Remo Largo - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 22 Nov 2020 10:08:02 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Remo Largo - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Remo Largo: Ein unbequemer Mitstreiter https://condorcet.ch/2020/11/remo-largo-ein-unbequemer-mitstreiter/ https://condorcet.ch/2020/11/remo-largo-ein-unbequemer-mitstreiter/#respond Fri, 13 Nov 2020 12:46:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=6947

Alain Pichard lernte den verstorbenen Kinderarzt kennen, als dieser sich für seine Erlebnisse an der Mission Hill Schule interessierte (siehe "«Deborah Meier – Mission Hill in Boston oder Warum ich die USA immer noch liebe" 2. Teil, 29.10 20). Danach kam es zu mehreren Begegnungen. Eine Erinnerung an einen unabhängigen Denker und Kritiker der Schule.

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Du kannst nicht nur deine Schüler fordern.

Der Reformkritiker kam an diesem Mann nicht vorbei. Er geisselte den Frühfremdsprachenunterricht als «monumentalen Blödsinn», unterschrieb als erster zusammen mit anderen prominenten Wissenschaftlern ein Manifest gegen die einziehende Vermessungskultur, gegen Harmonisierungswahn und die Bürokratisierung der Schule und war ein leidenschaftlicher Anwalt für die Sache des Kindes.

Als er mich mit dem Journalisten Martin Beglinger vor zehn Jahren zu Hause besuchte, um mehr von meinen Erlebnissen in der Mission Hill Schule in Boston zu erfahren (siehe «Deborah Meier – Mission Hill in Boston oder Warum ich die USA immer noch liebe. 2. Teil, 29.10 20), interessierte er sich fast mehr für meinen damals 13-jährigen Sohn als für mich.

Genauso dezidiert, wie er die Reformauswüchse kritisierte, grenzte er sich aber auch gegenüber den konservativen und SVP-nahen Kreisen der Reformgegnerschaft ab.

Genauso dezidiert, wie er die Reformauswüchse kritisierte, grenzte er sich aber auch gegenüber den konservativen und SVP-nahen Kreisen der Reformgegnerschaft ab. Er war klar für die Frühförderung, unterstützte den zweijährigen Kindergarten und die Kindertagesstätten. Das traditionelle Familienbild war für ihn – dem Pragmatiker und Empiriker – ausgelaufen, keine Alternative angesichts der Atomisierung unserer Gesellschaft.

Er unterstützte unseren Condorcet-Blog mit Geld und Namen, konnte aber mit den Verfechterinnen und Verfechtern traditioneller Unterrichtsmodelle nichts anfangen. Er war ein klarer Vertreter des individualisierten Unterrichts.

Jean-Marie de Condorcet: Bildung und Mündigkeit

Er schätzte den Gedanken Condorcets, der das Konzept der Mündigkeit vertrat, des Rechts eines jeden Kindes, frei über sein Leben zu entscheiden. Aber wenn ich ihn mit den praktischen Schwierigkeiten des pädagogischen Alltags konfrontierte, wenn ich ihm die Grenzen des individualisierten Unterrichts aufzeigte, meinte er lapidar: «Du kannst nicht nur die Schüler fordern, du musst auch dich fordern.» Mit meinen Leistungsforderungen an meine Schüler konnte er wenig anfangen. Remo Largo konnte in Diskussionen sehr unnachgiebig argumentieren, hörte aber den anderen Argumenten genau zu. Es ist genau diese Unabhängigkeit des Geistes, die mich an diesem Mann immer wieder faszinierte. Wie sagte es schon der britische Lyriker Thomas Eliot: «Jeder schöpferische Geist ist auch ein Kritiker!»

Er war nicht immer so ruhig und gelassen, wie er an Anlässen wahrgenommen wurde. Aber so wie er die Eltern bei ihren scheinbar schwierigen Erziehungsentscheiden beruhigen konnte, so gelang ihm das auch bei seinen reformkritisch erregten Diskutanten. «Dieser Kompetenzunfug wird sich von alleine erledigen», versprach er mir einst.

