Pensionierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 31 Dec 2023 16:52:48 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Pensionierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die Sache mit dem Altern oder der Junge von Odessa https://condorcet.ch/2023/12/die-sache-mit-dem-altern-oder-der-junge-von-odessa/ https://condorcet.ch/2023/12/die-sache-mit-dem-altern-oder-der-junge-von-odessa/#respond Sat, 30 Dec 2023 17:40:47 +0000 https://condorcet.ch/?p=15595

Zum Jahresabschluss veröffentlichen wir einen sehr persönlichen Beitrag unseres Blog-Gründers und Condorcet-Autoren, Alain Pichard. Er wurde vor fünf Monaten pensioniert nach einer dreijährigen Zusatzschlaufe. Der Abgang, so viel sei verraten, fiel ihm nicht leicht. Aber sein Erlebnis in Odessa ist eine wunderbare Metapher zum Jahresende.

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Ich hätte schon 2020 in Pension gehen können. Da ich damals als Klassenlehrer eine 8. Klasse führte und wir bereits die Vorboten des grassierenden Lehrermangels spürten, war es für mich keine Frage, dass ich noch ein Jahr drauflegte und die Klasse zu Ende führte. Zumal die Rahmenbedingungen stimmten: tolle Klasse, gute Eltern, ein lustiges und initiatives Kollegium und eine blendende Schulleitung. Im Sommer 2021 war es dann so weit. Ich wurde mit einem rauschenden Fest verabschiedet, erhielt viele Wertschätzungen und schritt zuversichtlich in die «langen Ferien».

Alain Pichard, pens. Lehrer, GLP, Grossrat im Kanton Bern

In der letzten Woche der Sommerferien kam ich noch einmal in mein ehemaliges Kollegium zurück. Ich benötigte noch ein paar Materialien, die ich vergessen hatte. Ich brachte meinen ehemaligen Kollegen Gipfeli. Diese waren alle am arbeiten, lachten und freuten sich über mein Kommen. Wir tranken einen Kaffee, dann riefen ihre Aufträge wieder. Sie schienen fröhlich, sprachen über die kommende Projektwoche, erzählten von den Ferien. Ich holte die benötigten Sachen und verliess das Gebäude, in dem ich 11 Jahre gewirkt hatte, durch den Hinterausgang. Auf dem Weg zum Hinterausgang, die Treppe hinunter, wurden meine Beine etwas schwerer. Es war nicht die Tatsache, dass mir just dieser Ort nun sehr viel bedeutete oder ich besonders glücklich gewesen wäre in diesen Gemäuern. Ich liebte meinen Beruf, hatte aber durchaus ein Leben neben der Schule. Es war wohl die Tatsache, diesen Ort zu verlassen, einen Teil seines Lebens hinter sich zu lassen, zu erkennen, dass er sich in nichts auflöst. Die Türe schloss sich und ich hatte keinen Badge, um wieder hineinzukommen. In diesem Moment ergriff mich ein Gefühl der Mattigkeit und der Trauer. Ich spürte das Alter.

Philipp Roth, 1933 – 2018, amerikanischer Autor: Das Alter ist ein Massaker.

Das Gefühl ging nicht weg. „Das Alter ist kein Kampf“, resümiert der namenlose Protagonist in einem Roman von Philipp Roth, „das Alter ist ein Massaker.“ Der US-amerikanische Autor, der vor vier Jahren starb, lieferte mit „Jedermann“ eine universale Geschichte über die Angst vor der Sterblichkeit, vor Verlust, Reue und der erdrückenden Einsamkeit am Lebensabend. (Focus-Buchbesprechung) Sein Held ist ein einst erfolgreicher Werbe-Designer, pensioniert, dreifach geschieden und Vater zweier Söhne, die ihn abgrundtief verachten.

Als ich vor kurzem dieses Buch wieder einmal las, gewahrte ich, wie sehr auch ich von Zeit zu Zeit von solchen Gefühlen erfasst werde. Man lässt das eigene Leben Revue passieren und wird mit Beziehungskonflikten, Fehlschlägen oder falschen Entscheidungen konfrontiert. Am Schreiben, am Malen, an den Grosskindern, kurz an all dem, was man zum Inhalt seiner vielen freien Stunden machen wollte, findet man plötzlich wenig Erfüllung.

