Zeit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 12 Aug 2023 20:19:41 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Zeit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Von der «Windstille der Seele» https://condorcet.ch/2023/08/von-der-windstille-der-seele/ https://condorcet.ch/2023/08/von-der-windstille-der-seele/#respond Fri, 11 Aug 2023 10:51:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=14787

Ferienzeit als erholsamer Kontrast zum hektischen Alltag: Viele meiden darum Flugzeug und Auto und ziehen zu Fuss los – wie die Flaneure von einst: gemächlich unterwegs sein und dabei die Seele baumeln lassen. Eine kleine literarische Spurensuche von Condorcet-Autor Carl Bossard.

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Heute muss ja alles schnell gehen. Für vieles haben wir zu wenig Zeit. Im Kleinen und im Grossen, selbst im Pädagogischen. Wir alle erfahren unsere Epoche als dynamisches Gebilde. Tempo, Rasanz, Non-Stopp sind ihre Merkmale. Das bringt uns in Atemnot. «Le temps mange la vie», hat der französische Dichter Charles Baudelaire in einem Gedicht geschrieben. Ein lapidarer Satz. Die Zeit zehrt das Leben auf. Von «Zeitfressern» erzählt auch MOMO, die struppige kleine Heldin im geheimnisvollen Märchen-Roman von Michael Ende.

Carl Bossard: Dem Denken Raum geben.

«Hier stösst die Eile auf Zeit.»

Sich Zeit nehmen für die Zeit. Das leisten sich in den Sommertagen viele; vielleicht leben sie nach der Devise: «Hier stösst die Eile auf Zeit.» Ein wunderbares Motiv! Es leuchtet eingraviert über dem Eingangstürchen einer kleinen, schmucken Bergkapelle. Die Botschaft: An diesem stillen Ort in den Alpen triff die Hektik auf das Verweilen, der Druck auf das Entschleunigen.

Vielleicht ist es eine Art «Windstille der Seele». Davon hat der Philosoph Friedrich Nietzsche gesprochen – droben in Sils-Maria. Auf seinen ausgedehnten Spaziergängen im Oberengadin fand und empfand er diese «Windstille der Seele». Zu Fuss hält eben auch die Seele Schritt. So erstaunt es nicht, dass Nietzsche das Gehen mit dem Denken und dem Kreativen verband. Viele seiner Ideen und seiner aphoristisch verdichteten Gedanken kamen ihm beim Gehen am Engadiner Silsersee. Migrantes Denken sozusagen – im Anklang an die griechischen Peripatetiker. Darum sein Rat: «So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.»[i]

 

Friedrich Nietzsche: Zu Fuss hält eben auch die Seele Schritt.

«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen»

Gleichzeitig erinnert Nietzsche an den Komponisten Ludwig von Beethoven; «[er] componierte gehend. Alle genialen Augenblicke sind von einem Überschluss an Muskelkraft begleitet», schreibt er. Darum sein bedenkenwerter Nachsatz: «Oh wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig!» Und Nietzsches Fazit: «Das geklemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verräth.»[ii]

 

«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen», soll Jean-Jacques Rousseau gesagt haben. Der Kopf braucht Bodenkontakt; den bekommt er durch die Füsse. Vielleicht erfahren wir darum die Welt intensiver, wenn wir das Geistige mit den Sinnen durchdringen. Wenn wir die Natur ergehen. Gehen war schon immer mit Erforschen, Erfahren, Erkunden verbunden. Neue Perspektiven, veränderte Weltsichten.

Dem Denken Raum geben und Raum für Gedanken finden – als Ergebnis vergnügter Langsamkeit.

Dem Denken Raum geben

Wer in Goethes Berichten über seine drei Schweizer Reisen liest, ist erstaunt, wie viele Einsichten Goethe in dieser kurzen Zeit gewonnen hat, wie viele Sichten er wahrgenommen, was er in sich aufgenommen und nach Stunden aufgeschrieben oder diktiert hat. Er hat unser Land im wahrsten Sinne des Wortes «ergangen». Seine Gedanken sind darum Ge[h]danken.

Dazu brauchte Goethe eines: Dem Denken Raum geben und Raum für Gedanken finden – als Ergebnis vergnügter Langsamkeit. Später hat er dann er mit der Industrialisierung die «veloziferische – die teuflische – Beschleunigung» erlebt und in den «Wahlverwandtschaften» dagegen angeschrieben. Vielleicht ahnte Goethe, dass mit der beginnenden Zivilisationsdynamik auch die Zeit gefährdet war.

