<\/p>\n

Auch an anderen Hochschulen entlocken schriftliche Arbeiten den Dozierenden einen resignierten Seufzer. Diese Orthografie! Schlecht. Kommaregeln! Praktisch inexistent. Satzlogik? Ganze Passagen in studentischen Arbeiten schlicht unverst\u00e4ndlich.<\/p>\n

Und das nicht nur bei den angehenden Juristen. Manche Naturwissenschaftler seien heute ebenfalls nicht mehr in der Lage, auf Deutsch auszudr\u00fccken, was sie eigentlich herausgefunden h\u00e4tten, wird an Hochschulen berichtet. Damit sei auch hier ein kritischer Punkt erreicht.<\/p>\n

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Marianne Heer,\u00a0Staatsanw\u00e4ltin und ehemalige Oberstaatsanw\u00e4ltin im Kanton Luzern<\/figcaption><\/figure>\n

Sogar bei den Nachwuchs-Germanisten, die sich der deutschen Sprache verschrieben haben und von denen einige sp\u00e4ter an Gymnasien unterrichten werden, zeigen sich Defizite. Die jungen Leute seien zwar \u00abdurchaus sprachsensibel, vielleicht mehr als fr\u00fchere Generationen\u00bb, ihr \u00abSprachbem\u00fchen\u00bb richte sich auf \u00abdie Vermeidung diskriminierender oder ausgrenzender Bezeichnungen\u00bb, sagt Professor Nicolas Detering, Direktor des Instituts f\u00fcr Germanistik an der Universit\u00e4t Bern. \u00abAllerdings beherrschen nicht alle die Interpunktionsregeln, wie sich an den Seminar- und Abschlussarbeiten, die wir zu korrigieren haben, feststellen l\u00e4sst.\u00bb\u00a0Auch im Ausdruck und in der Grammatik seien \u00abSchw\u00e4chen zu konstatieren\u00bb.\u00a0Derzeit, so Detering, erw\u00e4ge man, am Institut \u00abk\u00fcnftig Fortbildungen f\u00fcr Deutschlehrpersonen anzubieten\u00bb.<\/p>\n

Bereits an den Primarschulen w\u00fcrden heutzutage weniger schriftliche Arbeiten verlangt, nur noch selten l\u00e4ngere Texte verfasst.<\/p><\/blockquote>\n

Wie konnte es so weit kommen, dass die vermeintliche Elite des Landes grundlegende Deutschregeln nicht mehr beherrscht? Andreas G\u00fcngerich, Pr\u00e4sident des Berner Anwaltsverbands, glaubt den Grund f\u00fcr die \u00aboft nicht befriedigenden Deutschkenntnisse\u00bb zu kennen: \u00abAn den Gymnasien wird sehr viel gelesen und diskutiert, aber die Ausdrucksweise und die Grammatik werden nicht gen\u00fcgend geschult.\u00bb<\/p>\n

Das f\u00e4ngt nicht erst im Gymi an. Yasmine Bourgeois, Schulleiterin an einer Primarschule in Z\u00fcrich, \u00fcberraschen die Deutschm\u00e4ngel an den Hochschulen nicht. Bereits an den Primarschulen w\u00fcrden heutzutage weniger schriftliche Arbeiten verlangt, nur noch selten l\u00e4ngere Texte verfasst, Diktate seien bei vielen P\u00e4dagogen verp\u00f6nt, \u00abund Rechtschreibfehler werden oft auch auf der Mittelstufe, also in der vierten bis sechsten Klasse, nicht alle immer korrigiert, um die Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fcler nicht zu frustrieren\u00bb, sagt Bourgeois. Auch korrektes Abschreiben von Texten ist an den P\u00e4dagogischen Hochschulen ausser Mode. \u00abLieber verteilt man Kopien und Lehrmittel, bei denen gerade mal L\u00fccken ausgef\u00fcllt werden m\u00fcssen. So werden viele Lerngelegenheiten verpasst.\u00bb<\/p>\n

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\u00abWir ben\u00fctzen die Sprache nicht als saloppes Alltagswerkzeug wie in E-Mails oder Facebook, sondern als filigranes Arbeitsinstrument.\u00bb<\/p>\n

Rechtsprofessor Alain Griffel<\/em><\/p><\/blockquote>\n

Wie gibt man gegen die Grammatik-Gr\u00e4uel Gegensteuer? An den Gymnasien m\u00fcssen Sch\u00fclerinnen und Sch\u00fcler, die in Grundlagenf\u00e4chern wie Deutsch Defizite haben, neu St\u00fctzkurse besuchen und regelm\u00e4ssig \u00abKompetenznachweise\u00bb erbringen, sagt Detering vom Germanistik-Institut in Bern. \u00abOb diese Massnahmen etwas bringen, wird sich in ein, zwei Jahren zeigen.\u00bb<\/p>\n

Programme gegen Schlecht- statt Rechtschreibung bieten inzwischen auch die Hochschulen \u2013 mit Schreibkursen f\u00fcr Uni-Neueinsteiger. Bei Jus-Studierenden an der Uni Z\u00fcrich sind sie zum Teil obligatorisch.<\/p>\n

\u00abDie Sprache ist unser wichtigstes Arbeitsinstrument\u00bb, sagt Rechtsprofessor Alain Griffel, der die Kurse aufgegleist hat. \u00abWir ben\u00fctzen die Sprache nicht als saloppes Alltagswerkzeug wie in E-Mails oder Facebook, sondern als filigranes Arbeitsinstrument. Auch ein Chirurg greift zum Skalpell \u2013 und nicht zum Brotmesser.\u00bb<\/p>\n

Als Grund f\u00fcr das Deutschdebakel wird unter anderem die Verbreitung der sozialen Medien vermutet. Einen Zusammenhang konnten Studien bisher nicht nachweisen. Vielleicht ist es auch viel einfacher: \u00abViele Lehrpersonen beherrschen heute die Grammatik schlicht selbst nicht mehr\u00bb, sagt Griffel. \u00abWie sollen sie es dann anderen beibringen?\u00bb<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Schlecht- statt Rechtschreibung: Hochschuldozierende klagen \u00fcber einen zum Teil abenteuerlichen Umgang mit der deutschen Sprache in studentischen Arbeiten. Vernachl\u00e4ssigen die Schulen den Deutschunterricht? Wir bringen einen Gastkommentar von Nadja Pastetga, Journalistin bei der Sonntagszeitung. <\/p>\n","protected":false},"author":28,"featured_media":12497,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_acf_changed":false,"footnotes":""},"categories":[1],"tags":[],"coauthors":[1171],"acf":[],"aioseo_notices":[],"post_mailing_queue_ids":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12482"}],"collection":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/users\/28"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=12482"}],"version-history":[{"count":5,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12482\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":12506,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/12482\/revisions\/12506"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media\/12497"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=12482"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=12482"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=12482"},{"taxonomy":"author","embeddable":true,"href":"https:\/\/condorcet.ch\/wp-json\/wp\/v2\/coauthors?post=12482"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}