Sklaverei - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 25 Nov 2020 14:10:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Sklaverei - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Reinste Ressentimentforschung https://condorcet.ch/2020/11/reinste-ressentimentforschung/ https://condorcet.ch/2020/11/reinste-ressentimentforschung/#comments Wed, 25 Nov 2020 12:54:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=7045

Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz hat sich mit dem Vorwurf der beiden Rassismus-Expertinnen auseinandergesetzt. Mit den kritisierten Lehrmitteln hat er selber unterrichtet und kann die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Seiner Meinung nach liegen die Probleme ganz woanders.

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Hanspeter Amstutz: Das Problem liegt im Abbau des Geschichtsunterrichts. Bild: Fabü

Es ist schon ein starkes Stück, wenn zwei Rassismus-Expertinnen den Schweizer Lehrmittelverlagen vorwerfen,  unsere Lehrmittel seien im Kern rassistisch. Man fragt sich, aufgrund welcher Kriterien ein solch vernichtendes Urteil entstanden ist. Ich kenne mich bei den Unterrichtsmaterialien des Zürcher Lehrmittelverlags einigermassen aus und teile  nicht den Eindruck, die Darstellungen über die himmeltraurige Geschichte der Sklaverei oder über afrikanische Kulturen seien rassistisch gefärbt.

Ungeschminkte Darstellung

Das von den beiden Autorinnen kritisierte Lehrmittel „Durch Geschichte zur Gegenwart“ setzt sich eingehend mit dem Kolonialismus der europäischen Grossmächte im 19. Jahrhundert auseinander. Die Lehrmittelautoren zeigen eine ungeschminkte Darstellung des imperialen Zeitgeists in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist eine fokussierte Zusammenfassung, die in Form von bearbeiteten Quellentexten die Überheblichkeit und Menschenverachtung eines Cecil Rhodes und anderer Kolonialherren festhalten. Wer sich mit seiner Klasse vertieft mit dem Schicksal afrikanischer Sklaven befassen will, findet eindrückliche Schilderungen im Nachfolge-Lehrmittel „Gesellschaften im Wandel“ und in ausgezeichneten Klassenlektüren.

Im scharf kritisierte Lehrmittel wird der Versuch gewagt, aufschlussreiche Begründungen für die damalige Selbstverständlichkeit des Kolonialismus zu finden.

Aufschlussreiche Begründungen für Denkmuster

Ein Geschichtslehrmittel hat die Funktion, die Denkmuster und die Werthaltungen einer Epoche aufzuzeigen. Die aus heutiger Sicht fast unerträgliche Überheblichkeit der europäischen Grossmächte in der imperialen Epoche um 1900 soll nicht schöngeredet werden. Die führenden Politiker nutzten die militärische, wirtschaftliche und technische Überlegenheit ihrer Nationen gegenüber den Afrikanern oft schonungslos aus. Im scharf kritisierten Lehrmittel wird der Versuch gewagt, aufschlussreiche Begründungen für die damalige Selbstverständlichkeit des Kolonialismus zu finden. Das gelingt nicht schlecht. Die SchülerInnen merken sehr bald, dass jede Kolonialmacht ihre wirtschaftlichen Interessen an die erste Stelle setzte und afrikanische Kulturen als minderwertig betrachtet wurden.

Reichhaltige Texte

Die Industrialisierung kannte auch eine Art Sklaverei

Es wäre naiv zu glauben, diese Realpolitik ausklammern zu können. Tendenziös wäre es hingegen, wenn das Schicksal der gedemütigten Sklaven nicht ebenso ausführlich im Unterricht zur Sprache käme. Eine Vertiefung des Themas der menschlichen Unterdrückung führt unweigerlich über den  Rassismus gegenüber Andersfarbigen hinaus. Man muss nicht in die Ferne schweifen, um in die Abgründe der Misshandlung von Menschen blicken zu können. Im 19. Jahrhundert stand auch in unserer Textilindustrie ein sklavenähnliches Proletariat in den stickigen Räumen der Spinnereien und schuftete über zwölf Stunden am Tag. Die kritisierten Lehrmittel enthalten eine ganze Reihe erschütternder Berichte über die Kinderarbeit in den Fabriken und über die ausgebeutete Arbeiterklasse. Die Texte sind so reichhaltig, dass sie sich bestens als Vorbereitungsstoff für Schülervorträge eignen.