Joseph von Eichendorff: Sie waren unterwegs und konnten ihre Seele baumeln lassen.

«Unterwegssein ist alles.»

Zeit, das hatten die Flaneure der Romantik, beschrieben in der berühmten Novelle «Aus dem Leben eines Taugenichts» von Joseph von Eichendorff. Sie hatten Musse, die Flaneure, die faulen Burschen der Volkslieder, die Vagabunden, die gemächlich und gemütlich von einer Mühle zu andern zogen und unter freiem Himmel schliefen. Ihr Motto: nicht rennen, sondern flanieren – nicht sputen, lieber spazieren – nicht hetzen, vielmehr bummeln. Sie waren unterwegs und konnten ihre Seele baumeln lassen.

«Paris ist nichts, Basel ist nichts, Unterwegssein ist alles!» So sah es auch Arnold Kübler, Gründer des Kulturmagazins DU, im Buch «Paris – Bâle à pied». Das Unterwegssein als Metapher fürs Leben, die Pilgerreise als Bild für den Homo Viator. Nicht im Ankommen liege das Glück, nein, im Aufbrechen, rubrizierte der kluge Kolumnist Kübler, im Weiterziehen und Unterwegssein.

«Ich habe Zeit!»

Wer unterwegs ist, hat Zeit – vielleicht sogar in Fülle. Oder er nimmt sich mindestens Zeit. Darum sei dies auch der Gruss der Philosophen: «Lass dir Zeit!» So postulierte es Ludwig Wittgenstein. Und vielleicht gilt darum – mindestens – für die Sommertage der Leitgedanke: «Ich habe Zeit!» Möglicherweise liegt darin auch der Sinn von Karl Valentins tiefgründigem Bonmot: «Heut b’suëch i mi! Hoffentlich bin i z’Haus!»

 

[i] Friedrich Nietzsche (2000), Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 47.

[ii] Ebda.

 

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Die Zeit macht Erziehung und Unterricht unberechenbar https://condorcet.ch/2021/03/die-zeit-macht-erziehung-und-unterricht-unberechenbar/ https://condorcet.ch/2021/03/die-zeit-macht-erziehung-und-unterricht-unberechenbar/#respond Tue, 23 Mar 2021 20:09:59 +0000 https://condorcet.ch/?p=8083

Unterricht und Lernen detailliert zu planen, birgt die Gefahr, die Offenheit der Zukunft zu verbannen. Condorcet-Autor Walter Herzog mahnt uns in seinem Beitrag, die Wirkungserwartungen an unser pädagogisches Handeln zu mässigen.

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Walter Herzog: Wirkungserwartungen von phantastischen Ausmassen.

Die Sprache, in der wir über Erziehung und Unterricht reden, ist reich an Bildern, die Erwartungen wecken, die uns leicht in die Irre führen. Handwerkliche, technische und gestalterische Metaphern wie Formung, Einwirkung, Übertragung oder Aufbau suggerieren, pädagogische Prozesse liessen sich planen und mit kalkulierbarer Sicherheit zum Ziel führen. Eine Bau- und Wegmetaphorik lässt das pädagogische Handeln als kontrollierbare Bewegung im Raum erscheinen. Daraus ergeben sich Wirkungserwartungen von phantastischem Ausmass. Familie und Schule scheinen zu Leistungen fähig zu sein, die sich am Massstab von industriellen Fertigungsprozessen messen lassen.

Irreführende Raummetaphorik

Besonders irreführend ist die Raummetaphorik, weil sie den Eindruck erweckt, Erziehung und Unterricht liessen sich in ihrem Verlauf von Anfang bis Ende überblicken. Ausgeblendet wird der zeitliche Charakter von Lehren und Lernen. Das Aufwachsen eines Kindes ist ein langwieriger Prozess, den im Voraus niemand zu kalkulieren vermag. Das Handeln von Eltern und Lehrpersonen folgt nicht einer räumlichen, sondern einer zeitlichen Logik, die den Handlungserfolg nur bedingt vorhersagen lässt. Erziehung und Unterricht sind wechselhafte und unstetige Phänomene, die missverstanden werden, wenn wir sie einer Raum­ und Blickmetaphorik unterwerfen.

Da wir die gelebte Zeit nicht zu überblicken vermögen, können wir immer nur vermuten, aber nie wissen, was uns die Zukunft bringen wird.