Wenn ich all die Stunden vergegenwärtige, die ich im Widerspruch zu Reformhektik, Digitalisierungswahn und Ökonomisierung aufgewendet habe, können durchaus resignative Gedanken aufkommen. Die Begegnungen mit so wunderbaren Menschen wie Remo Largo entschädigen, auch wenn – oder gerade weil – man sich mit dem Widerspruch zur eigenen Meinung konfrontiert sieht.

Er wird uns fehlen.

Alain Pichard

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«Der Mensch kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes» – der berühmte Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo ist gestorben https://condorcet.ch/2020/11/der-mensch-kann-nicht-irgendein-leben-fuehren-sondern-nur-sein-eigenes-der-beruehmte-schweizer-kinderarzt-und-autor-remo-largo-ist-gestorben/ https://condorcet.ch/2020/11/der-mensch-kann-nicht-irgendein-leben-fuehren-sondern-nur-sein-eigenes-der-beruehmte-schweizer-kinderarzt-und-autor-remo-largo-ist-gestorben/#respond Fri, 13 Nov 2020 12:28:04 +0000 https://condorcet.ch/?p=6937

Martin Beglinger, Journalist der NZZ, aber auch Co-Autor in "Schülerjahre" und Freund des Kindearztes Remo Largo schrieb diesen Nachruf, der heute in der NZZ erschien. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Martin Beglinger, Journalist, Co-Autor und Freund von Remo Largo.

Es klang nicht gut vor drei Wochen am Telefon. Wir sprachen über die vergangenen Monate, über das Sterben und wie er sich seinen Abschied vorstelle. Dabei sagte er: «Ich hätte ja nie im Leben gedacht, dass ich je so alt werde.»

Tatsächlich war seine Gesundheit auch schon früher fragil. Remo Largo ahnte, dass der Tod näher kam, doch er machte nicht den Eindruck, als hätte er Angst davor gehabt. Mir scheint, er sah ihm recht gelassen entgegen und doch mit sehr klaren Vorstellungen, vielleicht auch mit dem guten Gefühl, dass er alles gesagt und geschrieben hatte, was ihm wirklich wichtig war.

Wer, der selber Kinder hat, hat kein Buch von ihm im Gestell? Mit den «Babyjahren» wurde Remo Largo, selber Vater dreier Töchter, weit über die Schweiz hinaus berühmt. Sein früher Klassiker aus dem Jahr 1993 liegt fast schon automatisch als Geschenk neben jedem Wickeltisch. Bis nach China hat man ihn gelesen oder zumindest darin gestöbert, wenn das eigene Kind partout noch nicht reden oder laufen wollte.

Beruhigende Nachricht für Eltern

Der Grund für den einzigartigen Erfolg der «Babyjahre» ist offensichtlich: Die Botschaft ist beruhigend für die Eltern. Mein Kind ist auch dann normal, wenn es später läuft. Oder länger schreit. Oder sonst wie etwas anders ist als das Nachbarskind. Denn die Spannweite der kindlichen Entwicklung ist enorm.

Largo musste es wissen. Ursprünglich wollte er Lehrer werden, später Kinderchirurg, doch das musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Arzt wurde er trotzdem. Der in Winterthur aufgewachsene Largo spezialisierte sich auf Entwicklungspädiatrie und leitete ab 1978 die Abteilung Wachstum und Entwicklung an der Universitäts-Kinderklinik in Zürich. In den Longitudinalstudien, die er dort verantwortete, erforschte er mit seinem Team über Jahrzehnte hinweg nicht weniger als 800 Lebensläufe von Kindern bis ins Erwachsenenalter. Die Erkenntnisse daraus wurden zu einem unendlichen Fundus, aus dem er fortan schöpfen konnte.

Remo Largo war ein Forscher, ein Empiriker, getrieben von unermüdlicher Neugier auf das menschliche Leben. Er wollte herleiten, gründlich sein, belegen, nicht bloss behaupten.