Sie führen Schritt für Schritt die jugendlichen Leserinnen und Leser weiter und schildern, wie sich die Unterdrückten organisieren und in Gewerkschaften zusammenschliessen.

Besticht durch ungeschminkte Darstellungen

Die kritisierten Lehrmittel bleiben aber nicht beim Unerträglichen stehen. Sie führen Schritt für Schritt die jugendlichen Leserinnen und Leser weiter und schildern, wie sich die Unterdrückten organisieren und in Gewerkschaften zusammenschliessen. Jugendliche erleben, dass sich ein gerechter Kampf lohnt und die Gerechtigkeit in Form besserer Lebensbedingungen und neuer politischer Rechte triumphiert. Was soll an diesem pädagogischen Konzept denn so rückständig sein? Wenn der Geschichtsunterricht ein Stück weit das Ideal einer gerechteren Gesellschaft aufleuchten lässt, ist weit mehr erreicht als mit dem Herauspicken von allfälligen Ungereimtheiten bei der Darstellung des Kolonialismus.

Auch der Holocaust gehört dazu

Wenn politischer Rassismus ein Thema ist, das verbindlich in jeder Oberstufenklasse  behandelt werden muss, dann gehört der Holocaust dazu. Als jüdische Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden, hatte unsere Politik ihre dunkelsten Stunden. Die meisten Lehrmittel beschönigen unser Versagen in der Flüchtlingspolitik in keiner Weise.  Sie geben im Gegenteil den Jugendlichen durch zahlreiche authentische Berichte einen aufschlussreichen Einblick ins traurige Los der Zurückgewiesenen. Falls Jugendliche im Verlauf ihrer Schulzeit nicht mit dem Schicksal jüdischer Kinder konfrontiert wurden, liegt es nicht an den Lehrmitteln, sondern an einem langweiligen und mageren Geschichtsunterricht.

Die Forderung nach einer totalen Überprüfung der Lehrmittel im Hinblick auf rassistische Grundmuster durch ein Expertengremium schiesst übers Ziel hinaus.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass es dabei primär um eine Neuschreibung unserer jüngeren Geschichte geht. Die Qualitäten historischer Persönlichkeiten werden ausgeblendet, weil sie nicht in allen Teilen in unser modernes Weltbild passen. So soll ein Alfred Escher vom Sockel gestürzt werden, weil die Verstrickung seines Onkels in den karibischen Sklavenhandel eine Würdigung seines grossen Lebenswerks verbietet. Seine Pionierleistungen in der Zeit unseres jungen Bundesstaats werden übersprungen mit der Begründung, der politische Hardliner Escher sei ein Profiteur rassistischer Umtriebe.

Diese Art von Geschichtsverständnis verdienen unsere Schüler nicht. Sie haben ein Recht auf einen Unterricht, der weder weitsichtiges Unternehmertum noch historische Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten pauschal verunglimpft. Welche Schulabgänger wissen schon, dass Alfred Eschers grosses Werk die Gotthardbahn war und dass er mit seiner unglaublichen Schaffenskraft der Schweizer Wirtschaft zu europaweitem Einfluss verholfen hat?

Zu wenig Frauen

Es gibt zu wenig Frauen in der AutorInnenschaft.

In einem Punkt kann ich den Autorinnen folgen. Sie bemängeln, dass nur selten politisch aktive Frauen in den Geschichtsbüchern zu Wort kommen. Man kann dies entschuldigen mit dem Hinweis, dass erst vor gut hundert Jahren die politische Frauenbewegung in Europa Fahrt aufgenommen hat und die Zeit davor sehr männlich dominiert war. Doch unterdessen haben im zwanzigsten Jahrhundert unzählige weibliche Persönlichkeiten die politische Bühne betreten und der Gleichberechtigung der Geschlechter zum Durchbruch verholfen. Diese Leistungen in spannenden Biografien für den Unterricht zu würdigen, könnte unser Geschichtsbild im besten Sinn verändern.

