Rolle der Lehrperson - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 04 Jan 2024 18:50:57 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Rolle der Lehrperson - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Zwei sich diametral unterscheidende Positionen https://condorcet.ch/2024/01/15622/ https://condorcet.ch/2024/01/15622/#comments Thu, 04 Jan 2024 18:49:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=15622

Wie so oft in den vergangenen Jahren warteten die Ostschweizer Kinderärzte am 29. November wieder mit einer hochkarätigen Veranstaltung auf. Es ging um die substanzielle Frage: «Welche Schulen brauchen wir?» Die beiden profilierten Redner Horst Biedermann (Rektor PHSG) und Carl Bossard (Gründungsrektor PH Zug und Condorcet-Autor) versuchten die wichtigsten Kriterien dieser Schule zu skizzieren. Condorcet-Autor Urs Kalberer stellte für uns die Hauptaussagen der beiden Referenten zusammen. Der Anlass fand am 29. November statt. Der Artikel ist aber leider in den vielen Artikelzusendungen untergegangen, weshalb er erst jetzt erscheint. Dafür entschuldigen wir uns beim Autoren.

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Horst Biedermann, Rektor der PH St. Gallen.

Zu Beginn skizziere ich die Kernpunkte der beiden Referenten.

Professor Dr. Horst Biedermann, Rektor der Universität St. Gallen, ging in seinem Referat auf folgende Fragen ein:

  • Bildungsauftrag gemäss Harmos.
  • Die Welt steht im Wandel.
  • Megatrends: Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI).
  • Veränderte Arbeitswelt mit weniger Routinearbeit.
  • Von VUCA (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) zu BANI (brittle, anxious, non-linear, incomprehensible): Diese Schlagworte aus der Management-Theorie beschreiben die Welt und ihre Herausforderungen. Das VUCA-Konzept aus den 1980er Jahren genügt heute nicht mehr und wurde durch BANI ersetzt.
  • Welche Fertigkeiten braucht man für die Zukunft? Future Skills.
  • Neben den Kulturtechniken sollen auch andere Bereiche abgedeckt werden.
  • Veränderung der Sitzordnung: Mehr Gruppenprozesse.
  • OECD-Lernkompass 2030.
  • KI und Digitalisierung nutzen, nicht verbieten.
  • Rolle der Lehrperson: Initiierung und Begleitung von Lehr-Lernprozessen.

 

Carl Bossard, Condorcet-Autor und Bildungsexperte

Dr. phil Carl Bossard, ehemaliger Gründungsdirektor der PH Zug, Condorcet-Autor und prominenter Kritiker der heutigen Bildungsreformen, referierte über folgende Themen:

  • 3 G: Grundkenntnisse, Grundfertigkeiten, Grundhaltungen.
  • Konzentration auf den pädagogischen Kern.
  • Freiheit und Berufszufriedenheit.
  • Bildungsverwaltung steuert und reglementiert: Lehrpersonen werden zu Sklaven der Administration.
  • Spannungsfeld zwischen Neuem und Bewährtem. Nicht alles Alte ist a priori schlecht. Und nicht alles Neue ist gut, nur weil es neu ist.
  • Schule nicht auf die Veränderungen anpassen: Die humane Kraft des Analogen.
  • Lernen heisst: üben, üben, üben.
  • Die Inhalte wurden maximiert, das Üben minimiert.
  • Es gibt Bildungsinhalte ohne Verfallsdatum.
  • Die Leidenschaft fürs Lehren darf nicht im Administrativen ersticken. Es braucht das Echte, nicht die Konserve.

Während Biedermann die Schule in der Pflicht sieht, den aktuellen Wandel mitzumachen, stellt Bossard die unverrückbaren Grundkenntnisse und -fertigkeiten ins Zentrum. Wir wissen nicht, was die Zukunft alles bringen mag, aber Rechnen, Lesen und Schreiben werden ihre erstrangige Bedeutung behalten. Biedermann sieht die Ausdehnung der Schule in Bereiche, die bisher unberücksichtigt geblieben sind: Neben den Kulturtechniken sind dies beispielsweise vermehrt Lernstrategien, forschendes Denken und Handeln, lebenslanges Lernen und interkulturelle Kompetenz. Während das Bouquet der Ansprüche an die Schule bei Biedermann in allen erdenklichen Farben blüht und funkelt, fordert Bossard eine Rückbesinnung auf den pädagogischen Kern. Und dies in Freiheit, ohne durch Lehrmittel oder pädagogische Trends gegängelt zu werden. Für Bossard ist das System zu komplex geworden und muss deshalb dringend vereinfacht werden.