Remo Largo war ein Forscher, ein Empiriker, getrieben von unermüdlicher Neugier auf das menschliche Leben. Er wollte herleiten, gründlich sein, belegen, nicht bloss behaupten. Nichts ärgerte ihn mehr als billige Ratgeber ohne fundierte Kenntnis. Obwohl er in den letzten 25 Jahren geduldig Hunderte von Interviews gab, war er im Grunde allergisch auf die mediale Schnelllebigkeit. Umso wichtiger waren ihm die Bücher. Es folgten hintereinander: «Kinderjahre», «Schülerjahre», «Jugendjahre», «Glückliche Scheidungskinder».

Besonders am Herzen lag ihm dabei die Schule.

Erziehung geht nicht ohne Beziehung

Nach seiner Pensionierung beschäftigte sich Remo Largo zunehmend mit der Umwelt des Kindes, namentlich mit der Schule. Denn jahrzehntelang hatten sich die Schuldiskussionen um alles Mögliche gedreht, aber selten wirklich um die Hauptsache, nämlich um das Kind. Largo hingegen verstand etwas von Kindern, und er verstand sich auch als ihr Anwalt, kategorisch. Nicht alle Pädagogen schätzten, dass sich ein Professor für Kinderheilkunde so dezidiert in ihre Belange einmischte. Doch inzwischen gelten viele seiner frühen Einsichten als selbstverständlich; dass Erziehung nicht ohne Beziehung geht; dass Lernen nur funktionieren kann, wenn sich Schüler akzeptiert und geborgen fühlen; dass «Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht», wie ein Lieblings-Bonmot des Entwicklungsspezialisten Largo lautet. Er war es auch, der immer wieder auf die riesigen Unterschiede innerhalb einer einzigen Klasse und auf die Bedeutung eines individualisierten Unterrichts hinwies.

Es gibt kaum einen grösseren Saal im Land, den er in den vergangenen zwanzig Jahren nicht gefüllt hat. Largo engagierte sich bis zur Erschöpfung, auch bei den zahllosen Anrufen von verzweifelten Eltern, die ihn telefonisch um Hilfe baten, obwohl er sich nie als Ratgeber verstand.

Der Run auf die Gymnasien war ihm ein Greuel, er hatte genügend abschreckende Beispiele erlebt.

Im persönlichen Umgang sehr bescheiden und zugänglich, konnte er in der Sache sehr dezidiert auftreten, zum Beispiel gegen Schulen oder Behörden, die fanden, er stelle zu hohe Ansprüche; und nicht zuletzt gegen Eltern, die aus übertriebenem Ehrgeiz oder Angst vor dem Abstieg ihre eigenen Kinder einem Frühförderwahn aussetzten. Wenn er schon einen Rat geben musste, dann den, die Kinder doch lieber zusammen in den Wald oder auf den Spielplatz zu schicken als alleine ins Frühchinesisch. Der Run auf die Gymnasien war ihm ein Greuel, er hatte genügend abschreckende Beispiele erlebt.

Das Recht des Kindes – und letztlich aller Menschen – auf das eigene Leben

Doch was waren denn seine Ansprüche? Im Grunde war es nur einer, und der ist tatsächlich hoch: das Recht des Kindes – und letztlich aller Menschen – auf das eigene Leben. «Der Mensch kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes.» Der Satz steht in jenem Buch, das für Largo wohl das wichtigste war in seinem grossen Werk: «Das passende Leben». Darin breitet er noch einmal minuziös aus, «was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können», so der Untertitel des Buches. Den Schlüssel dazu nennt Largo «das Fit-Prinzip», also den Gedanken, «dass jeder Mensch danach strebt, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben». Es bleibt die Quintessenz eines Forscherlebens, in dem er das ursprüngliche Feld der Entwicklungspädiatrie schon lange verlassen und mit neuen Erkenntnissen von der Evolutionsbiologie bis zur Philosophie angereichert hatte.