Der Skandal liegt nicht im Fehlen des Willens zur kritischen Auseinandersetzung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass an unserer Volksschule kaum noch Wert auf gründliche Kenntnisse historischer Zusammenhänge gelegt wird.

Wenn jetzt lautstark ein kritischeres Geschichtsverständnis gefordert wird, ist das im Bereich der Volksschule schon fast grotesk. Der Skandal liegt nicht im Fehlen des Willens zur kritischen Auseinandersetzung. Vielmehr ist es die Tatsache, dass an unserer Volksschule kaum noch Wert auf gründliche Kenntnisse historischer Zusammenhänge gelegt wird. Geschichte steht in der Sekundarschule sowohl von der Lektionenzahl wie von der Bedeutung her weit hinten im aktuellen Bildungsprogramm. Doch unseren Schülern wird zugemutet, dass sie sich über heikelste politische und gesellschaftliche Fragen ein souveränes Urteil bilden können. Da fehlt jeder pädagogische Realitätssinn.

Respekt wächst im Unterricht

Zum Schluss sei die Frage erlaubt, ob die beiden Autorinnen bei ihrem Einsatz für mehr  Toleranz in unserer Gesellschaft nicht aufs falsche Pferd gesetzt haben. Gegenseitiger Respekt in einer Klassengemeinschaft wächst in erster Linie durch einen Unterricht, in dem konsequente Ermutigung und sichtbare Fairness ein Klima des Vertrauens schaffen. Lehrpersonen mit Verständnis für Schwächere und einem wachsamen Auge für jede Form des Mobbings können weit mehr zu Achtsamkeit und Toleranz beitragen als ein antirassistischer Aktivismus bei der Schaffung von Lehrmitteln.

Hanspeter Amstutz

 

 

 

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Eine Revolution muss die Freiheit wollen! Sonst verdient sie den Namen «Revolution» nicht. https://condorcet.ch/2019/08/eine-revolution-muss-die-freiheit-wollen-sonst-verdient-sie-den-namen-revolution-nicht/ https://condorcet.ch/2019/08/eine-revolution-muss-die-freiheit-wollen-sonst-verdient-sie-den-namen-revolution-nicht/#comments Fri, 02 Aug 2019 10:49:03 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=1846

1. Teil des fingierten Gesprächs mit Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet. Eine Literaturliste finden Sie am Ende des 3. Teils des Gesprächs!

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Herr Marie-Jean-Antoine-Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet, ist ein langer Name. Wie darf ich Sie anreden ?

Condorcet: In der Zeit der französischen Revolution sprach man mich mit Bürger Caritat an.

Darf ich Sie der Einfachheit halber mit Condorcet ansprechen?

Condorcet: Meine adlige Herkunft hat mir nie etwas bedeutet, ich habe niemals auf sie verwiesen. Aber wenn es der Sache dient, bitte.

Es sind in der Deutschschweiz Überlegungen im Gange, einen kritischen Bildungsblog nach Ihnen zu benennen.

Condorcet: Das ehrt und überrascht mich. Ich bin in der deutschsprachigen Schweiz so gut wie unbekannt. Wie komme ich zu dieser Ehre?

Dem wollen wir in unserem Gespräch auf den Grund gehen.

Condorcet: Ich bin gespannt.

Herr Condorcet, Sie wurden am 17. September 1743 in Ribemont im Département Aisne als Sohn eines verarmten Adligen und einer Bürgerlichen geboren. 20 Jahre später waren Sie der bekannteste Mathematiker Ihres Landes und weitere sechs Jahre später wurden Sie in die académie française aufgenommen! Darf man Sie als ein Wunderkind bezeichnen?

Condorcet: Ich hatte viel Glück. Wie Sie wissen, ist mein Vater – ein Offizier der Kavallerie – kurz nach meiner Geburt gefallen. Meine Mutter war tief religiös. Es war mein Onkel, der mich zu den Jesuiten schickte. Diese erkannten bei mir ein gewisses Talent und sandten mich auf das Collège Navarre in Paris.