Das Publikum kam in den Genuss einer umfassenden Auslegeordnung mit zwei sich diametral unterscheidenden Interpretationen über die Rolle der Schule.

Offene Fragen:

Ist die Vielfalt der Ansprüche an die Schule überhaupt umsetzbar?

Wie können angesichts der gewachsenen Ansprüche auch zukünftig noch genügend Menschen für den Lehrberuf gewonnen werden?

 

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Schule für alle – jeder für sich https://condorcet.ch/2022/03/schule-fuer-alle-jeder-fuer-sich/ https://condorcet.ch/2022/03/schule-fuer-alle-jeder-fuer-sich/#respond Tue, 08 Mar 2022 12:38:17 +0000 https://condorcet.ch/?p=10638

Beat Kissling, Mitherausgeber des reformkritischen Magazins "Einspruch" und Erziehungswissenschaftler, ist im Condorcet-Blog kein Unbekannter. In diesem Beitrag setzt er sich mit den Auswirkungen einer forcierten Inklusion auseinander und erklärt die Hintergründe dieser Reformbestrebung.

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Beat Kissling, Mitherausgeber des Magazins “Einpruch”, Erziehungswissenschafter, Psychotherapeut und Dozent für Umweltethik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Nach den entsetzlichen Verbrechen an behinderten Menschen im Zweiten Weltkrieg hatte man in der Schweiz wie in Deutschland versucht, mit einem je nach Standpunkt differenzierenden oder separierenden Sonderschulwesen den besonderen Bedürfnissen behinderter Kinder und Jugendlicher umfassend Rechnung zu tragen. Kinder mit einer Lernschwäche, andere mit Verhaltens- oder Kontaktstörungen, weitere mit Körperbehinderungen oder Leistungseinschränkungen im Sehen oder Hören wurden in homogen zusammengesetzten Kleinklassen von dafür ausgebildeten Heilpädagogen unterrichtet.

Definition

Integration – Integration bezeichnet die Eingliederung von Schülern mit einer Behinderung oder Lernschwäche in die Regelschule. Der Begriff steht im Unterschied zur separaten Beschulung in Kleinklassen (Sonderschulklassen).

Inklusion – Inklusion geht deutlich weiter und beinhaltet einen Paradigmenwechsel gegenüber dem ­bisherigen Schulverständnis: Die Jahrgangs- und Niveauklassen werden grundsätzlich ­aufgehoben. Stattdessen werden Klassen ­zusammengesetzt, die möglichst divers an ­Alter und Leistungsniveau sind; auch alle ­Kinder mit Handicaps gehören dazu. Die ­möglichst grosse Vielfalt in einer Klasse wird zur Normalität erklärt. (dj)

In der Bevölkerung überwiegt bis heute eine positive Einstellung zu diesen Kleinklassen. Allerdings gab es auch eine leider recht verbreitete, überhebliche Einstellung ­gegenüber diesen Schülern, die sich insbesondere bei den Regelschülern im gleichen Schulhaus oder Dorf äusserte: Sie seien dumm und wenig bildbar; nicht selten wurden sie despektierlich behandelt und zuweilen gemobbt. Diese Problematik war ein wesentliches Argument für die Reform des Sonderschulwesens. Die Integration sollte den Vor­urteilen und der Ausgrenzungstendenz entgegenwirken.

Integration kann funktionieren

Die Einführung des Integrationskonzepts in der Schweiz in den 1990er-Jahren führte zur Schliessung vieler Klein­klassen. Diese Reform war höchst umstritten: Die Praktiker bezweifelten, dass Integration den behinderten Kindern die erforderlichen Rahmenbedingungen zum Lernen bieten könne. Aus der Lehrerbildung hingegen hiess es, Inte­gration sei mit der richtigen Didaktik ohne weiteres erfolgreich umzusetzen.

Die tiefe Zuneigung zum Lehrer ist augenfällig.

