Lärm - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 23 Nov 2019 18:00:07 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Lärm - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ruhe Bitte! https://condorcet.ch/2019/11/ruhe-bitte/ https://condorcet.ch/2019/11/ruhe-bitte/#respond Sat, 23 Nov 2019 10:41:46 +0000 https://condorcet.ch/?p=3024

Condorcet-Autor und BAZ-Kolumnist Roland Stark zeigt uns den alltäglichen Irrsinn und die Verlagerung der pädagogischen Schwerpunkte anhand des Pamirs und der Lernampel auf.

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Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge

Noch vor wenigen Tagen hielt ich Pamir für ein Hochgebirge in Zentralasien. Das „Dach der Welt“. Angrenzend an ferne Länder wie Kirgisistan, China, Afghanistan und Tadschikistan.

„Der Lärm macht dich sonst fertig“, liess der Parlamentarier und einer der Favoriten für das SP-Parteipräsidium, seine Twitter-Gemeinde wissen.

Dann las ich im Klatsch einer Wochenend-Gazette, dass sich der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth auf die kommende Legislatur Kopfhörer der neuesten Generation zulegen wolle. „Der Lärm macht dich sonst fertig“, liess der Parlamentarier und einer der Favoriten für das SP-Parteipräsidium, seine Twitter-Gemeinde wissen.

Diese Ankündigung kommt nun allerdings nicht überraschend. Eine Studie des Parlamentsdienstes im Bundeshaus kommt zum Schluss, dass die Konzentration bei solch lauten Geräuschen – im Schnitt rund 70 Dezibel (dB) – nicht über längere Zeit aufrechterhalten werden könne. Das Arbeitsgesetz legt für „überwiegend geistige Tätigkeiten“ einen Grenzwert von 50 dB , für „allgemeine Bürotätigkeiten“ einen von 65 dB fest. Geräusche ab 85 dB gelten bei lang anhaltender oder häufig wiederholter Einwirkung als schädlich.

Der Pamir: Gehörschutzgerät der Schweizer Armee

Unterdessen habe ich mich über die marktüblichen Schutzmassnahmen gegen die Lärmplage kundig gemacht. Als dienstuntauglich gestempelter Zivilist bin ich über die persönliche Ausrüstung eines Soldaten in der Schweizer Armee nur unzureichend informiert. Neben den Waffen gehören dazu offenbar noch weitere Hilfsmittel wie das Armeemesser und eine Feldflasche. Darüber hinaus zählt auch der Pamir zur Ausstattung eines jeden Soldaten. Dabei handelt es sich um einen kleinen Gehörschutz, den die Soldaten in Situationen mit hoher Lärmbelastung verwenden können. Je nach Kaliber erzeugt der Schuss einer Pistole oder eines Gewehres zwischen 130 und 150 Dezibel. Auch der Start eines Düsenflugzeuges verursacht Lärm in dieser Grössenordnung.

Konzentriertes Lernen nicht mehr möglich

Vergleichbare Probleme mit Krach treten in zunehmend alarmierendem Ausmass auch an unseren Schulen auf. „In Schulklassen ist es oft so laut, dass konzentriertes Lernen und Lehren nicht mehr möglich ist. Nicht nur Lehrer, sondern auch die Schülerinnen und Schüler haben dann Mühe, sich auf den Unterricht zu konzentrieren und sie sind schneller abgelenkt und gestresst“, lesen wir in einem Merkblatt des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes Basel-Stadt.

Das Gesundheitsdepartement leiht deshalb kostenlos sogenannte Lernampeln aus. An dem Gerät kann die Lärmstufe eingestellt werden. Sie springt auf gelb oder rot, wenn die Klasse zu laut ist.

An der Ampel sind die Lärmstufen 1-7 voreingestellt, so dass für jede Lernsituation die angemessene Lautstärkeeinstellung gewählt werden kann. 50-60 dB für Stillarbeit (Stufe 1) oder 70-80 dB für normale Geräusche (Stufe 4). Die Lärmampel informiert über den Geräuschpegel und macht Lärm sichtbar. Zwar könne die Lautstärke im Raum dadurch kaum gesenkt werden, immerhin aber würde die Sensibilität für das Thema erhöht.

Pamir als Allzweckmittel

Angesichts dieser unerfreulichen Entwicklung wundert es eigentlich niemanden, dass das Allzweckmittel Pamir auch in den Schulzimmern Einzug gehalten hat. „Auch in Basel werden Primar- und Sekundarschüler mit einem Gehörschutz ausgerüstet. Der Konzentrationsverstärker wird vor allem in der Stillarbeitsphase eingesetzt“, teilt uns Jean-Michel Héritier, der Präsident der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt mit.