Es waren also Priester, welche Ihr Talent erkannten. Sie haben es Ihnen schlecht gedankt!

Condorcet (lacht): Ja, Sie spielen sicher auf die «Lettres d´un Théologien à Sabbatier» an, den ich 1774 anonym veröffentlichte.

Genau, darin warfen Sie dem Klerus vor, dass er mit seinem Einfluss auf die Gläubigen alle möglichen Arten von Reformen verhindere.

Condorcet: Ich habe wörtlich formuliert: «Ihr sagt, Eure Exzellenz, unser Jahrhundert sei frivol. Stimmt es denn nicht, dass in Frankreich Mathematik, Chemie und Naturgeschichte getrieben werden wie niemals zuvor und dass das Studium der weltlichen Wissenschaften unter den vornehmen Leuten noch nie so verbreitet war? Es ist doch so, dass Frauen, die in früheren Zeiten allein Romane und ihre Andachtsbücher lasen, heute Montesquieu und Rousseau lesen.»

Sie prophezeiten darin auch dem gesamten Priesterstand seinen Untergang.            

Condorcet: Allerdings waren die Jesuiten gemäss meiner Fortschrittslehre enorm wichtige Akteure, worauf ich immer wieder hingewiesen habe.

Darauf kommen wir noch zurück. – Ich nehme an, dass d’Alembert massgeblich an ihrem Durchbruch beteiligt war?

Jean-Baptiste le Rond, genannt D’Alembert (1717–1783) war einer der bedeutendsten Mathematiker und Physiker des 18. Jahrhunderts und ein Philosoph der Aufklärung. Gemeinsam mit Diderot war der Aufklärer Herausgeber der Encyclopédie.

Condorcet: Ich verteidigte 1760 im Collège eine mathematische These vor d’Alembert. D’Alembert, der damals berühmte Enzyklopädist und Mathematiker war begeistert und nahm mich unter seine Fittiche.

D’Alembert bezeichnete Sie als «Vulkan unter dem Schnee».

Condorcet: Was er damit speziell meinte, müssen Sie ihn fragen. Ich beantworte keine Fragen zu meinem Charakter.

D’Alembert war damals wesentlich älter als Sie und schon sehr einflussreich. Trotzdem bewunderte er sie unendlich.

Condorcet: Nun, wir bewunderten beide vor allem Voltaire und Turgot. D’Alembert brachte mich mit ihnen zusammen.

Sie machten auch auf Voltaire und Turgot einen grossen Eindruck. Voltaire machte Sie zum Sekretär seiner Wissenschaftsakademie und Turgot, der spätere Finanzminister, holte Sie in seinen Stab. Sie wurden «inspecteur des monnaies», eine Art Notenbankchef!

Condorcet: Es war eine fantastische Zeit. D’Alembert führte mich in den Salon der Julie Lesparnasse ein, wo ich auch Diderot kennenlernte. Voltaire war für mich natürlich der alles überragende Philosoph. Er war es, der mein Interesse auch auf die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme Frankreichs lenkte. Aber persönlich noch wichtiger war die Begegnung mit Turgot.

Anne Robert Jacques Turgot, baron de l’Aulne, der spätere Finanzminister!

Genau, bei ihm faszinierte mich, dass er nicht nur Denker und Theoretiker war, sondern auch Staatsmann und Ökonom, also Praktiker, der in den zwei Jahren seines Wirkens vieles veränderte.

Anne Robert Jacques Turgot, baron de l’Aulne (1727–1781), war ein französischer Staatsmann und Ökonom der Aufklärung, der zur vorklassischen Ökonomie gezählt werden kann.

Letztendlich ist er aber gescheitert.

Jeder wäre an den Widerständen gescheitert. Zumal wir es noch mit einer massiven Agrarkrise zu tun hatten …

… die zu den ersten Hungeraufständen vor der Revolution führten, welche Turgot niederschlagen liess.