Die Rente erscheint überraschenderweise nicht mehr als Beginn eines jahrzehntelangen fröhlichen Urlaubs. Das Leben wird enger, man wird einsamer und muss sich aufs Vergessenwerden einstellen.

Es kommen ungeahnte Gefühle auf: Hadern mit dem Verlust der Jugend, jede Menge von Bitterstoffen, der Kampf gegen die nachlassende Bedeutung beginnt. Die Rente erscheint überraschenderweise nicht mehr als Beginn eines jahrzehntelangen fröhlichen Urlaubs. Das Leben wird enger, man wird einsamer und muss sich aufs Vergessenwerden einstellen. Irgendwie will man sich dagegen auflehnen, versucht die Leere mit Tätigkeit zu überbrücken. In meinem Fall als Kolumnist, als Politiker oder als Wiedereinsteiger in den Lehrberuf. Ich muss aber erkennen, dass dies einem Aufschieben der Grundfragen gleichkommt. Wie lange will ich mit meinen vorwiegend älteren Mitstreitern diesen Blog noch betreiben? Wie lange akzeptieren meine Schüler “den alten Knacker” da vorne, der ihnen die binomischen Regeln beibringen will? Wie lange sind meine Texte in der Bildungsszene noch gefragt? Wie lange kann ich als Parlamentarier und Rentner den Jungen glaubwürdig erklären, wie Schule auch noch funktionieren kann? Und vor allem, woher kommt dieses merkwürdige Sendungsbewusstsein? Dieses Suchen nach Aufmerksamkeit, das uns Politikern innewohnt.

«Theater machen ist auf Sand gebaut».

Ralph Fehlmann, Redaktionsmitglied des Condorcet-Blogs, Gymnasiallehrer, Autor, Mitbegründer von FACH: schied anfangs dieses Jahres aus dem Leben.

Ich habe in Gesprächen festgestellt, dass ich bei weitem nicht der einzige bin, den diese Fragen umtreiben. Die Depression meines Weggefährten Ralph Fehlmann, sein freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben Anfang dieses Jahres haben mich tief betroffen und mir zusätzlich einen abrupten Denkbefehl auferlegt.

Vor einiger Zeit bat ich einen guten Freund und Theatermacher, mir bei der Neuauflage des von mir gegründeten Migrantentheaters (Theaterzone Biel) zu helfen. Er sagte mir ab. Am Schluss unseres Gesprächs fragte er mich, warum ich dieses Theaterprojekt machen wolle. Ich antwortete ihm, dass ich das Gefühl habe, es zu brauchen. Daraufhin gab er mir einen bedenkenswerten Satz mit auf dem Weg: «Theater machen ist auf Sand gebaut».

Dieser Satz liess mich an eine Begebenheit aus dem Jahre 1973 denken. Ich besuchte damals in den Sommerferien einen vierwöchigen Sprachkurs in Moskau. Übers Wochenende flog ich mit Freunden nach Odessa, einer in der damaligen spröden Sowjetunion ziemlich mediterranen und lebensfrohen Stadt am Schwarzen Meer.

Als wir längs des Strandes flanierten, gewann ein Junge am Meer meine Aufmerksamkeit. Völlig vertieft tröpfelte er den nassen Sand im Spiel der Wellen zu einem filigranen Turm, der mich an eine Giacometti-Säule erinnerte. Ich liess meine Freunde ziehen, setzte mich auf den Quai und beobachtete diesen ukrainischen Knaben bei seiner Tätigkeit. Völlig vertieft und ohne von seinem Bauen abzulassen, liess er dieses Sandstrebewerk in die Höhe wachsen. Später, als ich selbst Vater war und mit meinen Kindern Sandburgen baute, versuchte ich mich immer wieder darin, diesen Knaben zu imitieren. Nie erreichte ich diese Vollendung. Was mich aber am meisten beeindruckte, war diese Hingabe, die völlige Konzentriertheit auf das Werk. Als ich ihm zusah, wünschte ich mir, dass dieser Moment nie vorbeigehen würde. Die Türme wuchsen – schlank und elegant – beinahe auf seine Körpergrösse.