Tatsächlich gab es in der Schweiz und in den umliegenden Ländern vor der flächendeckenden Einführung der Integration bereits einiges an Erfahrung in kleinen Landschulen, wie man Kinder und Jugendliche verschiedenen Alters und mit sehr unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen zusammen unterrichten kann. Der französische Dokumentarfilm «Être et avoir» von 2002 porträtiert eine solche Dorfschule in der Auvergne. Er zeigt den Alltag ­eines Dorfschullehrers mit seinen Schülern aus den um­liegenden Bauerndörfern und Weilern im Alter von 6 bis 14 Jahren während etwas mehr als einem halben Jahr. Por­träts der einzelnen Kinder vermitteln einen authentischen Einblick in das Klassenklima und die Arbeitsweise des ­Pädagogen, Herrn Lopez. Unterschiedliche Schülerpersönlichkeiten sind in dieser Klasse vertreten, auch das heutige durchschnittliche Spektrum an Kindern mit Diagnosen wie ADHS, ADS oder Autismus gehört dazu. Die Freude der porträtierten Kinder und Jugendlichen am gemeinsamen Unterricht und ihre tiefe Zuneigung zum Lehrer ist augenfällig. Analysiert man die Arbeitsweise dieses Pädagogen, kristallisieren sich drei zentrale Erfolgsfaktoren heraus:

Erstens besteht in dieser Klasse eine freundschaftlich-kooperative Atmosphäre. Gelegentlich kommt es zu Verfehlungen, Missverständnissen und Grobheiten, und es fliessen Tränen. Diese werden aber stets ernst genommen und der väterlich vermittelnde Lehrer Lopez sorgt für Klärung und Versöhnung, so dass keine Ressentiments und Gefühle des Unverstandenseins zurück­bleiben. Wenn ein Kind Schwierigkeiten beim Schreiben und Rechnen hat oder beim gemeinsamen Backen das ­Eigelb auf dem Boden landet, ist die Reaktion der Mitschüler nie spöttisch-abwertend, sondern aufmunternd.

Ob man ein Diktat übt, geometrische Probleme löst oder das Einmaleins wiederholt – immer sind die Schüler geistig präsent und engagiert dabei, weil es einfach interessant ist.

Zweitens versteht es der Lehrer, den Unterricht für die Schüler ansprechend und gut verständlich zu gestalten, so dass deren Interesse geweckt wird. Lehrer Lopez führt seinen Unterricht interaktiv, indem er die Schüler alle zum Mitwirken animiert, jeden im Auge behält und, falls erforderlich, Hilfestellung gibt. In jeder Lektion ist eine vom Lehrer angeregte, erwartungsvolle Dynamik zu spüren. Ob man ein Diktat übt, geometrische Probleme löst oder das Einmaleins wiederholt – immer sind die Schüler geistig präsent und engagiert dabei, weil es einfach interessant ist.

Jedes Kind wird als Persönlichkeit individuell erfasst.

Der dritte entscheidende Aspekt ist die persönliche Beziehung, die der Lehrer zu jedem seiner Schützlinge aufgebaut hat. Dem einen Jungen, der zuhause einen mitunter recht derben Umgang erlebt, begegnet er anders als dem sehr gehemmten Gleichaltrigen, bei dessen Familie die Sprachlosigkeit ins Auge springt. Den Zappelphi­lipp, der auf seinem Stuhl herumturnt, lässt er nicht aus den Augen, signalisiert volle Präsenz mit verbindlichem Fordern und Fördern. Jedes Kind wird als Persönlichkeit individuell erfasst, so dass auch jede Interaktion eine unterschiedliche Färbung aufweist.

Die Zusammenschau heutiger grundlegender anthropologischer Erkenntnisse zum Lernen liefert eine plausible Erklärung, wieso dieser Lehrer erfolgreich ist. Das Lernen ist ein durch und durch sozialer Prozess, bei dem der junge Mensch eine intensive, erwartungsvolle Ausrichtung auf seine wichtigsten Bezugspersonen hat. Die zentrale Lernmotivation bei Kindern ist laut dem Entwicklungspsychologen Paul L. Harris, von den «kulturellen Mentoren» lernen zu wollen, um möglichst bald am sozialen Miteinander teilhaben zu können. Verknüpft mit dieser Erkenntnis erweist sich die «Bindungssicherheit» eines Kindes oder Jugend­lichen als entscheidend für das schulische Lernvermögen, zumal die offene, neugierige Zuwendung des jungen Menschen zur Welt wesentlich vom erworbenen Urvertrauen Menschen gegenüber abhängt.

Die Verarmung dessen, was eine gute Schule für die Schüler erfreulich macht, nämlich das ­beglückende Erlebnis von Kooperation und gemeinsamer Vertiefung,  lässt erahnen, wie ­problematisch sich ­dieser Reformtrend auswirkt.