 

Ein Fünftel mehr Kinder-Ohrenschützer hat der Internethändler „Gehoerschutz-shop.ch in den ersten neun Monaten 2019 verglichen mit dem Vorjahr verkauft. Die Bestellungen kommen zum grössten Teil von Schulen. („Sonntagszeitung“, 20.10.2019)

Die Probleme, da gibt es nichts zu beschönigen, sind im Wesentlichen hausgemacht. Die wohlklingenden Versprechungen der Schulreformer sind nicht erfüllt worden, vielfach haben sie in einem bildungspolitischen Desaster geendet. Das Konzept „Gemeinsam lernen“ (um jeden Preis), unabhängig von Behinderungen, Lernproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten bringt in der Praxis das Schulsystem an seine Grenzen. „Die Wahrheit liegt auf dem Platz“, würde der Fussballlehrer Otto Rehhagel wohl dazu bemerken.

Für Lernampeln und Ohrenschützer ist Geld da. Für Schulbücher nicht.

„Die Debatte um die schulische Inklusion hat religiöse Züge angenommen“, schreibt Ewald Kiel, Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München. „Skepsis und Erkenntnisse, die den Erfolg in Zweifel ziehen können, werden ignoriert oder nur am Rande behandelt. Das schadet am Ende der Sache selbst.“ Abweichler von der reinen Lehre seien einfach noch nicht so weit, heisst es verächtlich, oder sie müssten noch Trauerarbeit über den Verlust der ihnen bekannten (nicht-inklusiven) Welt leisten. Ein Vorwurf, der auch Basler Heilpädagogen bekannt vorkommen dürfte.

Für die unliebsamen Folgen ist dann nicht mehr das Erziehungs-, sondern das Gesundheitsdepartement zuständig.

Für Lernampeln und Ohrenschützer ist Geld da. Für Schulbücher nicht.

„Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ (Hamlet)

 

 

 

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Für Sie gelesen: „Deutschland verdummt“ https://condorcet.ch/2019/11/fuer-sie-gelesen-deutschland-verdummt/ https://condorcet.ch/2019/11/fuer-sie-gelesen-deutschland-verdummt/#comments Mon, 18 Nov 2019 11:10:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=2889

Alarmiert durch besorgniserregende Schulreformen rechnet der Psychiater Michael Winterhoff schonungslos mit dem deutschen Schulsystem ab. Wie bei vielen Entwicklungen um einige Jahre verspätet, greifen diese, gefördert durch den Lehrplan 21, auch in der Schweiz um sich. Trotz Winterhoffs apokalyptischer Neigung möge sein Buch Lehrkräfte darin bestärken, einen pädagogisch verantwortungsvollen Kurs zu halten oder einen solchen in Erinnerung zu rufen - gerade angesichts der bildungspolitischen Reformhysterie. Vor allem aber sollten es Bildungspolitiker lesen, die sich dazu berufen fühlen, auf einem ihnen fremden Terrain Entscheidungen zu treffen, meint der Sekundarlehrer Felix Hoffmann, der das Buch gelesen hat.

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Felix Hoffmann, Sekundarlehrer, BL, Mitglied LVB, Starke Schule beider Basel

Im Kindergarten und der Grundschule sollen Kinder seit neuestem möglichst frei sein von Erwartungen und Anweisungen der Erwachsenen. Je nach Lust und Laune sollen sie aus einem limitierten Stoffangebot selber entscheiden dürfen, womit sie sich wann, wie und wo beschäftigen wollen. In diesem sogenannten „offenen Unterricht“ sollen sich die Lernenden autonom selbst organisieren. Die von Hattie als erfolgreich bewertete direkte Instruktion und Lehrkräfte als Wissensvermittler haben hier nichts mehr verloren.

Lärmpegel von Kreissägen

Winterhoff bezeichnet dieses System als „Stätten des organisierten Verwahrens“ und macht es verantwortlich für die sprunghaft gestiegene Zahl an psychisch auffälligen Kindern sowie völlig unzureichende Leistungen in Schule und Berufsausbildung. Hierfür nennt er unterschiedliche Gründe. Einer vorneweg: In solchen Lernsettings entstehen Geräuschpegel von bis zu 85 Dezibel. Schreiende Kinder erreichen bis zu 110 dB(A) und übertreffen damit Kreissägen und Presslufthämmer. Wollen sich Lehrkräfte Gehör verschaffen, müssen sie den Geräuschpegel mit ihrer Stimme um 10 bis 15 dB(A) übertreffen. Weit verbreitete Stimmbandprobleme unter Lehrpersonen sind die Folge.

Die Methode “Reichen” als mahnendes Beispiel

Ein weiterer Grund für abnehmende schulische Leistungen erkennt Winterhoff in den von oben nach unten verordneten Unterrichtsformen, die den Erfahrungen der Lehrkräfte widersprechen und sich somit als nicht zielführend herausstellen. Als Beispiel verweist er u.a. auf die Methode „Schreiben nach Gehör“ des Schweizers Jürgen Reichen, die während zwanzig Jahren Heerscharen von Schülern mit katastrophalen Orthographiedefiziten zurückliess. Deshalb wurde sie in etlichen deutschen Bundesländern und u.a. im Kanton Nidwalden verboten.1 Nebenbei bemerkt, wird Reichens zweite Methode, „Lesen durch Schreiben“, die ebenfalls auf der völligen Vernachlässigung von Regeln basiert, auf das Schuljahr 2020/21 im Aargau untersagt.2

Regeln? Wir brauchen keine Regeln!