Strand von Odessa heute

Plötzlich – ich weiss nicht, nach welcher Zeit – rannte er weg und liess seine mittlerweile acht Türme stehen. Er verschwand in der Menge der Strandgänger, ohne sich nach seinem Werk umzusehen. Es schien vollbracht. Er zeigte sein Schaffen niemandem, er ging einfach. Ich blieb sitzen und betrachtete die mit der Flut näherkommenden Wellen. Es dauerte nicht lange, da war dieses in Sand geschriebene Kunstwerk Geschichte.

Nicht alle Erinnerungen sind schmerzhaft, aber im Alter muss man alle Bilder zulassen, auch dann, wenn sie eine Quelle brennender Trauer sind.

Der heitere Bursche war vielleicht acht Jahre jünger als sein heimlicher Beobachter. Was mag mit ihm passiert sein? Lebt er in dieser heute umkämpften und schwer verwundeten, aber immer noch ukrainischen Stadt, lebt er überhaupt noch? Nicht alle Erinnerungen sind schmerzhaft, aber im Alter muss man alle Bilder zulassen, auch dann, wenn sie eine Quelle brennender Trauer sind. Durch diesen Schmerz sagt man Ja zu seinem Leben, ist ihm nah, versöhnt sich auch mit dem Tatbestand, dass etwas vorbei ist. Und man muss lernen, sich an dem zu erfreuen, was man hat und kann. Und man muss versuchen, Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Sich nicht mehr allzu wichtig nehmen, sich kritisch hinterfragen, was in all der Lebenshektik wirklich Sinn macht. Aus einem zusätzlichen Jahr wurden schliesslich drei Jahre. Die letzten beiden Jahre führte ich eine Klasse aus einer Brennpunktschule in Biel in die Berufswelt und wurde vor fünf Monaten ein zweites Mal pensioniert. Diese dreijährige Zusatzschlaufe ermöglichte mir mein gesunder Körper, mein funktionierendes Gehirn, meine Schaffenskraft und meine Liebe zum Beruf. Dafür sollte man dankbar sein.

Der ukrainische Knabe hingegen hat mir eine Blüte hinterlassen, deren Duft mich heute noch zu erfassen mag. Der Sinn des Lebens besteht – auch im Alter – im Leben selbst. Philipp Roth hat übrigens seine wunderbarsten Bücher im hohen Alter geschrieben.

 

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Hommage an die Jugend https://condorcet.ch/2022/04/hommage-an-die-jugend/ https://condorcet.ch/2022/04/hommage-an-die-jugend/#comments Sat, 02 Apr 2022 15:03:31 +0000 https://condorcet.ch/?p=10748

Der pensionierte Gymnasiallehrer und Condorcet-Autor Georg Geiger hat bei den Aufräumarbeiten einen Text eines ehemaligen Schülers gefunden, den er unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten will. Ein "document humain", wie die Redaktion findet.

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Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel, Condorcet-Autor: Welch eine poetische Kraft und welche Lebensweisheit steckt doch in diesem Aufsatz!

Seit knapp einem Jahr bin ich pensioniert. Langsam mache ich mich daran, alle meine Plasticmäppchen meiner über 30-jährigen Unterrichtstätigkeit an Volksschule, Gymnasium und Universität zu entsorgen. Übrig bleiben Erinnerungen und eine Wehmut, nicht mehr täglich im Kontakt zu sein mit dem Power der Jugend, der mir so viel gegeben hat. Stellvertretend für alle diese jungen Leute, die ich die Ehre hatte, in Deutsch und Geschichte zu unterrichten, soll ein Text stehen, den ich zum Glück zur Seite gelegt habe: Welch eine poetische Kraft und welche Lebensweisheit steckt doch in diesem Aufsatz! Und ich will nichts weiter dazu sagen. Nicht, wer ihn geschrieben hat. Nicht, in welchen Lebensumständen er entstanden ist. Nicht, was ich für einen Kommentar dazu verfasst habe und schon gar nicht, welche Note ich dem Text gab. Einfach eine Hommage an die Jugend!

 

Wenn am Morgen die Sonnenstrahlen

der stark leuchtenden Sonne

in mein verträumtes Zimmer eintreffen,

so will ich der heutigen Welt

ein Stück Freude von mir geben.