So erfolgreich Integration sein kann, so grandios kann sie auch scheitern, wenn die Lehrperson mit der Dynamik in der Klasse und der Anzahl an Schülern, die eine besondere Zuwendung und enge Betreuung brauchen, überfordert ist. Dann entgleist die angestrebte Integration und bringt negative Folgen mit sich, insbesondere für Schüler, die speziell gefördert werden müssen.

Wo bleibt die Pädagogik?

Bei der Inklusion soll das ganze Spektrum an Kindern und Jugendlichen – vom geistig behinderten Schüler bis zum Gymnasiasten – zusammen in einer Klasse unterrichtet werden.
Bild Adobe Stock

Aus Sicht der Inklusionsbefürworter ist die Integration eine unzureichende Reform, weil sie lediglich die Anpassung der integrierten Schüler an die Regelschule beinhalte, statt eine Situation zu schaffen, in der sie wirklich gleich wie alle anderen eingebunden seien. Die wesentlich weiter gehende Inklusion verlangt deshalb eine veritable Revolution der gesamten, auf Niveaus und Altersgruppen aufbauenden Schulkonzeption. Bei der Inklusion soll das ganze Spektrum an Kindern und Jugendlichen – vom geistig behinderten Schüler bis zum Gymnasiasten – zusammen in einer Klasse unterrichtet werden. Eine solche «Schule für alle» hat dann zur Folge, dass von der alten Schule kein Stein mehr auf dem anderen bleibt.

Ein ernsthaftes gemeinsames, inhaltlich zielführendes Lernen ist bei der Inklusion nicht denkbar. Die inklusive Realität ist, dass die Schüler sich ohne Kooperationsmöglichkeit individuell mit Aufgaben beschäftigen müssen und folglich keinen verbindlichen Bezug zu jemand anderem in der Klasse haben. Dabei sind viele der Schüler mit einer stärkeren Einschränkung oder einer sonstigen Problematik auf einen einzelnen Erwachsenen angewiesen, der viel Unterstützung bieten muss; fehlt diese, fühlen sich die Schüler schnell verloren, resignieren oder beginnen auf eine wenig konstruktive Weise für Aufmerksamkeit zu sorgen. In diesem Zusammenhang ist auch die auffallende Zunahme von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Auffälligkeiten eine Herausforderung.

Echte Prävention gegen Mobbing setzt einen sehr bewussten und engagierten päd­agogischen Aufbauprozess voraus, gerade angesichts einer so grossen Heterogenität.

Bei der Inklusion sind sogar die möglichen gemeinsamen Erlebnisse und Aktivitäten zwischendurch eher bescheiden. Laut Theorie sollte allein durch das Setting eine sozial wirksame Stimmung des Eingebundenseins entstehen und diese gar eine präventive Wirkung gegen Mobbing haben. Aus der bisherigen Forschung lässt sich derlei allerdings ganz und gar nicht bestätigen. Echte Prävention gegen Mobbing setzt einen sehr bewussten und engagierten päd­agogischen Aufbauprozess voraus, gerade angesichts einer so grossen Heterogenität. Nur wenige Kinder bringen per se so viel Sozialkompetenz und die erforderlichen, emotional verankerten Werte Respekt, Toleranz, Kooperationsbereitschaft und Zivilcourage mit, dass durch das inklusive Setting automatisch ein auf Wohlwollen basierendes Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht.

Das humanistisch orientierte Bildungs­verständnis, das die pädagogisch-didaktisch gestaltete Persönlichkeitsbildung jedes Schülers durch eine Lehrperson im Rahmen eines Klassenkollektivs zum Ziel hat, wurde im Laufe der Jahre immer simplifizierender als «lehrerzen­triert» und dirigistisch apostrophiert sowie pauschal als «Frontalunterricht» diskreditiert.

 

Der Kampf gegen den «Frontalunterricht»

An dessen Stelle wurde ein vergleichstestbasiertes «Output-Controlling-System» mit immer stärker individualisierenden Lernformen etabliert.