Das “Knabenproblem”

Einer der ersten, der auf das Knabenproblem aufmerksam machte.
Bild adobestock

Mit Kindern schien er die Geduld nie zu verlieren, mit den Erwachsenen hingegen schon eher, und mit Politikern wurde sie definitiv strapaziert. Schon vor Jahren forderte er vehement eine Frauenpartei. Zugleich aber war Largo einer der Ersten, die auf die zunehmenden Schwierigkeiten der Buben in der Schule hinwiesen – nicht zur Freude aller Lehrerinnen. Für sein letztes Buch, «Zusammen leben», erschienen in diesem Frühling, musste er sich noch einmal alle Kräfte abringen, die ihm geblieben waren. Man spürt darin, wie er immer wieder hadert, nicht mit seinem eigenen Leben, obschon er auch das nie leicht genommen hat. Er hadert mit dem Grossen und Ganzen, er sieht zu wenig Veränderung, zu viel egoistisches Beharren auf alten Privilegien. Sein Aufruf zur weltweiten Solidarität liest sich wie ein letzter verzweifelter Appell. Ein Glück, dass es noch Kinder und Enkel gibt.

Am Mittwoch ist Remo Largo zu Hause in Üetliburg kurz vor seinem 77. Geburtstag gestorben.

https://www.nzz.ch/schweiz/der-beruehmte-schweizer-kinderarzt-und-autor-remo-largo-ist-tot-ld.1586803

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Zum Tode von Remo Largo: Gelobt und konsequent ignoriert. https://condorcet.ch/2020/11/zum-tode-von-remo-largo-gelobt-und-konsequent-ignoriert/ https://condorcet.ch/2020/11/zum-tode-von-remo-largo-gelobt-und-konsequent-ignoriert/#respond Fri, 13 Nov 2020 10:22:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=6930

Condorcet-Autor Georg Geiger gedenkt dem bekannten Kinderarzt Remo Largo, der uns dieser Tage verlassen hat. Und er mahnt uns daran, dass viele, die ihn heute loben, ihn in der Praxis konsequent ignoriert haben.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor

„Die Individualität ist ein Ausdruck dieser grossen Vielfalt unter den Kindern. Die Vielfalt nimmt im Verlauf der Kindheit immer mehr zu. Wenn eine Lehrerin eine Klasse mit 20 7-jährigen Kindern vor sich hat, dann unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre. Es gibt Kinder, die mit 7 Jahren ein Entwicklungsalter von 8 bis 9 Jahren haben und bereits lesen können. Andere mit einem Entwicklungsaltervon 5 bis 6 Jahren sind noch weit davon entfernt. Bis zur Oberstufe nehmen die Unterschiede
zwischen den Kindern noch einmal deutlich zu. Mit 13 Jahren variiert das Entwicklungsalter um mindestens 6 Jahre zwischen den am weitesten entwickelten Kindern und jenen, die sich am langsamsten entwickeln. Hinzu kommt, dass die Jungen als Gruppe im Mittel um
eineinhalb Jahre in ihrer Entwicklung hinter den Mädchen zurückliegen. Der Umgang mit dieser sogenannten interindividuellen Variabilität ist für Eltern und Lehrkräfte sehr anspruchsvoll.“ (aus: Remo H. Largo und Martin Beglinger: Schülerjahre – Wie Kinder besser lernen. München 2009)

Gelobt, aber konsequent ignoriert

Nun wird der eben verstorbene Kinderarzt und Buchautor Remo Largo von allen Seiten gelobt.
Aber das konkrete Zitat aus seinem Buch „Schülerjahre“ macht deutlich, dass die Bildungsbürokratie,
Teile der Bildungsforschung und die Mehrheit der Bildungspolitiker*innen die Ergebnisse der drei Longitudinalstudien von Largo bis heute konsequent ignoriert haben, denn im Lehrplan 21 hat man aus der Bandbreite von 3 Jahren doch tatsächlich eine Bandbreite von 3 Monaten gemacht! Largos Erkenntnisse sind fundamental und bahnbrechend, doch leider werden sie in unserem Land bei der Ausgestaltung unserer Schulen in keiner Weise weder beachtet noch umgesetzt.

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