Doch wenn es der heutigen Welt scheint,

dass mein Ich meint bedeutsamer zu sein,

dann trete ich zurück

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn am Mittag mir der Appetit

nach frisch Gekochtem grösser wird,

so will ich ihn teilen, meinen Appetit.

Der jetzigen Welt nahebringen,

wie gerne ich während dem Essen

«Ballaire-City-Jazz»

hören und dabei die Füsse tanzen lassen würde.

Doch wenn meine Worte in der jetzigen Welt

keine Aufmerksamkeit erhalten,

dann will ich die Musik sprechen lassen,

aber sie ist nicht laut genug

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn am Nachmittag das Clafoutis au Chocolat

von mir aufgegessen werden will,

ich den schönen Tag mir verschönern will,

so möcht ich teilen, mein Dessert.

Doch seh ich einen Jungen,

der stiehlt ein Gebäck,

läuft davon und wartet nicht auf mein

«nimm doch mein bezahltes Gebäck»

und die Angestellte nichts davon bemerkt,

dann will ich ihr von der untreuen Tat berichten,

doch Empfindsamkeit versetzt mich in die Sicht des Jungen,

wohl hatte er Hunger und kein Geld bekommen.

In Leere alleingelassen schaue ich dem Jungen nach

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn nach der Arbeit

die tägliche Feier am Abend erscheint,

so möchte ich geniessen meinen Abendwein.

Doch wenn an der Ampel eine ältere Dame

beim Angebot meiner Hilfe, ihre Tasche zu tragen,

meinen müsse, ich sei ein Dieb, der ihr die Tasche nimmt,

dann will ich mit meinem Mundwerk erklären, wer ich bin,

aber rechtfertigen muss ich mich nicht.

Und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

Nicht die Tasche, sondern das Reden über mich.

 

Wenn am Abend die Sonne stirbt

und das Dunkellicht vordringt,

so meine Seele die Ruhe sucht,

dann dem Sternenhimmel die Blicke zuwerfen will.

Doch seh ich auf der Sternenwiese den ganzen

Kummer, Schmerz und die ganze Last,

verdrängt in benutzten Nadeln und kleinen, leeren Tüten,

dann möcht ich nicht schweigen über aller Probleme.

Doch wenns niemanden gibt, der was unternehmen will

und keinen, der hinschaut,

dann vergeht das Licht in meinem Herzen

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn in der Nacht mein müd’ gewordnes Herz

Sich wieder in seine Hütte verkriecht,

so fragt es den Sternenhimmel im stillen Augenblick,

ob es das Gute noch gibt.

Doch fällt mein Körper kraftlos,

nicht wie am Morgen voller Energie, wieder in sein Schlafnest,

dann wird mir, wie in jener Nacht, wieder bewusst,

dass es kein Gut, kein Böse gibt.

Es lebt in Schwach und Stark,

doch zu welchem gehört das «Es» ?

Meine Nachtgedanken will ich aussprechen,

in diesem stillen Augenblick,

doch weil jeder für sich lebt,

lass ich mich und meine Gedanken still

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

Wenn ich vom Drang der Entleerung

aus meiner Welt der Träume erwach,

mit noch geschlossenen Augen mich ins Bad fortbeweg

und mit dem Lichtschalter die Dunkelkeit erhell’,

mit den Unterhosen bis zu den Knien runtergezogen

auf dem Klo sitz’,

in meinen Händen Zeitung von gestern halt’,

dann die Meldung seh’,

welche berichtet den Raub der Tasche einer älteren Dame,

den erwischten Täter, der kein Daheim hatte,

den Tod der Obdachlosen wegen Überdosierung,

so will ich reden,

doch erstarren meine müden Augen, mein müder Mund

und in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich»

 

Wenn meine Seele in der Nacht

zurück ins Schlafnest kehren will,

mein Haustelefon am Klingeln ist,

darauf eine unbekannte Nummer steht,

dann nimm ich den Hörer ab,

wobei mir eine Stimme sagt

«Hättest du was gemacht»

Und ich antworten will,

dass reden einfach, jedoch sich selbst teilen schwer ist.

Aber in mir sagts

«Das behalte ich besser für mich.»

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