In der Schweiz ist der Schritt hin zur Inklusion noch nicht vollzogen. Es spricht aber viel dafür, dass sich das in naher Zukunft ändern könnte. Der gesamte Reformprozess, dem unsere öffentlichen Schulen seit Mitte der 1990er-Jahre unterzogen wurden, weist in diese Richtung. Spätestens seit der Mitwirkung der Schweiz bei den PISA-Studien hat in ­unseren Schulen ein weitreichender Paradigmenwechsel stattgefunden. Das humanistisch orientierte Bildungs­verständnis, das die pädagogisch-didaktisch gestaltete Persönlichkeitsbildung jedes Schülers durch eine Lehrperson im Rahmen eines Klassenkollektivs zum Ziel hat, wurde im Laufe der Jahre immer simplifizierender als «lehrerzen­triert» und dirigistisch apostrophiert sowie pauschal als «Frontalunterricht» diskreditiert.

An dessen Stelle wurde ein vergleichstestbasiertes «Output-Controlling-System» mit immer stärker individualisierenden Lernformen etabliert, das sowohl eine inhaltlich-sachliche als auch eine soziale Verarmung schulischen Lernens zur Folge hatte. Der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das an den Pädagogischen Hochschulen geförderte «selbstorganisierte Lernen», das durch den offensichtlich erwünschten Hype der schulischen Digitalisierung zusätzlich vorangetrieben worden ist. Das damit verbundene Bildungsideal ist der sich selbst optimierende Schüler, der mit Hilfe von digital zugänglichen «Lernumgebungen» sich die Inhalte, die für die jährlichen Vergleichstests erforderlich sind, möglichst alleine erarbeitet.

Lehrkraft als Moderator

In diesem Zusammenhang wurde die Lehrerrolle mit derjenigen eines «Moderators», «Coachs» oder eines «Arrangeurs von Lernprozessen» eingetauscht. So ist gar nicht vorgesehen, den Unterricht vorzugsweise mit der ganzen Klasse gemeinsam durchzuführen. Gut damit zurechtkommen lediglich die vifen, von zuhause aus intensiv geförderten Schüler. Aber auch sie verlieren die Möglichkeit, sich in einem gemeinsamen Lernprozess soziale Kompetenzen anzueignen. Wen erstaunt es, wenn die mit dieser Schulform verbundene Vereinzelung zur Folge hat, dass bei vielen Schülern die Lernmotivation leidet und sie vielfach abends und über das Wochenende mit den Eltern oder im Nachhilfeunterricht den verpassten Lerninhalt nachholen müssen? Die Verarmung dessen, was eine gute Schule eigentlich für die Schüler erfreulich macht, nämlich das beglückende Erlebnis von Kooperation und gemeinsamer Vertiefung, lässt erahnen, wie problematisch sich dieser Reformtrend auswirkt. Die Inklusion vollendet diesen Trend und führt zum Gegenteil von dem, was man angesichts ihrer hochgesteckten ideellen Ziele erwarten würde.

Trendumkehr

Die Ironie dieser Entwicklung manifestiert sich darin, dass sich – vorläufig vorwiegend in den angelsächsischen Ländern – schon länger eine Trendumkehr abzeichnet. Seit einigen Jahren wurde, basierend auf wissenschaftlich fundierten Einsichten der Schulpädagogik, in etlichen öffent­lichen Bildungseinrichtungen erfolgreich die Praxis des «dia­logischen Lernens» oder des «unterrichtlichen Dialogs» etabliert. Die erziehungswissenschaftlichen Erläuterungen zu dem entsprechenden Unterricht bestätigen, dass ein vom Lehrer psychologisch und pädagogisch-didaktisch verantwortungsvoll geführter, interaktiver Unterricht mit der Klasse den Bedürfnissen der Schüler am besten entspricht. Bei heterogen zusammengesetzten Klassen, wie im Fall der Integration, funktioniert dies durchaus. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen dem Gestaltungsvermögen des Lehrers entsprechen. Inklusion lässt einen dialogischen ­Unterricht gar nicht zu, im Gegenteil. Es drängt sich also die Frage auf, wieso mit der Inklusion gerade für die besonders bedürftigen behinderten Schüler eine Schulform forciert wird, die diesen jungen Menschen ein förderliches, gleichwertiges Eingebundensein mehr erschwert als erleichtert.

Beat Kissling

ist Erziehungswissenschafter, Psychotherapeut und Dozent für Umweltethik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Zuletzt von ihm erschienen: «Sind Inklusion und Integration in der Schule gescheitert? Eine kritische Auseinandersetzung» (Hogrefe-Verlag, 2022). Dieser Artikel ist zuerst im Schweizer Monat erschienen.

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