Condorcet: Turgot war ein Pragmatiker und natürlich – wie wir alle – ein Kind seiner Zeit. Dennoch: Er war ein Erneuerer, der die Zeichen der Zeit erkannte. Wie sein schottischer Zeitgenosse Adam Smith lehnte er feudale Marktzwänge ebenso ab wie staatliche Reglementierungen. In der freiheitlichen Wirtschaftsordnung sah Turgot den besten Garanten für Produktivität. Ein weiteres Anliegen neben dem Freihandel war für ihn die Abschaffung des Frondienstes. In seinen Augen war die Fronarbeit ein wirtschaftliches Negativgeschäft, das gegen die Menschenrechte verstosse. Ausserdem gelang es ihm, das Haushaltsdefizit stark zu verringern. Doch als er sich daran machte, die Privilegien des Adels zu beschneiden, war es um ihn geschehen. Der König liess ihn fallen.

Kommen wir wieder zu Ihrem Werdegang zurück. Sie entwickelten nach 1770 eine unglaubliche schriftstellerische Tätigkeit.

Condorcet: Ich hatte nach meinem Ausscheiden aus dem Finanzministerium wieder mehr Zeit – und keine Frau. (lacht)

Sie schrieben vor allem viele Briefe, Artikel und kleine Schriften, beispielsweise über die Abschaffung der Sklaverei, über die Gleichberechtigung der Protestanten, Juden und später auch der Frauen und Schwarzen. Da sind nicht wenige und grosse Themen.

Aufklärer haben nie nur ihr Hauptgebiet durchdrungen, sie hegten die Vorstellung von «einer heilsamen Kraft des Wissens für die (bessere) Ordnung der menschlichen Gesellschaft». Darum waren sie auch politisch engagiert und breit aufgestellt.

Dann kam es zu einer weiteren Begegnung, die ihr Denken meiner Meinung nach entscheidend beeinflusste. Sie trafen Benjamin Franklin und Thomas Jefferson…

Thomas Jefferson (1743–1826), einer der Gründerväter der USA, Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, besuchte Frankreich 1778.

Condorcet: Nachdem die USA den Unabhängigkeitskrieg gewonnen hatten, reiste Jefferson nach Frankreich, dem Erzfeind Grossbritanniens, um Gelder für seine noch junge Republik zu sammeln und um Unterstützung zu bitten.

Wie muss man sich eine solche Begegnung vorstellen? Frankreich unterschied sich doch gänzlich von seinem neuen Verbündeten Amerika. Im Schloss Versailles regierte Frankreichs Ludwig XVI als absoluter Monarch. Der Zustand der königlichen Finanzen war katastrophal.

Die Unterstützung, die Ludwig der XVI den Amerikanern gewährte, belastete die Finanzlage des Königs zusätzlich. Sie machte viele Franzosen aber auch stolz.

Aber wie  fühlte sich Thomas Jefferson in Versailles?

Er machte sich sicher seine Gedanken, aber er war auch Diplomat. Wie alle amerikanischen Revolutionäre in Paris kleideten sich Jefferson und Franklin dezent und sprachen klare Worte. Das beeindruckte vor allem uns Intellektuelle. Man kann sagen, dass die Franzosen von Jefferson fasziniert waren, was diesem nicht ganz uneitlen Mann sicher auch schmeichelte.  Seine Philosophie der Aufklärung machte ihn zu einem lebenden Symbol für die Tugenden der neuen amerikanischen Republik.

Wo trafen Sie ihn?

Ich traf ihn regelmässig im Palais Royale, dem intellektuellen Zentrum von Paris.

Haben Sie ihn auf die Sklavenfrage angesprochen?

Ja, das war in der Tat ein grosser Widerspruch in seinem Leben. Jefferson war Sklavenbesitzer. Seine Denkweise war – bei aller Bewunderung –  sehr beschränkt, und das zeichnete ihn als einen Mann seiner und nicht der zukünftigen Zeit aus. Er postulierte zwar, alle Menschen seien frei, und das unabhängig der Rasse, aber die beiden Rassen könnten nicht unter derselben Regierung leben. Das kam auch auf seiner Plantage in Montecello zum Ausdruck. Montecello war eine Sklavenplantage! – Er besass zwischen 100 und 200 Sklaven.