Erziehung und Unterricht zeitgemäss zu denken, ist allerdings nicht einfach. Denn auch von der Zeit haben wir eine räumliche Auffassung. Die Zeit unserer Uhren ist eine verräumlichte Zeit, die wir der Linearisierung unserer Erfahrung verdanken. Als metrische Zeit ist sie nicht gelebte, sondern berechnete Zeit. Soll die Zeit für das Verständnis pädagogischer Prozesse fruchtbar gemacht werden, muss sie daher als modale Zeit begriffen werden. Die modale Zeit beruht nicht auf einem kontinuierlichen und homogenen Fliessen, sondern gliedert sich in qualitativ differente Zonen, die wir nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden. In ihrer dreifachen Differenzierung entzieht sich die modale Zeit der synoptischen Gesamtschau. Da wir die gelebte Zeit nicht zu überblicken vermögen, können wir immer nur vermuten, aber nie wissen, was uns die Zukunft bringen wird.

Ohne Zukunft keine Sozialität

 

Die soziale Dynamik wird ausgeblendet.

Es ist die Offenheit der Zukunft, die wir von uns fernhalten, wenn wir unterstellen, Erziehung und Unterricht liessen sich überschauen und planen. Zu ungewiss, zu instabil und zu riskant scheint uns eine Wirklichkeit zu sein, die wir nicht zu beherrschen vermögen. Doch mit dem Ausschluss der modalen Zeit geht auch die Sozialität pädagogischer Prozesse verloren. Die Interaktionen, die sich zwischen Erziehenden und Zu-Erziehenden, Lehrenden und Lernenden abspielen, können durch Raum- und Blickmetaphern nicht erfasst werden, da diese immer nur den Standpunkt einer Seite zur Darstellung bringen. Die soziale Dynamik, die Erziehung und Unterricht zugrunde liegt, wird ausgeblendet, wenn wir die pädagogische Wirklichkeit auf ihre räumlichen Aspekte reduzieren.

Diese Ungewissheit ist grundsätzlich nicht beherrschbar, auch nicht mittels koerziver Techniken der Sozialintegration wie Macht, Gewalt, Unterdrückung oder Strafe.

Die Interaktionen in Familie und Schule führen zu unüberschaubaren Abläufen, die mit hoher Ungewissheit verbunden sind. Diese Ungewissheit ist grundsätzlich nicht beherrschbar, auch nicht mittels koerziver Techniken der Sozialintegration wie Macht, Gewalt, Unterdrückung oder Strafe. Gefragt sind vielmehr Medien der Gestaltung von sozialer Ordnung, die dem zeitlichen Charakter pädagogischer Wirklichkeit gerecht werden.

Unüberschaubare Abläufe, hohe Unsicherheit.

Sozialität und Gegenseitigkeit

Solche Medien liegen in Interaktionsformen vor, die eine reziproke Struktur aufweisen. Im Unterschied zu komplementären Beziehungen, die auf statischen Entsprechungen beruhen – wie Käufer und Verkäufer oder Täter und Opfer –, bilden reziproke Beziehungen dynamische Muster, deren Seiten ständig wechseln. Das gilt beispielsweise für Gespräche, Begegnungen oder Spiele. Es gilt auch für abstraktere Medien der Sozialintegration wie Vertrauen und Anerkennung. In allen diesen Fällen ist nicht vorhersehbar, was die Zukunft bringen wird – wie das Gespräch ausgehen wird, welchen Verlauf die Begegnung nehmen wird, wann das Spiel enden wird, ob das Vertrauen oder der Respekt von der Gegenseite erwidert werden.

Wir müssen bereit sein, auch die Unberechenbarkeit von Erziehung und Unterricht anzuerkennen und die Wirkungserwartungen an unser pädagogisches Handeln zu mässigen.

Aber genau solche reziproken Formen der Interaktion sind es, die pädagogisches Handeln überhaupt möglich machen. Das kann uns nur bewusst werden, wenn wir die räumliche Metaphorik, in der wir über Bildung und Erziehung reden, relativieren. In einer zum überschaubaren Raum erstarrten Welt gibt es keine Gegenseitigkeit. Nur in der Perspektive der modalen Zeit kann die Sozialität pädagogischer Prozesse begriffen werden. Dann aber müssen wir bereit sein, auch die Unberechenbarkeit von Erziehung und Unterricht anzuerkennen und die Wirkungserwartungen an unser pädagogisches Handeln zu mässigen.

 

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