Methode Reichen

In den Reichen-Methoden erkennt Winterhoff eine grundsätzlich negative „Einstellung der 68-Generation gegenüber gemeinschaftsstiftenden Übereinkünften…: „Regeln? Wir brauchen keine Regeln!“ Die Gleichstellung von Erwachsenen und Kindern nimmt in den 68ern ihren Anfang. In der Folge haben „Erwachsene Kindern nichts zu sagen.“ Sie entwickeln sich quasi spontan von selbst. Man muss sie nur in Ruhe lassen. Dem gleichen Irrtum unterliegt ferner auch die Mehrsprachigkeitsdidaktik3. „Als die 68-Generation bei ihrem Marsch durch die Institutionen an die entsprechenden Positionen aufrückte, war der Weg frei, diese Weltanschauung in der Bildungspolitik fest zu verankern und die bewährte Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden […] zu ersetzen.“

Ein einstiges Vorzeige-Bundesland wird in den Abgrund reformiert

Der heutigen Bildungspolitik macht Winterhoff den Vorwurf, dass sie zwar begeisterungsfähig, aber völlig unkritisch den Fantasien von Ideologen aufsitzt und diese mit desaströsen Folgen umsetzt, anstatt sich auf die reichlich vorhandene Empirie aus Praxis und Wissenschaft zu verlassen. So machte Gabriele Warminski-Leitheusser, 2011 – 2013 sozialdemokratische Kultusministerin von Baden-Württemberg, den umstrittenen Schweizer Schulgründer Peter Fratton zu ihrem offiziellen Berater. „Das vormalige Vorzeige-Bundesland verschlechterte sich in der darauffolgenden Zeit dramatisch im Ländervergleich.“ In einer Landtagsanhörung auf seine Experimente angesprochen, meinte Fratton: „Ich habe keine Ahnung, was dabei herauskommt. Aber schön falsch ist auch schön.“ Abgesehen von dieser offensichtlichen Leichtsinnigkeit, tun sich Ideologen schwer damit, Unrecht zuzugeben. Sie und ihre Anhänger in der Bildungspolitik biegen sich die Realitäten zurecht, „bis sie den eigenen Wünschen und Vorstellungen entsprechen.“ Darin erkennt Winterhoff „die Basis der Bildungspolitik seit mindestens zwei Jahrzehnten.“

Gabriele Warminski-Leitheusser, 2011 – 2013 sozialdemokratische Kultusministerin von Baden-Württemberg, die den umstrittenen Schweizer Schulgründer Peter Fratton zu ihrem offiziellen Berater ernannt hat – mit fatalen Folgen für das Bundesland Baden-Württemberg

Grundlegende Störung in der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern

Die Grundlage der bildungspolitischen Realitätsverweigerung macht Winterhoff in einer grundlegenden Störung in der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern aus. In der Psychoanalyse nennt sich diese Beziehungsstörung Projektion. Die Anhänger des offenen, selbstorganisierten Unterrichts glauben aufrichtig daran, Kinder zu befreien. Tatsächlich jedoch übertragen hier Erwachsene eigene Wünsche und Gefühle auf das Kind. Sie wollen den Minderjährigen das geben, was sie sich als Kind selber wünschten. Sie wollten keine Hausaufgaben. „Also weg damit!“ „Sie wären gerne während des Unterrichts ein wenig herumspaziert? Also werden Wände eingerissen“, Verweilecken, Lerntheken, Spiel- und Bewegungsräume eingerichtet.

Konsequent in den Lernstillstand

Damit übersehen die Anhänger des offenen, selbstorganisierten Unterrichts die Bedürfnisse der Kinder nach Betreuung und Orientierung. Nur in der Projektion kommt der Erwachsene auf die Idee, „dass seine Rolle darin besteht, alle Wünsche, die er dem Kind zuordnet, umgehend zu erfüllen.“

Bild: AdobeStock

Damit ordnet er sich dem Kind unter, wodurch dieses die Führung übernimmt. „Die eigentliche ‘Bildungsrevolution’ besteht somit im „unnatürlichen Beziehungsverhältnis, in das Kinder und Erwachsene […] gezwungen werden.“ „Denn wenn sich das Kind nicht an Erwachsenen orientieren darf, findet bei ihm definitiv keine Entwicklung seiner Psyche statt. Das […] ist seit vielen Jahrzehnten gesichertes Wissen.“ Was das autonome Lernen betrifft unterscheiden sich Kinder überdies nicht von Erwachsenen: Sie wählen sich zumeist, was sie bereits können, wodurch es auch zu einem Lernstillstand kommt.

„Offener Unterricht lässt Schüler und Lehrer allein. ‘Autonomes Lernen’ bei Kindern gibt es nicht.“ Ohne die Anleitung und Orientierung durch Erwachsene bleiben Kinder lustorientiert. Sie erreichen dadurch weder Beziehungs- noch Arbeitsfähigkeit – mit katastrophalen Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft.

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