Jefferson besass auf seiner Plantage Montecello bis zu 200 Sklaven.

Und Sie waren ja ein engagierter Vertreter der Abschaffung des Sklavenhandels?

Jefferson hatte gegenüber den Schwarzen grosse Vorurteile. Er glaubte fest daran, dass Schwarze und Weisse niemals die gleichen Rechte haben könnten. Er empfand Schwarze als minderwertig, weil sie ungebildet waren. Und er glaubte, dass sie auch kein Interesse an Bildung hätten, was er bei Weissen dagegen voraussetzte.

Da müssen Sie ihm doch energisch widersprochen haben.

Natürlich, – aber mein Bildungskonzept war damals noch nicht ausgereift, und wir Franzosen befanden uns ja im Gegensatz zu den Amerikanern noch im tiefsten Absolutismus.

Wie war es möglich, dass ein Mann, der Freiheit und Gleichheit predigte, dieselben Grundrechte für die Schwarzen verweigerte?

Er sah das Unrecht durchaus und meinte mir gegenüber einmal: Die Weissen werden Ihre Vorurteile gegenüber den Schwarzen nie aufgeben und die Schwarzen werden den Weissen nie verzeihen, was man ihnen angetan hat. Eine Befreiung werde unweigerlich zu Konflikten führen …

… was ja dann auch tatsächlich eintraf!

Im amerikanischen Bürgerkrieg und den darauf folgenden Rassenkonflikten – die ja bis heute virulent sind. – Aber für mich war natürlich wegweisend, dass die amerikanische Revolution das Ziel der Freiheit hatte. Ohne dieses Ziel darf sich keine Revolution «Revolution» nennen.

Welche Rolle spielte Spinoza in Ihrem Denken? Voltaire lehnte ihn ja vollkommen ab.

Wie Spinoza bin ich der Meinung, dass alles, was der menschliche Geist hervorbringt, dem Wohle der Menschheit dienen muss.

Das wurde ja zu einem Ihrer Leitideen: der Fortschrittsoptimismus.

Condorcet: Ich glaube an einen universalen Fortschritt, das verbindet mich mit Turgot! Ich glaube, dass die Menschheit und nicht Diktatoren das Subjekt der Geschichte sind. Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass die Menschheit einer allmählichen Vervollkommnung zustrebt. Dazu gehört auch die materiell-wissenschaftliche wie auch die moralisch-sittliche Entwicklung. Sie unterliegt erkennbaren und nachprüfbaren Gesetzen. Ich war überzeugt, dass Politik und Ethik mit dem gleichen Geist der wissenschaftlichen Revolution gebildet werden müssen.

Eine Besonderheit Ihres Denkens bestand ja darin, dass Sie auf die bedeutende Rolle der Mathematik in diesem Zusammenhang hinweisen.

Die Gesetze der Vernunft und der Mathematik können dazu beitragen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Geschichte ist in erster Linie «Kulturgeschichte». Ich verfolgte die Entwicklung des menschlichen Geistes von Generation zu Generation. Und da war für uns natürlich der Mensch des 18. Jahrhunderts ein ganz anderer als derjenige des Mittelalters. Und diese Entwicklung dauerte an, unterbrochen von Phasen der Stagnation und der Rückschläge.

Ist das nicht eine zu deterministische, fast marxistische Sichtweise?

Unsinn. Das Grundgerüst dieser Methode – um den Fortschritt einerseits erkennen und andererseits darauf aufbauen zu können – bildet meine „mathematique social“. Ziel ist es, menschliche Entscheidungen ebenso wie menschlichen Fortschritt mit ihrer Hilfe kalkulierbar zu machen. Marx sieht die Gesetzmässigkeit im Klassenkampf. Bei mir gehen individuelle und gemeinschaftliche Leistungen Hand in Hand. Die Erfindung des Bogens verdanken wir einem Genie, die Ausbildung der Sprache jedoch der Gesamtgesellschaft! Und vergessen Sie nicht, es kommt auch immer wieder zu Rückschlägen.

Ende des 1. Teils des Gesprächs. Der 2. Teil erscheint am Mittwoch, den 7. August 2019.

 

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